Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.10.2021, Az.: 3 A 5014/21

Aufwendungsersatz; Eingliederunghilfe; Gesamtverantwortung; Kapazitätsmangel; Perspektivwechsel bei Geeignetheit; Steuerungsverantwortung; Systemversagen des Jugendhilfeträgers; Untätigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.10.2021
Aktenzeichen
3 A 5014/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 70755
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 9. August 2021 wird aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Kosten für die selbst beschaffte Legasthenietherapie in Höhe von 712,34 Euro an den Kläger zu erstatten.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Entscheidung ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Erstattung von Kosten für eine selbstbeschaffte Legasthenietherapie.

Der 2007 geborene Kläger leidet an einer Lese- und Rechtschreibstörung. Am 14. November 2019 beantragte seine Mutter für ihn mündlich und mit Antrag vom 22. November 2019, eingegangen bei der Beklagten am 22. Januar 2020, schriftlich die Gewährung von Eingliederungshilfe.

Unter dem 18. Juni 2020 diagnostizierte die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin der Beklagten beim Kläger eine Lese- und Rechtschreibstörung sowie in Folge dessen eine Abweichung von der seelischen Gesundheit. Die Beklagte stellte daraufhin fest, dass beim Kläger eine Teilhabebeeinträchtigung aufgrund der Lese- und Rechtschreibschwäche bestehe. Am 23. Juli 2020 sagte die Beklagte mündlich gegenüber der Mutter des Klägers die Kostenübernahme für eine Lerntherapie im Umfang von 60 Einheiten im Zeitraum von 36 Monaten zu und vereinbarte gleichzeitig, dass die Mutter des Klägers einen Platz in einer Lerntherapiepraxis suchen werde.

Im September 2020 teilte die Mutter des Klägers der Beklagten mit, dass sie erfolglos sämtliche Therapeuten in der näheren Umgebung ihres Wohnortes kontaktiert habe. Die Wartezeiten in den von ihr kontaktierten Praxen seien mit durchschnittlich 1,5 Jahren zu lang. Einzig bei der Therapeutin G. in H. sei ein Platz frei. Die Therapeutin habe keine Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarung mit der Beklagten abgeschlossen. Eine Therapie in I. sei dem Kläger aufgrund der Ganztagsbeschulung zeitlich nicht zumutbar. Die Mutter des Klägers beantragte außerdem, die Kosten für die Therapie bei Frau J. im Rahmen einer Einzelfallentscheidung zu übernehmen und ihr einen Bewilligungsbescheid über die zugesagten 60 Fachleistungsstunden zukommen zu lassen.

Die Beklagte bat die Therapeutin K. im Laufe des Jahres 2020 mehrfach, letztmalig am 2. Oktober 2020, um Vorlage der erforderlichen Unterlagen, um zu prüfen, ob sie als Behandlerin anerkannt werden könnte. Hierauf erfolgte seitens der Therapeutin keine Reaktion.

Seit dem 21. September 2020 nahm der Kläger die Legasthenietherapie bei der Therapeutin G. in Anspruch. Im Durchschnitt betragen die Kosten für die Therapie 60,00 Euro pro Stunde. Die Therapiekosten im Zeitraum vom 21. September 2020 bis 26. November 2020 übernahm die Krankenkasse aufgrund ärztlicher Verordnung. Vom 3. Dezember 2020 bis 25. März 2021 nahm der Kläger weitere 11 Therapiestunden bei Frau J. in Anspruch. Die Mutter des Klägers bat in der Folge bei der Beklagten wiederholt um Entscheidung über die Anerkennung von Frau J. als Behandlerin bzw. um einen schriftlichen Bewilligungsbescheid. Eine Bewilligung durch die Beklagte oder der Vorschlag alternativer Therapieplätze erfolgten nicht. Im April 2021 brach der Kläger die Therapie ab, da der Vater des Klägers nicht mehr bereit war, die Kosten für die Therapie weiter zu zahlen.

Im Juli 2021 forderte der Kläger erneut die Beklagte auf, über seinen Antrag auf Gewährung von Eingliederungshilfe sowohl für die Zukunft als auch für die Vergangenheit zu entscheiden und ihm einen rechtsmittelfähigen Bescheid, auch über die Übernahme der bereits für die Therapie angefallenen Kosten bis April 2021, zukommen zu lassen. Die Beklagte sagte eine Bescheidung bzgl. der Übernahme der bereits angefallenen Kosten zu. Ein Bescheid für die Bewilligung von Eingliederungshilfe für die Zukunft könne jedoch erst erfolgen, wenn ein Anbieter feststehe. In der Folge hörte die Beklagte den Kläger zur beabsichtigten Ablehnung der Kostenübernahme für die bereits erfolgte Lerntherapie an und führte zur Begründung aus, die Voraussetzungen für die Selbstbeschaffung einer Jugendhilfemaßnahme lägen nicht vor, da der jugendhilferechtliche Bedarf des Klägers durch die Therapie bei Frau J. bis zu einer Entscheidung des Jugendhilfeträgers nicht gedeckt werde. Da Frau J. nicht als Behandlerin anerkannt sei und eine erneute Überprüfung ihrer Qualifikation mangels Einreichung aktueller Unterlagen nicht habe stattfinden können, sei die Therapie bei Frau J. zur Deckung des Bedarfs nicht geeignet. Der Kläger nahm hierzu über seine Mutter Stellung und trug vor, er habe keine andere Möglichkeit als die Therapie bei Frau J., da andere Anbieter nicht verfügbar seien.

Mit Bescheid vom 9. August 2021 lehnte die Beklagte den Antrag auf Übernahme der bereits entstandenen Kosten für die Lerntherapie in der Praxis J. ab und bezog sich zur Begründung auf die bereits mit dem Anhörungsschreiben mitgeteilte Begründung. Mit weiterem Schreiben vom 10. August 2021 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass aus den im Bescheid vom 9. August 2021 angeführten Gründen auch in Zukunft keine Kosten für eine Therapie bei Frau J. übernommen würden. Eine Rechtsbehelfsbelehrung enthält dieses Schreiben nicht.

Am 22. August 2021 hat der Kläger Klage gegen den Bescheid vom 9. August 2021 erhoben. Mit der Klage begehrt er die Kostenerstattung für die bereits erfolgten Therapiestunden in Höhe von 712,34 Euro. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, es bestehe unzweifelhaft ein eingliederungshilferechtlicher Bedarf, der bereits vor über einem Jahr festgestellt worden sei. Er leide unter der Situation. Da es in näherer Umgebung seines Wohnortes keine freien Plätze bei von der Beklagten anerkannten Legasthenietherapeuten gebe und die Therapie bei Frau J. daher die einzige Möglichkeit zur Behandlung sei, seien die Kosten für die Legasthenietherapie bei der Therapeutin J. im Rahmen einer Einzelfallentscheidung unter Einbeziehung des Kindeswohls zu übernehmen. Die Therapeutin sei im Übrigen auch vom Landkreis L. als Behandlerin anerkannt.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 9. August 2021 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Therapiekosten für die bereits erfolgte Therapie in Höhe von 712,34 Euro zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt dem Antrag entgegen. Dass der Kläger einen eingliederungshilferechtlichen Bedarf in Form einer Legasthenietherapie habe, sei unstreitig. Allerdings sei die vom Kläger gewünschte Therapeutin nicht geeignet, da sie nach den bereits in den Jahren 2005, 2006, 2008, 2010 und 2015 durchgeführten Anerkennungsprüfungen nicht über die nach der „Leistungsbeschreibung für Behandlerinnen und Behandler“ erforderlichen Qualifikationen verfüge. So sei bereits ihr Grundberuf als ausgebildete Ergotherapeutin nicht ausreichend für eine Anerkennung. Außerdem verfüge sie nicht über die notwendigen Fort- und Weiterbildungen. Eine Anerkennung als Behandlerin sei auch deshalb nicht möglich, weil die Therapeutin mehrfach erfolglos zur Einreichung (aktueller) Unterlagen zur Überprüfung ihrer Qualifikation aufgefordert worden sei. Außerdem legt die Beklagte ein Urteil des Sozialgerichts I. vor, wonach sie aufgrund der Beschäftigung von Familienhelfern, Familienhebammen und Schulbegleitern als „freie Mitarbeiter“ Beitragsnachforderungen an die Rentenversicherung habe zahlen müssen, weil die Rentenversicherung für diese eine Tätigkeit in einem Beschäftigungsverhältnis festgestellt habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die die Berichterstatterin nach dem Übertragungsbeschluss der Kammer vom 3. September 2021 gem. § 6 Abs. 1 VwGO als Einzelrichterin und im Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

I. Die richtigerweise auf Verurteilung zur Erstattung von 712,34 Euro für selbstbeschaffte Hilfe in Form einer Legasthenietherapie im Umfang von 11 Stunden zu richtende Klage ist zulässig. Das nach § 88 VwGO auszulegende Klagebegehren des Klägers bezieht sich nur auf den Bescheid der Beklagten vom 9. August 2021, mit welchem die Beklagte eine Erstattung der bisher entstandenen Kosten abgelehnt hat. Das Schreiben der Beklagten vom 10. August 2021, mit welchem die Beklagte die Übernahme von Kosten einer Therapie bei Frau J. für die Zukunft abgelehnt hat, ist dagegen nicht Gegenstand dieses Verfahrens geworden. Zwar stellt das Schreiben vom 10. August 2021 ebenfalls einen anfechtbaren Verwaltungsakt dar. Das Schreiben ist zwar u. a. mangels Rechtsbehelfsbelehrung der äußeren Form nach nicht ohne weiteres als Verwaltungsakt erkennbar, enthält aber die eindeutige Ablehnung von Eingliederungshilfe für die Zukunft bei Erbringung durch Frau J. und spricht auch damit eine Regelung aus. Der Bescheid vom 10. August 2021 ist allerdings nicht Klagegegenstand dieses Verfahrens, da er vom Kläger bisher nicht selbständig angefochten und in das hiesige Verfahren einbezogen worden ist. In seinem Klageantrag hat der Kläger nur den Bescheid vom 9. August 2021 angegriffen. Eine andere Auslegung zugunsten des Klägers war auch nicht aufgrund einer ablaufenden Klagefrist geboten, da mangels Rechtsbehelfsbelehrung im Bescheid vom 10. August 2021 die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 Satz 1 VwGO gilt.
II. Die so verstandene Klage ist auch begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der selbstbeschafften Legasthenietherapie in Höhe von 712,34 Euro gem. § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Der ablehnende Bescheid der Beklagten vom 9. August 2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Der Anspruch des Klägers auf Erstattung der Aufwendungen für die selbstbeschaffte Therapie in Höhe von 712,34 Euro richtet sich nach § 36a Abs. 3 Satz 1 SGB VIII. Danach ist, wenn Hilfen abweichend von den Absätzen 1 und 2 der Vorschrift vom Leistungsberechtigten selbst beschafft werden, der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Übernahme der erforderlichen Aufwendungen nur verpflichtet, wenn der Leistungsberechtigte den Träger der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung über den Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt hat (1.), die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe vorlagen (2.) und die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung des Trägers der öffentlichen Jugendhilfe über die Gewährung der Leistung oder bis zu einer Entscheidung über ein Rechtsmittel nach einer zu Unrecht abgelehnten Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat (3.).
Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.
1. Der Kläger hat sich die Leistung selbst beschafft und die Beklagte als Trägerin der öffentlichen Jugendhilfe vor der Selbstbeschaffung mit den Anträgen vom 14. und 22. November 2019 von dem Hilfebedarf in Kenntnis gesetzt (§ 36a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII).
2. Auch die Voraussetzungen für die Gewährung der Hilfe, hier in Form einer Legasthenietherapie, lagen zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Hilfe vor, § 36a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i. V. m. § 35a Abs. 1 SGB VIII.

a) Dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 35a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 SGB VIII, Abweichen der seelischen Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit für länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand – Nummer 1 –, und daher Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beziehungsweise die Erwartung einer solchen Beeinträchtigung – Nummer 2 –, beim Kläger vorliegen, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und ergibt sich im Übrigen aus der fachlichen Stellungnahme der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin der Beklagten vom 18. Juni 2020 und der Feststellung der Beklagten bzgl. der Teilhabebeeinträchtigung vom 23. Juli 2020.

b) Die Legasthenietherapie bei der Therapeutin J. stellt auch die geeignete und erforderliche Hilfe dar, um den Bedarf des Klägers zu decken. Hat das Jugendamt einen Antrag auf Hilfeleistung dem Grunde nach zu Unrecht abgelehnt oder über die begehrte Hilfeleistung nicht rechtzeitig entschieden, können an dessen Stelle die Betroffenen den sonst der Behörde zustehenden (nur begrenzt gerichtlich überprüfbaren) Einschätzungsspielraum für sich beanspruchen. Denn in dieser Situation sind sie – obgleich ihnen der Sachverstand des Jugendamtes fehlt – dazu gezwungen, im Rahmen der Selbstbeschaffung des § 36a Abs. 3 SGB VIII eine eigene Entscheidung über die Geeignetheit und Erforderlichkeit einer Maßnahme zu treffen. Weil nun ihnen die Entscheidung aufgebürdet ist, eine angemessene Lösung für eine Belastungssituation zu treffen, hat dies zur Folge, dass die Verwaltungsgerichte nur das Vorhandensein des jugendhilferechtlichen Bedarfs uneingeschränkt zu prüfen, sich hinsichtlich der Geeignetheit und Erforderlichkeit der selbst beschafften Hilfe aber auf eine fachliche Vertretbarkeitskontrolle aus der ex-ante-Betrachtung der Leistungsberechtigten zu beschränken haben (vgl. hierzu: BVerwG, Urteil vom 18. Oktober 2012 – 5 C 21/11 –, BVerwGE 145, 1-14, Rn. 34).

So liegt der Fall auch hier. Die Beklagte hat dem Kläger trotz des bestehenden Anspruchs in rechtswidriger Weise keine Eingliederungshilfe gewährt, da sie bis zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung nicht über die begehrte Hilfe entschieden hatte. Der Kläger hat aufgrund des von der Beklagten bereits im Juli 2020 festgestellten eingliederungshilferechtlichen Bedarfs einen gebundenen Anspruch auf Gewährung von Eingliederungshilfe. Diesen Anspruch hat die Beklagte nicht erfüllt. Sie hat dem Kläger keinen Therapieplatz angeboten bzw. keine Kostenzusage für einen Therapieplatz erteilt, um seine Teilhabebeeinträchtigung zu mildern. Darin liegt ein sogenanntes Systemversagen, das zur oben beschriebenen Verlagerung des Einschätzungsspielraums auf den Leistungsberechtigten führt. Die Untätigkeit der Beklagten bzgl. der Therapieplatzanbindung stellt ein Systemversagen dar, weil die Beklagte spätestens seit der Feststellung der Teilhabebeeinträchtigung im Juli 2020 Kenntnis vom jugendhilferechtlichen Bedarf des Klägers hatte. Nach Mitteilung durch die Mutter des Klägers im September 2020, dass es in Wohnortnähe des Klägers keine freien Therapieplätze gebe und die Wartezeiten im Schnitt 1,5 Jahren betragen würden, hat es die Beklagte unterlassen, nach weiteren geeigneten Plätzen für den Kläger zu suchen. Insofern hat sich die Beklagte lediglich darauf berufen, dass die Mutter des Klägers einen Therapieplatz in I. aufgrund der Ganztagsbeschulung des Klägers abgelehnt habe. Eigene Bemühungen, einen Therapieplatz für den Kläger zu finden, hat die Beklagte daraufhin – wie auch schon zuvor – nicht unternommen. Zwar hat die Beklagte bei der Therapeutin J. die erforderlichen Unterlagen angefordert, um eine Überprüfung ihrer Anerkennung als Behandlerin durchführen zu können. Allerdings hat die Beklagte diesbezüglich zuletzt Anfang Oktober 2020 etwas unternommen. Obwohl eine Rückmeldung von Frau J. auf die Anfragen der Beklagten ausgeblieben und damit der Bedarf des Klägers weiterhin ungedeckt geblieben ist, hat die Beklagte hier – trotz des seit Juli 2020 bekannten Anspruchs des Klägers – bis zum Zeitpunkt der Selbstbeschaffung ab dem 3. Dezember 2020 – und auch nach diesem Zeitpunkt – nichts weiter unternommen, um den jugendhilferechtlichen Anspruch des Klägers zu erfüllen.
Eventuelle Kapazitätsmängel entbinden die Beklagte nicht von ihrer Gesamt- und Gewährleistungsverantwortung aus § 79 SGB VIII. Kann wie in diesem Fall kein Träger der freien Jugendhilfe in Wohnortnähe des Anspruchsberechtigten Kapazitäten aufweisen, muss der zuständige Jugendhilfeträger entweder eine Erfüllung des Anspruchs außerhalb der Wohnortnähe, sofern dies dem Kind noch zumutbar ist, sicherstellen oder auf eigene Kräfte zurückgreifen. Die Mitteilung der Kindesmutter, ein Therapieplatz in I. käme aufgrund der Ganztagsbeschulung nicht in Frage, entbindet die Beklagte nicht von ihrer Pflicht, weiterhin nach Therapieplätzen außerhalb der Wohnortumgebung des Klägers zu suchen. Vielmehr wäre es aufgrund der aus § 79 Abs. 2 SGB VIII folgenden Gewährleistungsverantwortung Aufgabe der Beklagten gewesen, in einem ersten Schritt verfügbare Therapieplätze für den Kläger zu ermitteln und erst in einem zweiten Schritt in Absprache mit dem Leistungsberechtigten herauszufinden, welcher der freien Therapieplätze für den Kläger in seiner individuellen Situation unter Berücksichtigung z. B. der Ganztagsbeschulung mit zumutbarem zeitlichem Aufwand wahrnehmbar ist. Alternativ kann der Jugendhilfeträger aber auch den Anspruch auf Eingliederungshilfe durch eigene Kräfte decken. Der Träger der öffentlichen Jugendhilfe, hier die Beklagte, kann eine Leistung der Jugendhilfe sowohl durch eigene Kräfte als auch durch den Einsatz von Trägern der freien Jugendhilfe decken. Zwar ist die Erbringung von eigenen Maßnahmen nach § 4 Abs. 2 SGB VIII grundsätzlich subsidiär gegenüber dem Einsatz von Trägern der freien Jugendhilfe. Dies gilt nach § 4 Abs. 2 SGB VIII aber nur, „soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können“. Gerade dies ist hier aber aufgrund der fehlenden Kapazitäten bei den Trägern der freien Jugendhilfe nicht der Fall.

Einem Systemversagen kann die Beklagte auch nicht entgegenhalten, ihr drohten nach dem von ihr vorgelegten Urteil des Sozialgerichts I. Beitragsnachforderungen von der Rentenversicherung beim Einsatz freier Mitarbeiter. Denn dies entbindet die Beklagte nicht von ihrer Gesamt- und Gewährleistungsverantwortung. Die Beklagte kann sich nicht durch mögliche Probleme im Zusammenhang mit Beiträgen zur Rentenversicherung der zur Leistungserbringung eingesetzten freien Träger der Jugendhilfe von ihrer Verantwortung freizeichnen.

Nach den oben dargestellten Maßstäben stellte die Inanspruchnahme der Legasthenietherapie bei der Therapeutin J. aus Sicht des Klägers eine geeignete und erforderliche Maßnahme zur Milderung oder Abwendung der Teilhabebeeinträchtigung dar. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Mutter des Klägers bereits vorprozessual bei der Beklagten vorgetragen hatte, Frau J. sei vom Landkreis L. als Behandlerin anerkannt, was sich im Rahmen einer telefonischen Auskunftseinholung durch das Gericht bestätigt hat.
Die Beklagte kann der Eignung der Therapie bei Frau J. auch nicht entgegenhalten, dass der Kläger auch nach 20 Therapiestunden nach wie vor starke Probleme im Bereich der Rechtschreibung habe. Dieser Umstand ist bereits deshalb nicht von Relevanz, weil es hier lediglich auf die Eignung aus Sicht der Leistungsberechtigten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung ankommt. Eine nachträgliche Beurteilung der Eignung ist gerade nicht Prüfungsmaßstab. Außerdem lässt sich aus allein diesem Umstand noch keine fehlende Eignung der Therapie bei Frau J. herleiten. Denn die Legasthenietherapie dient nur vordergründig der Verbesserung der Rechtschreibung und ist als Maßnahme der Eingliederungshilfe vielmehr darauf ausgerichtet, die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers zu mildern.

c) Dem geltend gemachten Anspruch steht außerdem nicht entgegen, dass die Beklagte mit der Therapeutin bisher keine Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsvereinbarung auf der Basis von § 77 SGB VIII abgeschlossen hat. Das Vorhandensein einer derartigen Vereinbarung ist nämlich, anders als im Grundsatz nach § 78 b Abs. 1 SGB VIII im Bereich der (teil-)stationären Jugendhilfeleistungen, gerade nicht Voraussetzung für die Übernahme der für die ambulante Therapie anfallenden Kosten (VG Hannover, Beschl. v. 03.07.2014 – 3 B 3375/14 –, JAmt 2014, 474, 475).

3. Schließlich liegen auch die Voraussetzungen des § 36a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a SGB VIII vor, da die Deckung des Bedarfs bis zu einer Entscheidung über die Gewährung der Leistung keinen zeitlichen Aufschub geduldet hat.

Es konnte dem Kläger im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung der Hilfe nicht zugemutet werden, bis zur Bekanntgabe des bewilligenden Bescheides und bis zur Erstellung des Hilfeplans zu warten, da die Gefahr bestand, dass sich die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers ohne den Erhalt einer Legasthenietherapie weiter wesentlich verschlechtern würde. Hierfür sprechen insbesondere die eindeutigen Ausführungen aus der fachlichen Stellungnahme der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin der Beklagten vom 18. Juni 2020, wonach die seelische Störung des Klägers bereits u. a. mit einer klinisch relevanten depressiven Symptomatik einhergeht, verbunden mit ausgeprägtem Leidensdruck, Selbstentwertungen bezüglich seiner schulischen Leistungsfähigkeit sowie mit Sorgen um bzw. Erfahrung von Ausgrenzung durch Gleichaltrige wegen schlechter schulischer Leistungen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass dem Erwerb ausreichender Fähigkeiten im Bereich des Schreibens eine elementare Bedeutung für die gesamte schulische Entwicklung eines Kindes zukommt, weshalb auf dem Kläger bezüglich seiner Rechtschreibstörung ein erheblicher Druck lastet, der sich auf seine gesellschaftliche Teilhabe negativ auswirkt. Gerade ab dem Beginn der weiterführenden Schule werden ausreichende Fähigkeiten in diesem Bereich auch in den übrigen Schulfächern, insbesondere im Fach Mathematik, wegen der Zunahme von textlich formulierten Sachaufgaben, aber auch in anderen Fächern, immer wichtiger. Angesichts dessen stand zu befürchten, dass die negative Grundeinstellung des Klägers sich noch weiter verfestigt und sich zudem auf weitere gesellschaftliche und schulische Anforderungen ausdehnen würde. Die Hinnahme einer solchen Entwicklung war dem Kläger mit Blick auf die in § 1 Abs. 1 und 3 SGB VIII beschriebene Zielsetzung des Jugendhilferechts nicht zuzumuten. Dies gilt in diesem Fall auch deshalb, weil die Beklagte bereits seit November 2019 Kenntnis vom Antrag des Klägers und seit Juli 2020 auch Kenntnis vom Bestehen des jugendhilferechtlichen Bedarfs hatte. Spätestens bei Inanspruchnahme der Therapie im Dezember 2020, also fast 5 Monate nach Feststellung des Bedarfs, war es dem Kläger aufgrund der beschriebenen Verschlechterungsgefahr nicht mehr zumutbar, eine Entscheidung der Beklagten über die Bewilligung oder Ablehnung der beantragten Hilfe abzuwarten.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.