Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 27.11.2012, Az.: L 11 AS 529/12 NZB
Nichtzulassungsbeschwerde; Beschwerdewert; Bezifferung bzw. Berechenbarkeit; Unzulässigkeit von Beschwerde und Berufung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.11.2012
- Aktenzeichen
- L 11 AS 529/12 NZB
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 30599
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2012:1127.L11AS529.12NZB.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 22.03.2012 - AZ: S 17 AS 2865/11
Rechtsgrundlagen
- § 145 SGG
- § 144 SGG
- § 143 SGG
Redaktioneller Leitsatz
1. Zur Berechnung des Beschwerdewerts sind konkrete Angaben bzw. die Formulierung konkreter Klage- bzw Berufungsanträge erforderlich.
2. Fehlt es daran , ist die Nichtzulassungsbeschwerde bereits bezogen auf den Streitwert von maximal 750 Euro in § 144 Abs 1 SGG unzulässig.
3. Eine derart unzulässige Nichtzulassungsbeschwerde kann auch nicht als Berufung fortgeführt werden, weil damit zugleich wiederum wegen fehlender Kenntnis des Beschwerdewertes nicht festgestellt werden kann, dass der für die Berufungszulässigkeit erforderliche Mindestwert von 750,01 Euro umstritten ist.
Tenor:
Die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung im Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 22. März 2012 (L.) wird zurückgewiesen.
Kosten für das Beschwerdeverfahren sind nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Kläger begehren die Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 22. März 2012 (L.).
Die Kläger stehen bereits langjährig im Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Am 25. März 2011 beantragten sie die Überprüfung sämtlicher für den Bewilligungsabschnitt November 2009 bis April 2010 ergangener Bescheide gemäß § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X). Der Antrag enthielt weder eine Begründung, aus welchen Gründen die bisherige Leistungsgewährung rechtsfehlerhaft gewesen sein soll, noch einen konkreten oder ungefähren Betrag, in dessen Höhe weitere SGB II-Leistungen begehrt wurden.
Der Beklagte lehnte die beantragte Korrektur der Leistungsbewilligung für den Bewilligungszeitraum November 2009 bis April 2010 (d.h. eine Korrektur der Bescheide vom 16. Dezember 2009, 13. Januar 2010, 22. Januar 2010, 3. Februar 2010, 4. März 2010, 14. April 2010 und 12. Mai 2010) mit Bescheid vom 22. August 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2011 ab.
Hiergegen haben die Kläger am 15. Dezember 2011 beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. In der Klageschrift haben sie das Klagebegehren mit "ALG II Leistungen: 11/09 - 4/10" bezeichnet, einen konkreten Klageantrag jedoch nicht formuliert. Inhaltlich haben sie u.a. geltend gemacht, dass hinsichtlich der Unterkunfts- und Heizungskosten eine Begründung nachzuholen sei, ebenso hinsichtlich der Einkommensfreibeträge. Gleichzeitig haben sie einen weiteren Antrag nach § 44 SGB X gestellt, den der Beklagte mit Bescheid vom 20. Februar 2012 abgelehnt hat.
Das SG hat den Bescheid vom 22. August 2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 2. Dezember 2011 abgeändert. Zusätzlich hat es folgende weitere Bescheide teilweise aufgehoben: Bescheid vom 13. Januar 2010 über die endgültige Festsetzung für November 2009 (soweit eine Erstattungsforderung von mehr als 24,31 Euro festgesetzt worden ist), Bescheid vom 3. Februar 2010 über die endgültige Festsetzung für Januar 2010 (soweit eine Erstattungsforderung von mehr als 1,79 Euro festgesetzt worden ist), Bescheid vom 4. März 2010 über die endgültige Festsetzung für Februar 2010 (soweit eine Erstattungsforderung von mehr als 1,77 Euro festgesetzt worden ist) sowie Bescheid vom 12. Mai 2010 über die endgültige Festsetzung für April 2010 (soweit eine Erstattungsforderung von mehr als 4,39 Euro festgesetzt worden ist). Die weitergehende Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 22. März 2012).
Gegen das den Klägern am 25. April 2012 zugestellte Urteil richtet sich ihre am 14. Mai 2012 eingelegte, inhaltlich jedoch nicht näher begründete Nichtzulassungsbeschwerde.
Der Senat hat die Kläger um Mitteilung des Wertes des Beschwerdegegenstandes i.S.d. § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebeten. Erläuternd hat der Senat darauf hingewiesen, dass derzeit nicht nachvollzogen werden könne, ob der Wert des Beschwerdegegenstands tatsächlich unter 750,01 Euro liege, da erstinstanzlich ein ausformulierter Klageantrag nicht gestellt und zudem ein Teilerfolg erzielt worden sei. Weiterhin sind die Kläger um Mitteilung der nach ihrer Auffassung vorliegenden Zulassungsgründe i.S.d. § 144 Abs 2 SGG gebeten worden (Verfügung vom 31. Mai 2012). Diese Verfügung ist auch nach Erinnerungen vom 16. Juli 2012 und 28. August 2012 unbeantwortet geblieben.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde ist bereits unzulässig, da nicht festgestellt werden kann, dass deren Zulässigkeitsvoraussetzungen nach §§ 144, 145 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erfüllt sind.
Nach § 143 SGG findet gegen Urteile der Sozialgerichte die Berufung statt, soweit sich aus den Vorschriften des ersten Unterabschnittes des zweiten Abschnitts des SGG nichts anderes ergibt. § 144 Abs 1 SGG bestimmt hierzu, dass die Berufung der Zulassung bedarf, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 1. bei der Klage, die eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,- Euro oder 2. bei einer Erstattungsstreitigkeit zwischen juristischen Personen des öffentlichen Rechts oder Behörden 10.000,- Euro nicht übersteigt. Dies gilt nicht, wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.
Die Berufung gegen das vorliegend angefochtene, einen sechsmonatigen Bewilligungszeitraum betreffende Urteil bedarf somit nur dann der Zulassung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,- Euro nicht übersteigt.
Die Kläger haben weder im Verwaltungs- oder Widerspruchsverfahren noch im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren einen konkret oder auch nur ungefähr bezifferten Antrag gestellt. Ebenso wenig haben sie im Berufungsverfahren klargestellt, auf welchen (ungefähren) Euro-Betrag ihr Rechtsschutzinteresse gerichtet ist (vgl. zur diesbezüglichen Anfrage des Senats: Verfügung vom 31. Mai 2012 sowie Erinnerungen vom 16. Juli 2012 und 28. August 2012). Auch ansonsten enthalten die dem Senat vorliegenden Akten und Schriftsätze der Kläger keine Anhaltspunkte, aus denen darauf geschlossen werden könnte, dass erstinstanzlich lediglich Leistungen im Wert von maximal 750,- Euro streitbefangen waren.
Mangels eines entsprechenden ausdrücklich gestellten Antrags bzw. mangels einer Antwort auf die Anfrage des Senats vom 31. Mai 2012 ist auch nicht erkennbar, dass die Kläger ihr zweitinstanzliches Rechtsschutzbegehren auf eine Teilanfechtung des Urteils in Höhe eines Betrags von unter 750,01 Euro beschränkt haben. Hierzu bedürfte es einer entsprechenden ausdrücklichen, bislang jedoch nicht erfolgten Prozesserklärung. Diese Prozesserklärung müsste auch erkennen lassen, worauf sich eine etwaige Antragsbeschränkung im Rechtsmittelverfahren bezieht (nämlich entweder auf einzelne Streitgegenstände oder aber auf einen Teilbetrag des geltend gemachten Anspruchs). Schließlich kann nur bei Kenntnis des Streitgegenstandes festgestellt werden, ob ein Zulassungsgrund nach § 144 Abs 2 SGG vorliegt.
Der Umstand, dass das SG in der Rechtsmittelbelehrung des angefochtenen Urteils eine Nichtzulassungsbeschwerde als statthaft bezeichnet hat, ändert nichts an der Unzulässigkeit der Beschwerde. Die Statthaftigkeit der Beschwerde ist vom Rechtsmittelgericht zu prüfen, ohne dass eine Bindung an die Rechtsauffassung des SG besteht. Allein eine (möglicherweise unrichtige) Rechtsmittelbelehrung eröffnet keinen nach dem Gesetz nicht gegebenen Rechtsbehelf (BSG, Beschluss vom 18. Januar 1978 - 1 RA 11/77, SozR 1500 § 146 Nr 5; Beschluss des Senats vom 13. Februar 2012 - L 11 AS 1185/11 B ER; Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leither, SGG, 10. Auflage 2012, § 66 Rn 12a).
Die zum Teil als zulässig angesehene Verfahrensweise, bei einer nicht statthaften Nichtzulassungsbeschwerde die (fehlerhaft getroffene) Entscheidung des SG über die Nichtzulassung der Berufung aufzuheben und das Verfahren als Berufung fortzuführen (vgl. hierzu: Lüdtke, SGG, 4. Auflage 2012, § 145 Rn 4; Herold-Tews, Der Sozialgerichtsprozess, 6. Auflage 2012, Rn 452; ähnlich: Behn in: Peters/Sautter/Wolff, SGG, Stand: 2011, § 145 Rn 14, 18 und 59; Breitkreuz in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 1. Auflage 2009, § 145 Rn 6; anderer Ansicht: Kummer, Die Nichtzulassungsbeschwerde, 2. Auflage 2010, Rn 195, wonach die Nichtzulassungsbeschwerde mangels Beschwer unzulässig sein soll), kommt im vorliegenden Fall nicht in Betracht. Der Senat kann insoweit offen lassen, ob es hierfür eines entsprechenden ausdrücklichen, vorliegend von den anwaltlich vertretenen Klägern jedoch nicht gestellten Antrags bedarf. Denn die Fortführung einer Nichtzulassungsbeschwerde als Berufungsverfahren würde voraussetzen, dass der Senat die Statthaftigkeit der Berufung prüfen kann und im Ergebnis bejaht. Dies ist jedoch nicht möglich, da die anwaltlich vertretenen Kläger weder im erstinstanzlichen Verfahren den (ungefähren) Wert der von ihnen begehrten weiteren SGB II-Leistungen beziffert noch im zweitinstanzlichen Verfahren ihr Rechtsschutzbegehren konkretisiert haben (vgl. hierzu erneut die unbeantwortet gebliebene Anfrage des Senats vom 31. Mai 2012 nebst Erinnerungen vom 16. Juli 2012 und 28. August 2012). Nach wie vor bleibt unklar, welchen Wert das zweitinstanzliche Rechtsschutzbegehren hat. Insoweit hat bereits der 7. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen in seinem Urteil vom 10. Juli 2012 (L 7 AS 476/10) entschieden, dass die Beteiligten gehalten sind, bereits vor Abschluss der ersten Instanz sachdienliche Anträge zu stellen und substantiiert vorzutragen. Nur wenn nach dem Vorbringen im Klageverfahren ein Vergleich mit dem im Berufungsverfahren verfolgten Begehren möglich ist, kann der Beschwerdewert frei von unter Umständen nicht sachgerechtem Vorbringen der Beteiligten bestimmt werden. Da die - zulassungsfreie - Berufung unter dem Vorbehalt des Überschreitens einer Wertgrenze steht, findet sie nur in den Fällen statt, in denen die Sozialgerichte das Überschreiten feststellen können. Lässt sich eine solche Überschreitung nicht ermitteln, findet eine Berufung nicht statt. Diesen Ausführungen schließt sich der erkennende Senat an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).