Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.06.2020, Az.: 9 K 182/19

Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für eine Tomatis-Therapie zur Behandlung einer Hyperakusis als außergewöhnliche Belastungen

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
16.06.2020
Aktenzeichen
9 K 182/19
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 70518
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand

Streitig ist, ob die Aufwendungen für eine Tomatis-Therapie zur Behandlung einer Hyperakusis als außergewöhnliche Belastungen abzugsfähig sind.

Die Kläger sind Eheleute, die im Streitjahr 2017 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt werden. Mit ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr machten sie als außergewöhnliche Belastungen u. a. Aufwendungen für eine Hyperakusisbehandlung mittels einer Tomatis-Therapie für ihren 10jährigen Sohn in Höhe von insgesamt 4.027,60 € geltend.

Unter Hyperakusis versteht man eine krankhafte Überempfindlichkeit gegenüber Schall, der normalerweise noch nicht als unangenehm laut empfunden wird. Die Tomatis-Therapie ist eine "Horch"- bzw. Hörtherapie, die von dem französischen Arzt Alfred A. Tomatis entwickelt wurde. Sie beschäftigt sich mit der Interaktion von auditiven, phonatorischen und psychischen Prozessen. Als Therapie dient sie der Behandlung eines weiten Spektrums von Funktionsstörungen des Hör- und Gleichgewichtssystems. Rechtlich zählt die Tomatis-Therapie zu den komplementärmedizinischen Behandlungsmethoden. Nach eigener Darstellung auf der website "www.tomatis.com" wird die Methode als pädagogisches Programm beschrieben, das weder eine medizinische Behandlung noch eine medizinische Diagnose darstellt. Sie soll die Fähigkeit zum Zuhören und Kommunizieren fördern und zahlreiche andere positive Auswirkungen auf verschiedene Bereiche des Gehirns aufweisen.

Die Kläger legten diesbezüglich einen Bericht des behandelnden HNO-Arztes vom 4. November 2016 vor, mit dem dieser u. a. eine "Hörtherapie im Sinne einer Wahrnehmungstherapie mit den Ideen von Tomatis" vorschlägt. In einem weiteren Bericht vom 19. April 2018 (nach Durchführung der Tomatis-Therapie) bescheinigt der HNO-Arzt: "Die spezifischen Probleme der Hyperakusis scheinen aufgehört zu haben".

Der Kläger hatte die Aufwendungen für die Hörtherapie sowohl bei der Beihilfestelle als auch bei der Krankenkasse geltend gemacht. Eine Kostenübernahme wurde jedoch jeweils abgelehnt. Die Beihilfestelle führte hierzu aus: "Eine Beihilfe zu den entstandenen Aufwendungen kann nicht gewährt werden, da die Hörtherapie von Tomatis zu den wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Methoden gehört und nicht in der Anlage 1 zu § 5 Abs. 1 der Niedersächsischen Beihilfeverordnung aufgeführt ist".

Die Krankenkasse begründet die Ablehnung wie folgt: "Die Rechnung ist nicht nach einer gültigen Gebührenordnung abgerechnet. Die Kosten erstatten wir Ihnen deshalb nicht".

Im laufenden Veranlagungsverfahren erläuterte das beklagte Finanzamt den Klägern, dass eine steuerliche Berücksichtigung als außergewöhnliche Belastungen nur in Betracht komme, wenn ein amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines medizinischen Dienstes einer Krankenversicherung über die Zwangsläufigkeit der Maßnahme vorliege, welches vor Beginn der Behandlung ausgestellt worden sei.

Nachdem die Kläger solche Unterlagen nicht vorlegen konnten, lehnte der Beklagte eine Berücksichtigung der Aufwendungen für die Tomatis-Therapie als außergewöhnliche Belastungen im Einkommensteuerbescheid vom 17. Dezember 2018 ab.

Gegen diesen Einkommensteuerbescheid legten die Kläger form- und fristgerecht Einspruch ein und begehrten weiterhin die Berücksichtigung der Aufwendungen als außergewöhnliche Belastung. Zur Begründung trugen sie vor, die Forderung eines amtsärztlichen Attestes sei rechtsfehlerhaft, da die Behauptung des Finanzamtes, es handele sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode, fehlgehe. Sie verwiesen auf den ärztlichen Bericht vom 19. April 2019, in dem der Erfolg der Maßnahme bescheinigt worden sei. Des Weiteren legten sie eine Liste vor mit Veröffentlichungen, in denen die Wirksamkeit der Therapie bescheinigt werde sowie eine veröffentlichte Studie über die Wirksamkeit der Therapie bei 12 Kindern.

Der Einspruch hatte jedoch keinen Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 16. Juli 2019 begründete der Beklagte die Zurückweisung damit, dass im Streitfall die Berücksichtigung der Aufwendungen für die Tomatis-Therapie ohne Vorlage eines vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestellten amtsärztlichen Gutachtens bzw. einer vorherigen ärztlichen Bescheinigung eines medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht zulässig sei, da es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode handele. Die Kläger hätten zwar aufgezeigt, dass es in Fachkreisen durchaus Befürworter dieser Therapie gebe. Allein die Verbreitung einer Behandlungsmethode besage jedoch nichts über die wissenschaftliche Anerkennung. Maßgebend sei die Beurteilung solcher Personen, die an Hochschulen oder anderen Forschungseinrichtungen als Wissenschaftler in dem durch die zu behandelnde Krankheit und die Art der Heilmaßnahme gekennzeichneten medizinischen Fachbereich tätig seien. Die Überzeugung von der Wirksamkeit müsse zwar in der Fachwelt nicht uneingeschränkt geteilt werden, jedoch sei weitgehende Zustimmung der in dem Fachbereich tätigen Wissenschaftler erforderlich. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen hätten die Kläger nicht darlegen können. Ein gewichtiges Indiz für die Beurteilung einer wissenschaftlichen Anerkennung sei die Kostenübernahme durch Beihilfestellen und Krankenkassen. Diese hätten jedoch eine Kostenübernahme abgelehnt.

Hiergegen richtet sich die vorliegende Klage, mit der die Kläger ihr Begehren aus dem Einspruchsverfahren weiterverfolgen. Zur Begründung tragen die Kläger im Wesentlichen Folgendes vor: Die streitigen Aufwendungen i. H. v. 4.028,00 € für die Tomatis-Therapie des Sohnes seien zum Abzug als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen. Zur Begründung verweisen die Kläger auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. Juni 2014 (VI R 51/13, BStBl II 2015, 9). Der Beklagte habe eine Feststellung dahingehend, ob die durchgeführte Tomatis-Behandlung eine wissenschaftlich anerkannte Methode zur Behandlung des Krankheitsbildes des Sohnes darstelle, nicht getroffen. Die Intention, eine solche Behandlung durchzuführen, sei auf Empfehlung des behandelnden HNO-Facharztes Dr. ... geschehen. Hierzu verweisen die Kläger auf den Arztbericht vom 4. November 2016. Des Weiteren seien die Kläger auch den weiteren Empfehlungen gefolgt und hätten für ihren Sohn eine orthopädische Abklärung als auch eine Ergotherapie durchgeführt. Allein diese Maßnahmen, die sie vor der Tomtatis-Therapie durchgeführt hätten, hätten nicht zum Erfolg geführt. Erst die durchgeführte Tomatis-Therapie hätte den gewünschten Erfolg gebracht, so dass der Sohn seit der Behandlung völlig beschwerdefrei sei. Dies werde insbesondere dokumentiert und wissenschaftlich beweisbar belegt durch die durchgeführten Untersuchungen bei Herrn Dr. ... vom 12. April 2018, dargestellt in dem Arztbericht vom 18. April 2018. Insofern ergebe sich durch die Empfehlung und den Erfolg der Behandlung bereits eine sehr starke Indizwirkung, dass die Maßnahme eben in Fachkreisen eine wissenschaftlich anerkannte Maßnahme zur Behandlung einer Hyperakusis darstelle. Das beklagte Finanzamt habe lediglich behauptet, dass eine Tomatis-Therapie keine wissenschaftlich anerkannte Methode zur Behandlung der Hyperakusis darstelle. Der Hinweis, dass die Kostenträger die Behandlungskostenübernahme abgelehnt hätten, sei insofern nicht ausreichend. Die Kläger seien dagegen der Auffassung, dass unter Berücksichtigung der vorgefundenen Beschwerdesymptomatik bei ihrem Sohn die durchgeführte Tomatis-Therapie eine wissenschaftlich anerkannte Behandlungsmethode zur Behandlung seines Krankheitsbildes gewesen sei. Zudem verweisen die Kläger insoweit auf die Liste der vorgelegten Veröffentlichungen, die die Wirksamkeit der Tomatis-Therapie belegten sowie beispielhaft eine veröffentlichte Studie zu der Durchführung einer Tomatis-Therapie bei insgesamt 12 hörbeeinträchtigten Kinder, die für alle Kinder nachhaltige Verbesserungen der Höreigenschaften nach sich gezogen habe. Auch diese Studie belege, dass die Tomatis-Therapie in Fachkreisen eine anerkannte Methode darstelle, hörbeeinträchtigte Kinder wirksam zu behandeln.

Zur weiteren Begründung legten die Kläger eine Studie mit dem Titel "Lernstörungen und Verhaltensauffälligkeiten als gemeinsame Folge von zentralen Hörstörungen" von Dr. med. Beate Lubbe (ohne Datum), einen Befundbericht von Dr. med. ... vom 19. April 2018 sowie einen Befundbericht von Herrn Dr. med. ... vom 4. November 2016 vor. Als Anlage zum ergänzenden Schriftsatz vom 30. September 2019 haben die Kläger eine Studie vom 19. November 2012 mit dem Titel "Erfüllt die Audio-Psycho-Phonologie nach A. Tomatis die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit?" sowie einen Überblick der Studien zur Tomatis-Hörstimulation von Dr. Jan Gerritsen aus dem Jahr 2009 vorgelegt. Zudem verwiesen die Kläger auf die auf der Internetseite ww.tomatis.com aufgelisteten Studien und Veröffentlichungen.

Die Kläger beantragen (sinngemäß),

Aufwendungen für die Tomatis-Therapie ihres Sohnes i.H.v. 4.028,00 € als außergewöhnliche Belastungen anzuerkennen und die Einkommensteuer 2017 entsprechend herabzusetzen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zunächst verweist der Beklagte zur Begründung seines Klageabweisungsantrages auf seinen Einspruchsbescheid vom 16. Juli 2019. Darüber hinaus trägt er vor, die Berücksichtigung der Kosten für die Tomatis-Therapie sei deshalb nicht möglich, weil das Bundesministerium des Inneren diese Therapie als wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Methode eingestuft habe. Die Empfehlung des Arztes im Streitfall sowie seine Einschätzung über den Erfolg der Behandlung reichten nicht aus, um eine in Fachkreisen wissenschaftlich anerkannte Maßnahme zur Behandlung einer Hyperakusis anzunehmen. Zudem verweist der Beklagte auf die Homepage https:/www.tomatis.com/de. Hier werde überdies in der Fußzeile auf Folgendes hingewiesen: "Die Tomatis-Methode ist ein pädagogisches Programm. Sie ist weder eine medizinische Behandlung noch stellt sie eine medizinische Diagnose dar." Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes setze dieser für eine wissenschaftliche Anerkennung einer Behandlungsmethode weiter voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden könnten. Der Erfolg müsse sich aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methoden ablesen lassen. Die Therapie müsse in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Diese Voraussetzungen seien im Streitfall nicht erfüllt. Zur weiteren Begründung verweist der Beklagte auf das Urteil des Landessozialgerichtes Sachsen-Anhalt vom 24. August 2011 (Az.: L 8 SO 18/08). Diesem Urteil sei unter Tz. 85 zu entnehmen, dass ein Indiz für die Wirksamkeit insbesondere die Anerkennung einer Maßnahme nach dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung sei. Die durch die Kläger vorgelegten Studien und Arbeiten in Bezug auf die Tomatis-Therapie aus den Jahren 2009 und 2012 führten bis zum heutigen Tage weder zu einer Anerkennung durch die Krankenversicherung noch durch das Bundesministerium des Inneren. Zudem beschäftigten sich diese Aufsätze nicht mit der Frage, inwieweit die Tomatis-Therapie in einer ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen der Hyperakusis erfolgreich gewesen sei. Darüber hinaus führe das Landessozialgericht unter Tz. 87 eine Veröffentlichung des Dr. S., Tomatis-Therapie - was ist dran an dieser Hörkur?, Pädiatrie hautnah 2000, 408 ff. (Seite 410) an, nach der es sich bei der Tomatis-Methode um eine wissenschaftlich nicht nachvollziehbare Methode handele, für die auch der Versuch eines Nachweises der Wirksamkeit durch die Verfechter nicht unternommen worden sei. Des Weiteren werde in derselben Textziffer das Konsensus-Papier der deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e. V. zum "Hörtraining nach Tomatis" und zur Klangtherapie erwähnt, wonach die Vorstellungen von Tomatis über die Wirkmechanismen des Kosmos und die Gleichstellung von Energie und Klang ebenso wenig nachvollziehbar seien wie die behauptete einzigartige Bedeutung des - insbesondere rechten - Ohres für die kindliche Sprachentwicklung. Auch die Annahme, dass bei Vertikalisierung des kindlichen Körpers Klangenergien besser wirksam seien könnten, erscheine eher mystisch. Die postulierten Auswirkungen auf die motorische und sprachliche Entwicklung seien eher spekulativ. Akustische Stimulationen mit einem "elektrischen Ohr" entbehrten jeglicher Hinweise auf mögliche positive Effekte und seien daher nicht zielführend und nutzlos. Das Hörtraining sei daher in seiner Gesamtheit nicht zu empfehlen. In Tz. 86 führe das Sozialgericht zudem aus, dass positive Bewertungen für die "Tomatis-Methode" den Bereich der Werbung des Tomatis-Instituts als Anbieter der Therapien bzw. dem Begründer der Methode oder dessen Schülern bzw. Schülerinnen zuzuordnen seien. Von einer wissenschaftlich anerkannten Methode könne folglich nicht gesprochen werden.

Mit Schreiben vom 3. April 2020 hat der Berichterstatter sich an die Deutsche Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V. (DGPP), Göttingen, gewandt und um Stellungnahme gebeten, ob die DGPP trotz der von der Klägerseite angeführten Fachstudien, die teilweise zeitlich nach dem Konsenspapier aus dem Jahr 1998/2000 und ihrer Stellungnahme aus dem sozialgerichtlichen Verfahren (L 8 SO 18/08) aus 2011 veröffentlicht wurden, weiterhin an ihrer bisherigen Auffassung festhalten und die Tomatis-Therapie auch im Streitjahr 2017 als eine wissenschaftlich nicht anerkannte Methode, insbesondere zur Hyperakusis-Behandlung, ansehen.

Hierauf hat das Vorstandsmitglied der DGPP, Prof. Dr. Rainer Schönweiler mit Schreiben vom 8. April 2020 wie folgt geantwortet:

"Sie fragen, ob wir als wissenschaftliche Fachgesellschaft weiterhin - trotz der vorgenannten, zeitlich nach dem Konsenspapier veröffentlichten Fachstudien - an der in dem Konsenspapier aus dem Jahr 1998/2000 und der Stellungnahme aus 2011 vertretenen Auffassung festhalten und die Tomatis-Therapie auch noch im Streitjahr 2017 als wissenschaftlich nicht anerkannte Methode zur Hyperakusis-Behandlung angesehen wird. Dies muss verneint werden.

Begründung:

Literatur 2011 - 2017

Eine aktuelle Literatursuche in der Datenbank PubMed (alle Jahrgänge) am 7. April 2020 zum Thema "hyperacusis" findet 893 Publikationen. Hingegen ergibt der Term "hyperacusis and tomatis" keine einzige Arbeit. Der Term "hyperacusis and sound therapy" ergibt immerhin 171 Treffer, davon zwischen einschließlich 2011 bis einschließlich 2017 sieben Review-Artikel, davon 1 Duplikat und 2 nur zur Diagnostik. Beim Lesen der verbleibenden fünf Volltexte ist festzustellen, dass keiner die Methode nach Tomatis erwähnt. Dies bedeutet, dass die Literatur zur Therapie der Hyperakusis von 2011 - 2017 die Tomatis-Methode nicht thematisiert, woraus wiederum geschlossen werden kann, dass es nach unserer letzten Stellungnahme keine neuen relevanten Arbeiten zu dem Thema gibt. Daher kann mit Kenntnisstand bis 2017 keine wissenschaftlich begründete positive Empfehlung zur Tomatis-Therapie bei Hyperakusis ausgesprochen werden.

Literatur ab 2018

Auch die aktuelle seit 2018 erschienene Literatur ändert an dieser Beurteilung nichts: Das Europäische Lehrbuch für Phoniatrie (Anlage) enthält ein Kapitel über die Behandlung der Hyperakusis. Als Co-Autor weiß ich, dass die einzelnen Kapitel durch andere Facharztkollegen korrigiert werden, das sogenannte Peer-Review-Verfahren. Inhalte dieses Lehrbuchs sind ausschließlich Erkenntnisse, die mit Kontrollgruppen und ausreichenden, in der Regel durch Fallzahlberechnungen ermittelten Probandenzahlen gewonnen wurden. Nach einer Literatursuche werden alle Arbeiten ausgeschlossen, die nicht diesem wissenschaftlichen Standard entsprechen. In dem Kapitel über Hyperakusis werden eine Klangtherapie oder gar speziell die Tomatis-Methode nicht thematisiert, vermutlich, da die Bedeutung dieser Methoden im Bereich der evidenzbasierten Medizin als zu gering eingeschätzt wurde.

Die o.g. Literatursuche in der Datenbank PubMed für den Term "hyperacusis and sound therapy" ergibt immerhin 171 Treffer, davon ab 2017 vier Review-Artikel. Beim Lesen der Volltexte ist festzustellen, dass keiner der Reviews die Methode nach Tomatis erwähnt. Dies bedeutet, dass auch die aktuelle Literatur zur Therapie der Hyperakusis die Tomatis-Therapie nicht thematisiert, woraus wiederum geschlossen werden kann, dass es keine relevanten Arbeiten zu dem Thema gibt. Daher kann keine wissenschaftlich begründete positive Empfehlung ausgesprochen werden.

Die Literatur ab 2018 belegt daher, dass fortgesetzt die große Mehrheit der Wissenschaftler die Methode nach Tomatis weiterhin nicht befürwortet. Ausreichende Zahlen von Behandlungsfällen mit positiven Wirkungen liegen fortgesetzt nicht vor. Zur Qualität und Wirksamkeit der Methode können keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren positiven Aussagen getroffen werden."

Diese Stellungnahme der DGPP hat der Berichterstatter anschließend den Beteiligten zugänglich gemacht. Einwendungen hiergegen haben die Kläger nicht vorgebracht.

Entscheidungsgründe

1. Die Klage ist unbegründet.

Der Einkommensteuerbescheid vom 17. Dezember 2018 in Form der Einspruchsentscheidung vom 16. Juli 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO). Der Beklagte hat zu Recht die Kosten für die durchgeführte Tomatis-Therapie nicht als außergewöhnliche Belastungen i.S.d. § 33 Abs. 1 EStG anerkannt.

a. Nach § 33 Abs.1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstandes erwachsen. Aufwendungen entstehen einem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ziel des § 33 EStG ist es, zwangsläufige Aufwendungen für den existenznotwendigen Grundbedarf zu berücksichtigen, die sich wegen ihrer Außergewöhnlichkeit einer pauschalen Erfassung in allgemeinen Freibeträgen entziehen (u.a. BFH-Urteil vom 29. September 1989 III R 129/86, BFHE 158, 380, BStBl II 1990, 418).

Der BFH geht in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass Krankheitskosten - ohne Rücksicht auf die Art und die Ursache der Erkrankung - dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Allerdings werden nur solche Aufwendungen als Krankheitskosten berücksichtigt, die zum Zwecke der Heilung einer Krankheit oder mit dem Ziel getätigt werden, die Krankheit erträglicher zu machen (z.B. BFH-Urteil vom 17. Juli 1981 VI R 77/78, BFHE 133, 545, BStBl II 1981, 711). Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung werden typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf; eine derart typisierende Behandlung von Krankheitskosten ist zur Vermeidung eines unzumutbaren Eindringens in die Privatsphäre geboten (BFH-Urteil vom 1. Februar 2001 III R 22/00, BFHE 195, 144, BStBl II 2001, 543). Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Aufwendungen nach den Erkenntnissen und Erfahrungen der Heilkunde und nach den Grundsätzen eines gewissenhaften Arztes zur Heilung oder Linderung der Krankheit angezeigt sind und vorgenommen werden, also medizinisch indiziert sind (BFH-Urteile vom 18. Juni 1997 III R 84/96, BFHE 183, 476, BStBl II 1997, 805; und vom 19. April 2012 VI R 74/10, BFHE 237, 156, BStBl II 2012, 577).

Allerdings hat der Steuerpflichtige die Zwangsläufigkeit von Aufwendungen im Krankheitsfall in einer Reihe von Fällen formalisiert nachzuweisen. Bei Aufwendungen für Maßnahmen, die ihrer Art nach nicht eindeutig nur der Heilung oder Linderung einer Krankheit dienen können und deren medizinische Indikation deshalb schwer zu beurteilen ist, verlangt § 64 Abs. 1 Nr. 2 EStDV zum Zwecke des Nachweises der Zwangsläufigkeit der Behandlung ein vor Beginn der Heilmaßnahme oder dem Erwerb des medizinischen Hilfsmittels ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung. Ein solcher qualifizierter Nachweis ist auch im Streitjahr bei krankheitsbedingten Aufwendungen für wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethoden (wie z. B. Frisch- und Trockenzellenbehandlungen, Sauerstoff-, Chelat- und Eigenbluttherapie) erforderlich (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV).

Wissenschaftlich anerkannt ist eine Behandlungsmethode nach der Rechtsprechung des BFH dann, wenn Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen (BFH-Urteil vom 26. Juni 2014 VI R 51/13, BFHE 246, 326, BStBl II 2015, 9). (BFH-Urteil vom 18. Juni 2015 VI R 68/14, BFHE 250, 166, BStBl II 2015, 803 mit zahlreichen Nachweisen auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts).

Maßgeblicher Zeitpunkt für die wissenschaftliche Anerkennung im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV ist der Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung. Das Nachweiserfordernis soll Aufschluss darüber geben, ob eine Behandlungsmethode im Zeitpunkt der Behandlung medizinisch indiziert und die anfallenden Aufwendungen zwangsläufig zum Zweck der Heilung oder Linderung der Krankheit entstanden sind (BFH-Urteil vom 12. Mai 2011 VI R 37/10, BFHE 234, 25, BStBl II 2013, 783).

b. Unter Anwendung dieser Grundsätze können die Aufwendungen für die Durchführung der Tomatis-Therapie im Streitjahr nicht als außergewöhnliche Belastungen nach § 33 EStG abgezogen werden, da es sich um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV handelt und unstreitig kein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung vorlag.

Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass die Tomatis-Therapie im Streitjahr 2017 hinsichtlich Qualität und Wirksamkeit nicht dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht.

Das Gericht stützt sich hinsichtlich der fehlenden wissenschaftlichen Anerkennung der Tomatis-Therapie zur Behandlung einer Hyperakusis auf die Gemeinsame Stellungnahme der Gesellschaft für Neuropädiatrie, der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf und Halschirurgie und der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie (Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Audiologen und Neurootologen (D. Karch, V. Uttenweiler, G. Groß-Selbeck, E. Kruse, D. Rating, A. Ritz, H.G. Schlack, H. Edel; 1998), die Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Phoniatrie und Pädaudiologie e.V. (von Prof. Dr. E. Kruse) gegenüber dem Sozialgericht Würzburg im Verfahren Az. S 6 KR 131/09 vom 16. September 2011, insbesondere die auf Anfrage des Berichterstatters hierzu erfolgte ergänzende Stellungnahme vom 8. April 2020 sowie die Urteile des Sozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. August 2011 L 8 SO 18/08, juris, und vom 2. Mai 2012 L 10 KR 31/09, Med 2013, 637.

Danach beruht bereits die Tomatis-Therapie allgemein auf theoretischen Vorstellungen die nicht nachvollziehbar und wissenschaftlich nicht haltbar sind. Die Bedeutung des Hörens und der Hörwahrnehmung werden in z.T. mystischer Weise überbetont und daraus Therapietechniken entwickelt, deren Wirksamkeit bisher nicht ausreichend evaluiert worden ist. An dieser Sichtweise der vorgenannten Stellungnahme aus 1998 (sog. Konsenspapier) hat die DGPP bis heute festgehalten. In der Stellungnahme vom 8. April 2020 hat die DGPP ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es über das Streitjahr 2017 hinaus bis heute keine relevanten wissenschaftlichen Arbeiten dazu gibt, ob die Tomatis-Therapie zur Behandlung speziell einer Hyperakusis geeignet ist. Auch die aktuelle seit 2018 erschienene Literatur ändere an dieser Beurteilung nichts. Zudem weist die DGPP auf das Europäische Lehrbuch für Phoniatrie hin. Hier gibt es ein Kapitel über die Behandlung der Hyperakusis, in dem aber eine Klangtherapie oder gar speziell die Tomatis-Methode nicht thematisiert wird. Inhalte dieses Lehrbuchs sind ausschließlich Erkenntnisse, die mit Kontrollgruppen und ausreichenden, in der Regel durch Fallzahlberechnungen ermittelten Probandenzahlen gewonnen wurden. Nach einer Literatursuche werden nach Auskunft der DGPP alle Arbeiten ausgeschlossen, die nicht diesem wissenschaftlichen Standard entsprechen.

Zudem ist darauf hinzuweisen, dass - soweit ersichtlich - alle Beihilfeverordnungen der Länder Aufwendungen für die Tomatis-Therapie nicht als beihilfefähig erachten (etwa § 5 Abs. 1 NBhVO, Anlage 1; BeihilfeVO NRW i.d.F. vom 12. Dezember 2019, unter Abschnitt I, A. 6.; BremBVO vom 10. März 2020, Abschnitt 1, 1.1; LBhVO - Berlin - vom 8. September 2009, Abschnitt 1, 1.1; e; vgl. auch Anlage 1 zu § 6 Abs. 2 der Bundesbeihilfeverordnung).

Daraus schließt das Gericht, dass die große Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) die Behandlungsmethode gerade nicht befürwortet und über die Zweckmäßigkeit der Therapie kein Konsens besteht. Zudem gibt es über Qualität und Wirksamkeit der Methode keine zuverlässigen, wissenschaftlich nachprüfbaren Aussagen. Der Erfolg lässt sich im Ergebnis nicht aus wissenschaftlich einwandfrei durchgeführten Studien über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der Methode ablesen. Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Tomatis-Therapie in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen ist. Die Vorlage einer einzigen Studie mit nur 12 hörbeeinträchtigten Kindern ist insoweit ebenso wenig ausreichend wie die Einschätzung des behandelnden HNO-Arztes, nach der die Hörprobleme des Sohnes der Kläger nach der Tomatis-Behandlung aufgehört zu haben scheinen.

Die Wirksamkeit der Tomatis-Therapie ist jedenfalls mangels hinreichender Daten nicht ausreichend nachgewiesen.

Die Kläger haben im Übrigen nach Zusendung der angefragten Stellungnahme der DGPP vom 8. April 2020 keine substantiierten Einwendungen gegen die Einschätzung der DGPP erhoben. Die Einholung eines weitergehenden Sachverständigengutachtens war vor diesem Hintergrund für die Entscheidung nicht erforderlich.

2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

3. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision gemäß § 115 Abs. 2 FGO sind nicht gegeben. Zwar befasst sich mit diesem Urteil - soweit ersichtlich - erstmals ein FG mit der Abzugsfähigkeit der Aufwendungen für eine Tomatis-Therapie als außergewöhnliche Belastungen und es sind sicherlich aufgrund der Verbreitung dieser Behandlungsmethode auch eine Vielzahl von Steuerpflichtigen von der Entscheidung betroffen. Gleichwohl folgt das FG den bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechungsgrundsätzen. Eine Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung oder zur Fortbildung des Rechts hält das Gericht nicht für geboten.