Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 01.12.2022, Az.: L 4 KR 312/22

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
01.12.2022
Aktenzeichen
L 4 KR 312/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59320
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 28.06.2022 - AZ: S 10 KR 121/16

Tenor:

1. Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Juni 2022 wird aufgehoben.

2. Der Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 sowie der weitere Bescheid der Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2016 werden aufgehoben.

3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger mit den Arzneimitteln Atacand 16 mg und Norvasc 5 mg ohne Beschränkung auf den Festbetrag zu versorgen abzüglich der gesetzlichen Zuzahlungen sowie gegen Vorlage einer ärztlichen Verordnung.

4. Im Übrigen wird die Berufung des Klägers zurückgewiesen.

5. Die Beklagte hat 2/3 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Versorgung - Kostenübernahme (für die Zukunft) sowie Kostenerstattung (für die Vergangenheit) - mit/für die Arzneimittel Atacand 16 mg und Norvasc 5 mg ohne Beschränkung auf den Festbetrag gem. § 35 SGB V.

Der im Jahr 1967 geborene Kläger ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert und leidet seit Jahren unter zahlreichen Erkrankungen wie u.a. einem Zustand nach Nierentransplantation mit Begleit- bzw. Folgeerkrankungen, einem chronischen Erschöpfungssyndrom (Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatique Syndrome <ME/CFS>) sowie unter diversen Überempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Stoffen.

Der Kläger führt zahlreiche Rechtsstreite wegen der Versorgung mit verschiedenen Arzneimitteln und Behandlungen im Wege Einstweiligen Rechtsschutzes und in Hauptsache-Verfahren. Er macht dabei maßgeblich geltend, mit seiner Grunderkrankung des CFS im System der gKV nicht hinreichend versorgt zu sein. - Der erkennende Senat hat in diesem Zusammenhang betreffend den Kläger in zwei Verfahren des Einstweiligen Rechtsschutzes zusprechend entschieden und die Beklagte (und dortige Antragsgegnerin) verpflichtet, den Kläger (und dortigen Antragsteller) mit den Arzneimitteln Bio-Lipon und Vitamin D zu versorgen (vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Beschlüsse vom 29.9.2022, L 4 KR 230/22 B ER und vom 14.10.2022, L 4 KR 373/22 B ER).

Aufgrund seines Bluthochdrucks nimmt der Kläger die Medikamente Atacand 16mg und Norvasc 5 mg, deren Wirkstoffe Amlodipin (Norvasc) und Candesartan (Atacand) jeweils in einer Festbetragsgruppe enthalten sind gem. § 35 SGB V.

Am 2.1.2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Versorgung mit bzw. Erstattung von eigenen Zahlungen oberhalb des Festbetrages für die beiden genannten Arzneimittel.

Die Beklagte lehnte den Antrag – betreffend jeweils eines der beiden Medikamente - mit zwei Bescheiden vom 22.1.2015 mit der Begründung ab, dass die beiden Medikamente in eine Festbetragsgruppe fielen und deshalb keine privaten Aufzahlungen erstattet bzw. gezahlt werden könnten.

Der Kläger erhob gegen beide Bescheide Widerspruch und machte geltend, er sei infolge eines Nierenversagens mit Bluthochdruck auf die Medikamente dringend angewiesen. Er habe in Abstimmung mit Ärzten und Apotheke diverse andere Arzneimittel ausprobiert, bis er die beiden Medikamente Atacand und Norvasc als geeignet gefunden habe.

Die Beklagte ermittelte zum Sachverhalt bei dem den Kläger behandelnden Arzt Professor E.. Der Arzt teilte zu dem Medikament Norvasc mit, es enthalte den Wirkstoff Amlodipin und werde mit einer Dosis von 5 mg bei Bedarf eingesetzt. Es komme nur dieses Arzneimittel in Betracht, weil es bei dem Kläger unter Generika zu einer paradoxen Reaktion der Blutdruckerhöhung gekommen sei. Zu dem Medikament Atacand teilte Professor E. mit, es enthalte den Wirkstoff Candesartan. Der Kläger nehme täglich eine Dosis von 16 mg ein zur Blutdruckkontrolle und Nephroprotektion. Bei Alternativ–Präparaten seien Unverträglichkeitsreaktionen erfolgt.

Die Beklagte hörte den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK; ab 1.6.2021: MD), der zusammenfassend erklärte, dass noch zahlreiche andere Generika zum Festbetrag zur Verfügung stünden.

Die Beklagte erließ die Widerspruchsbescheide vom 21.1.2016 (Norvasc 5 mg) und 25.2.2016 (Atacand 16 mg), mit dem sie ausführte, dass verschiedene andere Generika mit identischer Zusammensetzung im Rahmen des Festbetrages zur Verfügung stünden. Das Vorliegen eines atypischen Falles entsprechend der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) sei den medizinischen Unterlagen nicht zu entnehmen. Damit sei eine leidensgerechte Behandlung des Klägers auch mit einem Alternativ–Präparat möglich.

Die hiergegen vom Kläger bei dem Sozialgericht (SG) Hannover am 4. Februar 2016 (Norvasc 5 mg) und am 24.3.2016 (Atacand 16 mg) erhobenen Klagen hat das SG durch Beschluss vom 6.6.2018 verbunden und zum medizinischen Sachverhalt ermittelt (MDK, Professor F.).

Das SG hat die Klage mit Urteil vom 13.6.2022 mit der Begründung abgewiesen, dass es zwar aus Sicht der Kammer – entsprechend dem Vortrag des Klägers - tatsächlich nicht zumutbar sei, dass der Kläger angesichts seiner Erkrankungen alle anderen Präparate/Generika aus der Wirkstoffklasse als Alternativen einsetze, um ein Produkt innerhalb des Festbetrages zu finden. Jedoch könne die Kammer zumindest einen ernsthaften, ärztlich begleiteten Versuch über einen therapeutisch relevanten Zeitraum hinweg von wenigstens einigen der aufgezählten Präparate nicht erkennen. Entgegen der diesbezüglichen Auffassung des Klägers sei es nicht ausreichend, dass der Kläger selbst angebe, andere Arzneimittel ausprobiert und dazu in einer Tabelle die Wirkung notiert zu haben.

Gegen das am 29.6.2022 zugestellte Urteil richtet sich die am 12.7.2022 eingelegte Berufung, mit der der Kläger sein Begehren auf Versorgung (Kostenübernahme; Kostenerstattung) weiterverfolgt.

Der Kläger beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

1. das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Juni 2022 aufzuheben,

2. die Bescheide der Beklagten vom 22. Januar 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Januar 2016 sowie des Widerspruchsbescheides vom 25. Februar 2016 aufzuheben,

3. die Beklagte zu verurteilen,

a. den Kläger abzüglich der gesetzlichen Zuzahlungen gegen Vorlage einer ärztlichen Verordnung mit den Arzneimitteln Atacand 16 mg und Norvasc ohne Beschränkung auf den Festbetrag zu versorgen,

b. die von ihm für die Beschaffung der beiden Medikamente in der Vergangenheit aufgewendeten Mehrkosten bis zur Höhe des Festbetrages zu erstatten.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Die Beklagte verteidigt die angefochtenen Bescheide als rechtmäßig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Sie haben vorgelegen und sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist gem. §§ 143 ff Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft und zulässig.

Die Berufung ist begründet, soweit der Kläger betreffend die beiden begehrten Medikamente Kostenübernahme (für die Zukunft) verlangt. Die Berufung ist unbegründet, soweit der Kläger Kostenerstattung (für die Vergangenheit) begehrt. Maßgeblich ist insoweit die massive gesundheitliche Verschlechterung, die zum Zeitpunkt des Ergehens der vorliegenden Entscheidung gegeben ist.

Für die Zukunft hat der Kläger Anspruch auf Versorgung mit den beiden Medikamenten oberhalb des Festbetrages aufgrund eines bei ihm vorliegenden atypischen Ausnahmefalles. Das Ausprobieren anderer/weiterer Medikamente aus der Festbetragsgruppe/Generika ist dem Kläger infolge seiner inzwischen schwergradigen, komplexen und weiter progredienten Erkrankungsausprägung nicht zumutbar. Die entgegenstehenden Entscheidungen sind deshalb für die Zukunft aufzuheben und die Beklagte antragsgemäß zu verpflichten.

Der Kläger kann den Anspruch auf festbetragsfreie Vollversorgung mit den begehrten Medikamenten – wie das SG zutreffend zugrunde gelegt hat – mit der Anfechtungs- und (unechten) Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 und 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG) geltend machen. Maßgeblicher Entscheidungszeitpunkt für die Sach- und Rechtslage ist damit das Ergehen dieser Entscheidung.

Rechtsgrundlage für den Anspruch auf festbetragsfreie Arzneimittelversorgung ist § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3, § 31 SGB V. Versicherte erhalten grundsätzlich die krankheitsbedingt notwendigen, nicht der Eigenverantwortung (§ 2 Abs. 1 Satz 1 SGB V) zugeordneten Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (gKV) aufgrund vertragsärztlicher Verordnung. Ist für ein Arzneimittel wirksam ein Festbetrag festgesetzt, trägt die KK grundsätzlich die Kosten bis zur Höhe dieses Betrages (§ 31 Abs. 2 Satz 1 bis 5 SGB V). Für andere Arznei- oder Verbandmittel trägt die KK dagegen regelmäßig die vollen Kosten abzüglich der vom Versicherten zu leistenden Zuzahlung (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Halbs. 2 SGB V). Ist für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt worden, erfüllt die KK ihre Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten regelmäßig mit dem Festbetrag.

Die Festbetragsregelung des § 35 SGB V ist Ausdruck des Wirtschaftlichkeitsgebot (§ 12 Abs. 1 SGB V; BSG, Urt. v. 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R, BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr. 6 = juris, jeweils Rn 13). Die Festbeträge sind so festzusetzen, dass sie im Allgemeinen eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche sowie in der Qualität gesicherte Versorgung gewährleisten, § 35 Abs. 5 Satz 1 SGB V (BSG, Urt. v. 3. Juli 2012 – B1 KR 22/11 R, BSGE 111, 146 = SozR 4-2500 § 35 Nr. 6 = juris, jeweils Rn 14).

Allein in atypischen Ausnahmefällen, in denen – trotz Gewährleistung einer ausreichenden Arzneimittelversorgung durch die Festbetragsfestsetzung im Allgemeinen – aufgrund der ungewöhnlichen Individualverhältnisse keine ausreichende Versorgung zum Festbetrag möglich ist, greift die Leistungsbeschränkung auf den Festbetrag nicht ein (BSG, aaO, Rn 16).

In solchen atypischen Ausnahmefällen ist aufgrund ungewöhnlicher Individualverhältnisse eine ausreichende Versorgung zum Festbetrag nicht mehr möglich, wenn die zum Festbetrag erhältlichen Arzneimittel unerwünschte Nebenwirkungen verursachen, die über bloße Unannehmlichkeiten oder Befindlichkeitsstörungen hinausgehen und damit die Qualität einer behandlungsbedürftigen Krankheit iSv § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V erreichen. Die Beurteilung der Verursachung richtet sich nach der im Sozialrecht maßgeblichen Theorie der wesentlichen Bedingung (BSG, aaO, Rn 17).

Im Fall des Klägers sind nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen, insbesondere nach den Ermittlungen des SG, andere als die vorliegend begehrten Medikamente Atacand 16 mg und Norvasc 5 mg von unerwünschten Nebenwirkungen begleitet, von diesen Medikamenten verursacht gewesen und ist die Austestung weiterer durch den Kläger aufgrund von dessen inzwischen schwergradiger, komplexer und progredient verlaufender Erkrankungssituation nach Überzeugung des Senats unzumutbar.

Im Einzelnen:

Nach der Rechtsprechung des BSG ist von Versicherten grundsätzlich zu verlangen, dass alle Arzneimittel bis zum Festbetrag mit demselben Wirkstoff oder alle wirkstoffgleichen Arzneimittel bis zum Festbetrag (also der betreffenden Wirkstoffgruppe) ausgetestet werden, bis sie bzw. es sei denn jeweils unerwünschte Nebenwirkungen im Sinne einer Krankheit beim Versicherten hervorrufen oder zu Verschlimmerungen einer bei ihm bestehenden Krankheit führen (BSG, Urteil vom 3. Juli 2012, B 1 KR 22/11 R) bzw. in ihrer Wirksamkeit hinter dem begehrten Arzneimittel zurück bleiben (LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 25. August 2015, L 4 KR 386/12).

Eine (gänzlich) unbegrenzte Verpflichtung des Versicherten, alle/sämtliche in Betracht kommenden Festbetragsarzneimittel einer Testung zu unterziehen, ist indes weder aufgrund des Wirtschaftlichkeitsprinzips des § 12 Abs. 1 SGB V geboten noch in Anbetracht des Art. 2 Abs. 2 Grundgesetz (GG) rechtlich zulässig. Erforderlich ist vielmehr ein begrenzendes Kriterium der Zumutbarkeit (siehe dazu auch BSG, Urteil vom 3. Juli 2012 – B 1 KR 22/11 R – juris Rn. 27 a. E.), das weitere Testungen festbetragswahrender Medikamente derselben Wirkstoffgruppe jedenfalls dann nicht mehr abverlangt, wenn die Schwere der in Rede stehenden Erkrankung, die daraus herleitbare Schwere eines Rückfalls bei Testungen unwirksamer Medikamente und/oder die Schwere der durch weitere Testungen ausgelösten bzw. auslösbaren Nebenwirkungen die Gesundheit unverhältnismäßig beeinträchtigen oder sogar das Leben des Versicherten gefährden könnte (zur Unzumutbarkeit bei nicht adäquater Wirksamkeit der Medikamente in der Testphase: LSG Niedersachsen-Bremen, siehe unten, rechtskräftig trotz Revisionszulassung; zur Unzumutbarkeit weiterer Testungen bei Schwere der Erkrankung und notwendigen längerfristigen Testphasen mit Nebenwirkungen und/oder Rückfallgefahr ebenso: SG Saarbrücken, Urteil vom 12. Dezember 2017, S 23 KR 226/16).

Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats kommt es bei der Bewertung der Zumutbarkeit der Testung weiterer Festbetrags-Arzneimittel iSv § 35 SGB V auf eine Gesamt-Abwägung und innerhalb derselben u.a. auf die Schwere und Komplexität der in Rede stehenden Erkrankung, die daraus herleitbare Schwere eines Rückfalls bei Testungen unwirksamer Medikamente und/oder die Schwere der durch weitere Testungen ausgelösten bzw. auslösbaren Nebenwirkungen auf die Gesundheit an, insbesondere dann, wenn die Testungen die Gesundheit des Probanden unverhältnismäßig beeinträchtigen oder sogar das Leben des Versicherten gefährden können (siehe etwa: LSG Nds-HB, Urt v 21.3.2018, L 4 KR 179/14, mwN). Anders sind Fälle zu beurteilen, in denen der Versicherte sich grundsätzlich weigert, Generika auszutesten (LSG Nds-HB, Urt v 24.8.2018, L 4 KR 76/15 mwN), oder einen erheblichen Teil verfügbarer Generika nicht (mehr) testen will, ohne dass greifbare Anhaltspunkte eines schädlichen Verlaufs bestehen (LSG Nds-HB, Urt v 13.2.2020, L 4 KR 672/16 und Urt v 31.3.2020, L 4 KR 320/17, jeweils mwN).

Im vorliegenden Fall ist eine irgendwie geartete „Verweigerungshaltung“ des Klägers zur Austestung neuer Arzneimittel/Generika nach Aktenlage nicht ersichtlich und auch zu Recht von der Beklagten nicht geltend gemacht worden.

Daneben ist die gesundheitliche Situation des Klägers inzwischen schwergradig beeinträchtigt, komplex und weiter progredient verlaufend, insbesondere aufgrund des Zustands nach Nieren-Transplantation (2005, mit Abstoßungsreaktionen) sowie mit zahlreichen Co-Morbiditäten.

Im Einzelnen sind bei dem Kläger diagnostisch u.a. gesichert:

- Zustand nach Nierentransplantation,

- Zustand nach mittelschwerer Abstoßreaktion (Juli 2005),

- chronische Glumerolonephritis,

- infektbedingtes akutes Nierenversagen (2018),

- pAVK,

- Verdacht auf ein Alport-Syndrom,

- Hypertonus,

- Tinnitus,

- allergisches Asthma,

- chronisches Erschöpfungssyndrom (Myalgic Encephalomyelitis/Chronic Fatique Syndrome <ME/CFS>),

- Histaminüberempfindlichkeit.

Es besteht inzwischen ein GdB von 100, der Kläger erhält eine Erwerbsminderungsrente und ergänzend SGB XII-Leistungen.

Das Erkrankungsbild des Klägers ist progredient: inzwischen – seit dem 1.12.2021 - ist dem Kläger der Pflegegrad 3 zuerkannt, laut dem zugrundeliegenden Pflegegutachten vom 12.6.2022 benötigt der Versicherte nunmehr u.a. eine umfassende und individuelle Beratung bei der Auswahl und Inanspruchnahme von Sozialleistungen, ebenso inzwischen erfolgte die Zuerkennung des Merkzeichens aG, in der Ärztlichen Verordnung des Allgemeinmediziners Dr. G. (H.) vom 17.6.2022 wird ein Leichtkraftrollstuhl rezeptiert, bei Angabe der Diagnosen Osteoporose, Gangstörung, Z.n. Nierentransplantation.

Daneben ergeben sich aus dem Akteninhalt erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die behandelnden Ärzte aufgrund der nach Jahren im Moment erreichten relativen Stabilität der Erkrankungssituation des Klägers eine Umstellung/Austestung betreffend anderer Medikationen nicht von sich aus vornehmen, um diese Stabilität nicht zu gefährden:

Nach der Aussage des vom SG im Erörterungstermin vernommenen Arztes Dr. I. besteht bei Versicherten – wie dem Kläger - mit Alportsyndrom nach Nierentransplantation zum einen ein generell hoher Umfang notwendiger medikamentöser Versorgung und zum anderen das Problem von Blutdruckschwankungen, die medikamentös eingestellt werden müssen. Nach der vom SG eingeholten Auskunft des Prof. Dr. E. habe der Kläger allein deshalb nicht alle vom MD aufgezählten Alternativen versucht, weil der Kläger bereits frühzeitig Unverträglichkeiten bei anderen Medikamenten als dem hier begehrten Atacand aufgewiesen habe. Nach dem vom SG veranlassten Gutachten des Dr. J. sei ein Umstellen der Medikation auf ein Generikum bei dem Kläger angesichts der stabilen Einstellung des Blutdrucks sowie der guten Verträglichkeit der hier begehrten Medikamente nicht indiziert.

Der erkennende Senat bewertet diese medizinisch komplexe Situation rechtlich als Unzumutbarkeit weiterer Testungen iSv § 35 SGB V.

Damit ist die Beklagte zur künftigen Versorgung mit den beiden begehrten Medikamenten unter Beachtung der gesetzlichen Vorschriften (Vorliegen einer ärztlichen Verordnung; Zuzahlung des Klägers) zu verurteilen.

Die Berufung des Klägers hat damit im Sinne der Kostenübernahme Erfolg.

Die Berufung des Klägers zur Kostenerstattung bleibt erfolglos, weil in der Vergangenheit die Schwere und Komplexität der Erkrankung des Klägers (noch) nicht die Annahme einer (rechtlichen) Unzumutbarkeit begründet haben. So blieben die früheren Entscheidungen des Senats, denselben Kläger betreffend, aus den Jahren 2020 für den Kläger erfolglos, in denen der Schweregrad der Erkrankung noch keine zusprechende Entscheidung zu rechtfertigen vermochte (LSG, Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 19. August 2020, L 4 KR 161/20; Urteil vom 19. August 2020, L 4 KR 482/19; Urteil vom 19. August 2020, L 4 KR 470/19). Erst jüngste Entscheidungen im Einstweiligen Rechtsschutz betreffend den Kläger (als Antragsteller) führten zu Verpflichtungen der Beklagten (als Antragsgegnerin) (Versorgung mit den OTC–Arzneimitteln Bio–Lipon und Vitamin D in den Beschlüssen des LSG Niedersachsen–Bremen vom 14. Oktober 2022, L 4 KR 230/22 B ER, und vom 29. September 2022, L 4 KR 373/22 B ER).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und berücksichtigt, dass der Schwerpunkt des Begehrens des Klägers in der Versorgung für die Zukunft liegt, wofür eine Kostenbelastung der Beklagten mit 2/3 angemessen erscheint.

Gründe, die Revision zuzulassen gem. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG sind nicht ersichtlich.