Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.07.2013, Az.: 16 K 107/11
Krankheitskosten als unvermeidbare und die Einkünfte bzw. Bezüge mindernde Aufwendungen
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 18.07.2013
- Aktenzeichen
- 16 K 107/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 52210
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2013:0718.16K107.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs. 2 S. 2 EStG
- § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a), S. 2 EStG
- § 62 Abs. 1 EStG
- § 63 Abs. 1 EStG
Amtlicher Leitsatz
Krankheitskosten als unvermeidbare, die Einkünfte und Bezüge nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. a EStG mindernde Aufwendungen.
Tatbestand
Strittig ist der Anspruch auf Kindergeld der Klägerin für ihren Sohn M, geb. 21. April 1990, für das Jahr 2010.
Das Versorgungsamt Osnabrück stellte mit Bescheid vom 10. September 1996 für M ab dem 24. Juni 1996 infolge eines Marfan-Syndroms einen Grad der Behinderung von 40 % fest. M hatte im Streitzeitraum Einkünfte aus einer Ausbildungsvergütung in Höhe von 7.706,13 € und bezog zusätzlich eine Rente i.H.v. 2.327,28 €. Den Antrag der Klägerin auf Kindergeld lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28. Dezember 2010 wegen Überschreitung des Grenzbetrags nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ab. Den Einspruch hiergegen wies sie mit Bescheid vom 21. Februar 2011 als unbegründet zurück. Die Gesamteinkünfte und Bezüge des Kindes hätten in 2010 10.033,41 € betragen. Von den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit sei nur der Arbeitnehmerpauschbetrag von 920 € abzusetzen. Hinsichtlich der Rentenzahlung sei ein Werbungskostenpauschbetrag von 102 € zu berücksichtigen. Die Bezüge seien sodann noch um die Kostenpauschale von 180 € zu vermindern. Die so ermittelten Einkünfte und Bezüge des Kindes von 8.831,41 € überschritten den maßgeblichen Grenzbetrag von 8.004 €.
Mit ihrer hiergegen gerichteten Klage macht die Klägerin geltend, die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes müssten noch um den Mehrbedarf für dessen Behinderung vermindert werden. Diesen bezifferte sie mit Schriftsatz vom 22. März 2011 mit 160 € monatlich für Kleidung und Ernährung. Zum Beleg reichte sie einen zwischen ihr und dem Landkreis Osnabrück vor dem Sozialgericht Osnabrück am 3. August 2010 geschlossenen Vergleich zu den Akten. Hierin verpflichtete sich der Landkreis für M einen Mehrbedarf zusätzlich zu dem bereits gewährten Mehrbedarf in Höhe von insgesamt 480 € zu gewähren, was einem monatlichen zusätzlichen Mehrbedarf von 40 € für die Zeit vom 1. März 2008 bis 28. Februar 2009 entspreche. Wie sich aus einem Schreiben des Landkreis Osnabrück vom 18. März 2010 ergibt, betrug der bereits gewährte Mehrbedarf nach § 21 Abs. 5 SGB II 120 €. Am 1. August 2009 begann M die Ausbildung, so dass die Unterstützungen durch den Landkreis entfielen.
Zum weiteren Beleg des Mehrbedarfs reichte die Klägerin eine ärztliche Stellungnahme vom 22. Juli 2005, die im Auftrag des Gesundheitsdiensts für den Landkreis und die Stadt Osnabrück erstellt wurde, zu den Akten. Danach handelt es sich bei dem Marfan-Syndrom um eine angeborene Erkrankung mit Hochwuchs, Fettgewebsmangel, verminderter Muskelausprägung und Bindegewebsschwäche. Begleitsymptome sind eine allgemeine Leistungsschwäche und eine sehr eingeschränkte Belastbarkeit. Das Kind der Klägerin benötige eine kalorienreiche Kost, verteilt auf viele kleine Mahlzeiten. Es sei eine besonders hochwertige Ernährung notwendig, die viel hochwertiges Eiweiß aus Fleisch und Fisch enthalte, sowie vitaminreiches frisches Obst und Gemüse. Zusätzlich brauche M Maltodextrin, um die Nahrung kalorisch anzureichern. M sei sehr Kälte und Haut empfindlich und benötige zusätzliche Kleidung. Er habe bei einer Größe von 190 cm und einem Gewicht von 62 kg eine Schuhgröße von 48. Die Beschaffung von Alters angemessener Oberbekleidung sei schwierig und teuer. Benötigt würde zusätzlich eine besondere, wärmestabilisierende Unterwäsche. Aus ärztlicher Sicht werde ein Mehrbedarf für die Ernährung in Höhe von 100 € pro Monat für erforderlich gehalten und ein Mehrbedarf an Kleidung in Höhe von 50 € pro Monat. Die Klägerin reichte ferner eine amtsärztliche Stellungnahme des Gesundheitsdiensts für Landkreis und Stadt Osnabrück vom 16. März 2010 zu den Akten. Hieraus ergebe sich ein durchschnittlicher Mehraufwand für Sonderernährung für M von 186 € monatlich.
Im Schriftsatz vom 14. August 2012 hat die Klägerin den monatlichen behindertenbedingten Mehraufwand mit 260 € berechnet. Es ergäben sich zusätzliche monatliche Kosten von 36 € für den Rehasport und Fahrtkosten hierfür von 50,40 €. Hinzu kämen Praxisgebühren und Medikamentzuzahlungen von 10 bis 20 € monatlich, so dass insgesamt von einem Mehraufwand von monatlich 260 € auszugehen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Beklagte zu verpflichten, ihr für ihr Kind M unter Aufhebung des Bescheids vom 28. Dezember 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. Februar 2011 Kindergeld für 2010 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Ein behinderungsbedingter Mehraufwand sei bei der Berechnung der Einkünfte und Bezüge im Rahmen der Grenzbetragsbetrachtung nicht in Abzug zu bringen. Da der Grenzbetrag ohne die behinderungsbedingten Mehraufwendungen überschritten werde, komme eine Berücksichtigung des Kindes nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2a EStG nicht in Betracht. Eine Berücksichtigung nach § 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 3 EStG scheitere an der fehlenden Ursächlichkeit der Behinderung.
Mit Schriftsätzen vom 25. November 2011 bzw. vom 4. März 2011 haben die Klägerin und die Beklagte ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter nach § 79a Abs. 3 und 4 FGO sowie den Verzicht auf eine mündliche Verhandlung nach § 90 Abs. 2 FGO erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet. Der angegriffene Ablehnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 FGO). Die Klägerin hat für ihren Sohn für 2010 einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld.
1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das --wie M im Jahr 2010-- das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge den für den Streitzeitraum maßgeblichen Jahresgrenzbetrag von 8.004 € im Kalenderjahr nicht übersteigen.
Zu Unrecht hat die Beklagte die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG allein deshalb verneint, weil es den monatlichen Mehrbedarf i.H.v. 160 € aufgrund der Erkrankung des Kindes der Klägerin am Marfan-Syndrom vom Einkommen des Kindes i.H.v. 8.831,41 € nicht abgezogen hat.
a) Der Begriff der Einkünfte ist in § 2 Abs. 2 EStG gesetzlich definiert --je nach Einkunftsart als Gewinn oder als Überschuss der Einnahmen über die Werbungskosten--. Nach dem Beschluss des BVerfG vom 11. Januar 2005 2 BvR 167/02 (BVerfGE 112, 164, BFH/NV 2005, Beilage 3, 260) kann der Begriff "Einkünfte" daher nicht als "zu versteuerndes Einkommen" ausgelegt werden. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sei verfassungskonform auszulegen. Der Relativsatz "die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind" sei nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes zu beziehen. Nicht als Einkünfte anzusetzen seien daher jedenfalls diejenigen Beträge, die --wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge-- von Gesetzes wegen dem Einkünfte erzielenden Kind oder dessen Eltern nicht zur Verfügung stünden und deshalb die Eltern finanziell nicht entlasten könnten. Offen bleiben könne, "in welchen Fällen der Relativsatz im Einzelfall auf Einkünfte anzuwenden" sei (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 112, 164, [BVerfG 11.01.2005 - 2 BvR 167/02] BFH/NV 2005, Beilage 3, 260, unter B.II.3.).
Nach der Entscheidung des BVerfG ist daher jeweils im Einzelfall zu prüfen, welche Teile der Einkünfte i.S. des § 2 Abs. 2 EStG wegen eines sonst vorliegenden Grundrechtsverstoßes im Wege verfassungskonformer Einschränkung nicht angesetzt werden dürfen.
Der BFH hat im Urteil vom 26. September 2007 III R 4/07 (BFHE 219, 112, BStBl II 2008, 738, unter II. 8., betr. ansetzbare Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit) ausdrücklich offen gelassen, ob und inwieweit Krankheits- oder Krankheitsfolgekosten zu den nach der Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, [BVerfG 11.01.2005 - 2 BvR 167/02] BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 unvermeidbaren, die Einkünfte und Bezüge des Kindes mindernden Aufwendungen gehören können. Auch in den Urteilen vom 17. Dezember 2009 III R 74/07 (BFHE 228,72, BStBl II 2010,552) und vom 9. Februar 2012 III R 5/08 (BFH/NV 2012, 851) musste er diese Frage nicht entscheiden, da sich der geminderte Ansatz einer Rentennachzahlung in den von den zitierten Urteilen entschiedenen Fällen allein aus der Zweckbestimmung der Verletztenrente ergibt.
b) Das erkennende Gericht ist aber der Ansicht, dass jedenfalls in einem Fall wie dem vorliegendem Krankheitsfolgekosten aufgrund der Erkrankung des Kindes der Klägerin am Marfan-Syndrom zu den nach der Rechtsprechung des BVerfG in BVerfGE 112, 164, [BVerfG 11.01.2005 - 2 BvR 167/02] BFH/NV 2005, Beilage 3, 260 unvermeidbaren, die Einkünfte und Bezüge des Kindes mindernden Aufwendungen gehören. Hierfür spricht, dass die Einkünfte soweit sie für die Folgen der Erkrankung am Marfan-Syndrom aufgewandt werden müssen, dem Kind zur Bestreitung seines Unterhalts oder seiner Berufsausbildung nicht zur Verfügung stehen.
c) Das Gericht sieht vorliegend Krankheitsfolgekosten jedenfalls in Höhe von 160 € für erwiesen an. Der Nachweis ergibt sich aus einer Gesamtschau der ärztlichen Stellungnahmen des Gesundheitsdienstes für den Landkreis und die Stadt Osnabrück vom 22. Juli 2005 sowie vom 16. März 2010 in Verbindung mit dem Schreiben des Landkreises Osnabrück vom 18. März 2010 und dem in der Sitzung vom 3. August 2010 vor dem Sozialgericht Osnabrück geschlossenen Vergleich.
Bei der Prüfung, ob die Einkünfte und Bezüge von M den Jahresgrenzbetrag von 8.004 € übersteigen, sind seine Einkünfte und Bezüge von 8.831,41 € daher um einen Betrag von 1.920 € zu mindern. Damit übersteigen seine Einkünfte und Bezüge von nunmehr 6.911 € den Jahresgrenzbetrag nicht.
Darauf, ob M, wie die Klägerin mit Schriftsatz vom 14. August 2012 meint, weitere unvermeidbare Krankheitsfolgenkosten hatte, die von den berücksichtigten 160 € nicht mit abgedeckt werden, kommt es nicht an.
2. Die Frage, ob M als behindertes Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zu berücksichtigen ist, ist ebenfalls nicht entscheidungserheblich.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. § 709 der Zivilprozessordnung.