Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 22.12.2022, Az.: L 2 BA 49/22 B ER

Branchenübliche Schätzwerte; Eigenwerber; Künstlersozialabgabe; Schätzung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
22.12.2022
Aktenzeichen
L 2 BA 49/22 B ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59463
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG - 29.08.2022 - AZ: S 34 BA 32/22 ER

Fundstellen

  • DStR 2023, 1952
  • ZfSH/SGB 2023, 126-127 (Pressemitteilung)

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Auch eine behördliche Schätzung der Höhe nachzuerhebender Künstlersozialabgaben muss sich auf sorgfältig ermittelte Tatsachen gründen und inhaltlich
nachvollziehbar auf die Erfassung des im jeweiligen Einzelfall geschuldeten Abgabenbetrages ausgerichtet sein.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 29. August 2022 aufgehoben.

Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragstellerin S 34 BA 21/22 wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens aus beiden Rechtszügen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.098,38 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die in der Rechtsform einer GmbH geführte Antragstellerin betreibt eine kleine Schokoladenmanufaktur (Umsatzerlöse im Jahr 2017 ausweislich des vorgelegten Jahresabschlusses knapp 120.000 €). Im vorliegenden Verfahren begehrt sie vorläufigen Rechtsschutz hinsichtlich einer Nachforderung von Künstlersozialabgaben.

Auf der Grundlage einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV hat die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 14. Dezember 2021 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12. April 2022 der Antragstellerin die Nachentrichtung von Beiträgen zur Künstlersozialversicherung für die Jahre 2016 bis 2020 in einer Gesamthöhe von 4.196,76 € aufgegeben. Dabei ließ sich die Antragsgegnerin von der Einschätzung leiten, dass die Antragstellerin nicht nur das von ihr für das Jahr 2016 gemeldete beitragspflichtige Entgelt in Höhe von 1.870 € für abgabenpflichtige Leistungen, sondern in jedem der fünf streitbetroffenen Beitragsnacherhebungsjahre ein auf 19.000 € geschätztes beitragspflichtiges Entgelt aufgewandt habe.

Mit der am 10. Mai 2022 erhobenen Klage (S 34 BA 21/22) macht die Antragstellerin demgegenüber geltend, dass sie entsprechend ihrer Meldung gegenüber der Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 (Bl. 6 GA S 34 BA 21/22) lediglich folgende Beträge an Künstler, Designer, Musiker, Publizisten oder Werbedesigner aufgewandt habe: 2016 1.870 €, 2017 203 €, 2018 225 €, 2019 90 € und 2020 50 € (vgl. auch die von der Antragstellerin vorgelegten Rechnungen Bl. 39 ff. S 34 BA 21/22).

Mit Antrag vom 10. Mai 2022 hat die Antragstellerin ferner um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Diesen Antrag hat das Sozialgericht mit Beschluss vom 29. August 2022, der Antragstellerin zugestellt am 30. August 2022, abgelehnt. Der Vortrag der Antragstellerin stehe im Widerspruch zu ihrem Vortrag in dem weiteren Verfahren S 34 BA 31/22 ER (welches allerdings nicht die eigene geschäftliche Tätigkeit der Antragstellerin im Prüfzeitraum, sondern diejenige des von Antragstellerin übernommenen Unternehmens G. zum Gegenstand hat). Zudem sei eine unbillige Härte nicht belegt worden.

Mit ihrer Beschwerde vom 5. Oktober 2022 rügt die Antragstellerin, dass das Sozialgericht verkannt habe, dass im Verfahren S 34 BA 31/22 ER die Abgabenschulden des von ihr übernommenen Unternehmens G. zu prüfen seien, wohingegen im vorliegenden Verfahren der an ihre eigene unternehmerische Tätigkeit anknüpfende Beitragsnacherhebungsbescheid der Antragsgegnerin den Streitgegenstand bilde.

Die Schätzung der Antragsgegnerin sei realitätsfern. Ein Vollzug der streitbetroffenen Abgabenforderung bedrohe ihre wirtschaftliche Existenz, zumal sie von den Pandemieauswirkungen wirtschaftlich stark betroffen sei.

Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,

den Beschluss des Sozialgerichts vom 29. August 2022 aufzuheben und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage S 34 BA 21/22 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und auf den Inhalt der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist begründet.

Im vorliegenden Fall ist in Anwendung von § 86b Abs. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage gegen den auf der Grundlage einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV von der Antragsgegnerin erlassenen Abgabennachforderungsbescheid anzuordnen. Im Rahmen der gebotenen Abwägung der wechselseitigen Interessen sind im vorliegenden Fall die im Grundsatz vom Gesetzgeber mit der Regelung in § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG als vorzugswürdig eingestuften Interessen der Künstlersozialkasse an der alsbaldigen Durchsetzung ihrer (von der Antragsgegnerin festgesetzten) Abgabenforderungen als nachrangig gegenüber den Interessen der Antragstellerin an einer vorläufigen Verschonung von der Erfüllung der festgesetzten Nachforderung zu werten. Davon unberührt bleibt die Verpflichtung der Antragstellerin, den sich aus ihrer eigenen Meldung zur Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 ergebenden Abgabepflichten zu entsprechen, soweit die von der Meldung erfassten Aufträge an selbständige Künstler mehr als nur gelegentlich erteilt worden sind.

Da § 86a Abs. 2 Nr. 1 SGG das Vollzugsrisiko bei Abgabenbescheiden grundsätzlich auf den Adressaten verlagert, können nur solche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides ein überwiegendes Aufschubinteresse begründen, die einen Erfolg des Rechtsbehelfs, hier der Anfechtungsklage, zumindest überwiegend wahrscheinlich erscheinen lassen. Maßgebend ist im Ausgangspunkt, ob nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung mehr für als gegen die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides spricht (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 07. Januar 2011 – L 8 R 864/10 B ER –, NZS 2011, 906). Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen. Es bestehen durchgreifende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides.

Gemäß § 24 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über die Sozialversicherung der selbständigen Künstler und Publizisten (Künstlersozialversicherungsgesetz – KSVG –) sind (neben den im Katalog des § 24 Abs. 1 Satz 1 KSVG aufgeführten Unternehmen) zur Künstlersozialabgabe auch Unternehmer (sog. „Eigenwerber“, vgl. zu diesem Begriff: BSG, Urteil vom 1. Juni 2022 – B 3 KS 3/21 R –, BSGE [vorgesehen], Rn. 12) verpflichtet, die für Zwecke ihres eigenen Unternehmens Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit betreiben und dabei nicht nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler oder Publizisten erteilen. Entsprechendes gilt nach § 24 Abs. 2 Satz 1 KSVG für Unternehmen, die nicht nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler oder Publizisten erteilen, um deren Werke oder Leistungen für Zwecke ihres Unternehmens zu nutzen, wenn im Zusammenhang mit dieser Nutzung Einnahmen erzielt werden sollen.

Aufträge werden nur gelegentlich an selbständige Künstler oder Publizisten im Sinne von § 24 Absatz 1 Satz 2 oder Absatz 2 Satz 1 KSVG erteilt, wenn (Abs. 3 Satz 1) die Summe der Entgelte nach § 25 aus den in einem Kalenderjahr nach Absatz 1 Satz 2 oder Absatz 2 Satz 1 erteilten Aufträgen 450 Euro nicht übersteigt.

Bemessungsgrundlage der Künstlersozialabgabe sind gemäß § 25 Abs. 1 KSVG die Entgelte für künstlerische oder publizistische Werke oder Leistungen, die ein nach § 24 Abs. 1 oder 2 zur Abgabe Verpflichteter im Rahmen der dort aufgeführten Tätigkeiten im Laufe eines Kalenderjahres an selbständige Künstler oder Publizisten zahlt, auch wenn diese selbst nach diesem Gesetz nicht versicherungspflichtig sind. Bemessungsgrundlage sind auch die Entgelte, die ein nicht abgabepflichtiger Dritter für künstlerische oder publizistische Werke oder Leistungen zahlt, die für einen zur Abgabe Verpflichteten erbracht werden.

In diese Bemessungsgrundlage sind nur Entgelte einzubeziehen, welche tatsächlich an "selbstständige Künstler" gezahlt worden sind. Damit erfasst sind nur natürliche Personen als Einzelpersonen oder als Mitglieder einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR). Sind die Unteraufträge hingegen an eine GmbH oder sonstige juristische Person, an eine OHG oder eine KG ergangen, fehlt es an der Leistungserbringung durch einen "selbstständigen Künstler" und damit auch an einer Zahlung an eine solche Person (BSG, Urteil vom 25. Februar 2015 – B 3 KS 5/13 R –, SozR 4-5425 § 24 Nr 15, Rn. 20 mwN).

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 KSVG hat der zur Abgabe Verpflichtete nach Ablauf eines Kalenderjahres, spätestens bis zum 31. März des Folgejahres, der Künstlersozialkasse die Summe der sich nach § 25 KSVG ergebenden Beträge zu melden. Soweit (Satz 3) der zur Abgabe Verpflichtete trotz Aufforderung die Meldung nicht, nicht rechtzeitig, falsch oder unvollständig erstattet, nehmen die Künstlersozialkasse oder, sofern die Aufforderung durch die Träger der Rentenversicherung erfolgte, diese eine Schätzung vor. Satz 3 gilt entsprechend (Satz 4), soweit die Künstlersozialkasse bei einer Prüfung auf Grund des § 35 KSVG oder die Träger der Rentenversicherung bei einer Prüfung auf Grund des § 28p SGB IV die Höhe der sich nach § 25 KSVG ergebenden Beträge nicht oder nicht in angemessener Zeit ermitteln können, insbesondere, weil die Aufzeichnungspflichten nach § 28 KSVG nicht ordnungsgemäß erfüllt worden sind.

Nach Maßgabe der vorstehend erläuterten gesetzlichen Vorgaben ist im Rahmen der im vorliegenden Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage nichts dafür erkennbar, dass die Antragsgegnerin die Antragstellerin zutreffend zur Entrichtung von Abgaben in Höhe von insgesamt 4.196,76 € bezogen auf den Prüfzeitraum 2016 bis 2020 herangezogen hat.

Es ist insbesondere nichts dafür auszumachen, dass die Antragstellerin tatsächlich in den einzelnen Jahren des Nacherhebungszeitraums von 2016 bis 2020 Aufträge an selbständige Künstler im Sinne der erläuterten Vorgaben des § 25 KSVG mit einem jährlichen Entgeltvolumen von 19.000 € erteilt haben könnte, wie dies die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung angenommen hat.

1. Die zur Abgabe Verpflichteten haben nach § 7 KSVG-Beitragsüberwachungsverordnung bei der Prüfung auf Verlangen (Nr. 1) die Aufzeichnungen nach § 28 KSVG sowie alle ihnen zugrundeliegenden Unterlagen, (Nr. 2) die Verträge, die über künstlerische oder publizistische Werke oder Leistungen abgeschlossen worden sind, (Nr. 3) alle zum Rechnungswesen gehörenden Geschäftsbücher und sonstigen Unterlagen, die Eintragungen enthalten oder enthalten können über (a) die Vertragsbeziehungen, die zur Inanspruchnahme von künstlerischen oder publizistischen Werken oder Leistungen geführt haben, (b) die dafür gezahlten Entgelte, (Nr. 4) die Meldungen nach § 28a Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und 2, Abs. 2 und 9 SGB IV sowie die Entgeltunterlagen nach § 8 der Beitragsverfahrensverordnung, (Nr. 5) Auszüge aus den Prüfberichten der Finanzbehörden und die Prüfungsmitteilungen der Versicherungsträger, vorzulegen, soweit die Vorlage für die Feststellung der Abgabepflicht, der Höhe der Künstlersozialabgabe, der Versicherungspflicht oder der Höhe der Beiträge oder Beitragszuschüsse erforderlich ist.

Inwieweit die Antragstellerin diesen Anforderungen vollinhaltlich entsprochen hat, vermag der Senat nicht abschließend zu beurteilen. Soweit die Antragsgegnerin im Anhörungsschreiben vom 25. November 2021 auf „mehrere Versuche“ abstellt, bei der Antragstellerin „eine Prüfung durch Übersendung der Unterlagen durchzuführen“, erschließt sich der Sachverhalt schon angesichts der Unvollständigkeit der insoweit nicht ordnungsgemäß geführten Verwaltungsvorgänge nur unzureichend. Die in Bezug genommenen „Versuche“ wären natürlich bereits im Rahmen der Verwaltungsvorgänge zu dokumentieren gewesen, stattdessen beginnen diese erst mit dem Anhörungsschreiben vom 25. November 2021.

Auch in diesem Anhörungsschreiben wird die Antragstellerin lediglich pauschal noch einmal „zur Übersendung der entsprechenden Unterlagen“ aufgefordert, ohne dass näher und für die Antragstellerin inhaltlich nachvollziehbar dargetan würde, was konkret von ihrer Seite aus Sicht der Antragsgegnerin noch vorzulegen war.

2. Soweit der zur Abgabe Verpflichtete trotz Aufforderung die Meldung nicht, nicht rechtzeitig, falsch oder unvollständig erstattet, nehmen die Künstlersozialkasse oder, sofern die Aufforderung durch die Träger der Rentenversicherung erfolgte, diese eine Schätzung vor (§ 27 Abs. 1 Satz 3 SGB IV).

Die Antragstellerin hat am 31. Mai 2021 die geforderte Meldung gegenüber der Künstlersozialkasse (wenn auch verspätet) abgegeben; auch von Seiten der Antragsgegnerin wird eine inhaltliche Unrichtigkeit dieser Erklärung nicht konkret aufgezeigt.

3. Bezogen auf das Jahr 2016 wird auch von Seiten der Antragstellerin ihre Verpflichtung zur Abführung der Künstlersozialabgabe in Bezug auf die in ihrer Meldung gegenüber der Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 angegebenen Aufwendungen nicht in Abrede gestellt.

Im Hinblick auf die nachfolgenden Jahre des Nacherhebungszeitraums von 2017 bis 2020 wird schon dem Grunde nach einer Beitragspflicht der Antragstellerin weder von Seiten der Antragsgegnerin nachvollziehbar aufgezeigt noch sind dafür anderweitig Anhaltspunkte erkennbar. In ihrer Meldung gegenüber der Künstlersozialkasse vom 31. Mai 2021 hat die Antragstellerin im Einzelnen ihre Aufwendungen an selbständige Künstler und Publizisten mit Jahresgesamtbeträgen von 50 € bis 225 € aufgeführt; mit diesen Beträgen hat sie den Rahmen einer nur gelegentlichen und damit nicht künstlersozialabgabenpflichtigen Auftragserteilung im Sinne von § 24 Abs. 3 Satz 1 KSVG nicht überschritten. Auch von Seiten der Antragsgegnerin werden keine Erkenntnisse für eine darüberhinausgehende Heranziehung selbständiger Künstler und Publizisten durch die Antragstellerin aufgezeigt.

Damit ist bezogen auf die Jahre 2017 bis 2020 auch von Seiten der Antragsgegnerin nicht einmal nachvollziehbar dargetan worden, dass die Antragstellerin überhaupt zu dem Kreis der sog. „Eigenwerber“ zählte. Dies hätte nach der angesprochenen vom BSG (U.v. 1. Juni 2022 – B 3 KS 3/21 R – aaO, Rn. 12) vertretenen Definition dieses Begriffs zur Voraussetzung, dass die Antragstellerin in den betroffenen Jahren mehr als nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler oder Publizisten erteilt hat.

4. Selbst, wenn (in Bezug auf die Höhe einer dem Grunde nach geschuldeten Abgabenpflicht) eine Schätzungsbefugnis der Antragsgegnerin anzunehmen sein sollte, vermag die im vorliegenden Fall von der Antragsgegnerin vorgenommene „Schätzung“ in keiner Weise den rechtlichen Anforderungen zu genügen.

Schätzungen müssen eine realistische Grundlage haben sowie in sich schlüssig und wirtschaftlich nachvollziehbar sein (BSG, Urteil vom 3. Dezember 2015 – B 4 AS 47/14 R –, SozR 4-4200 § 22 Nr 87, Rn. 21). Sie sind so exakt vorzunehmen, wie dies bei noch verhältnismäßigem Verwaltungsaufwand möglich ist, dabei müssen sie auf sorgfältig ermittelten Tatsachen gründen und nachvollziehbar sein, weil sie insbesondere nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen (BSG, Urteil vom 4. September 2018 – B 12 R 4/17 R –, BSGE 126, 226, Rn. 23 mwN).

Bei der erforderlichen Abwägung sind auch die Interessen des Abgabeschuldners an einer Vermeidung überobligatorischer Abgabelasten angemessen zu berücksichtigen (BSG, Urteil vom 27. April 2021 – B 12 R 18/19 R –, SozR 4-7815 § 10 Nr 4 (vorgesehen), Rn. 39). Es dürfen nur solche Schätzungsmethoden herangezogen werden, die geeignet sind, ein vernünftiges und der Wirklichkeit entsprechendes Ergebnis zu erzielen (BFH, Beschluss vom 13. September 2016 – X B 146/15 –, Rn. 16, BFH/NV 2016, 1747 und juris).

Schätzungen sind hingegen rechtsfehlerhaft, wenn die Schätzungsgrundlagen nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen, in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt worden sind. Entsprechendes gilt, soweit die Schätzung selbst auf falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (BSG, Urteil vom 14. Juli 1988 – 11/7 RAr 41/87 –, SozR 4100 § 115 Nr 2, Rn. 25).

Soweit Schätzungsergebnisse nicht einmal mehr die rechtlich gebotene Orientierung an den „wahrscheinlichen“ Bemessungsgrundlagen zum Ausdruck bringen, sondern eine bewusst zum Nachteil des Abgabepflichtigen vorgenommene „Schätzung“ anzunehmen ist, kann dies sogar Nichtigkeit des auf ihr beruhenden Verwaltungsakts zur Folge haben (BFH, Urteil vom 15. Juli 2014 – X R 42/12 –, Rn. 21, juris).

In der Sache bringt das Vorgehen der Antragsgegnerin gar nicht eine Schätzung im herkömmlichen Sinne zum Ausdruck; noch weniger genügt es den vorstehend erläuterten rechtlichen Anforderungen. Es lässt nicht einmal eine gedankliche Ausrichtung an diesen rechtlichen Vorgaben erkennen.

Die Antragstellerin hat sich gar nicht mit den konkreten betrieblichen Grundlagen und dem Ausmaß einer Heranziehung selbständiger Künstler im Sinne des KSVG auf Seiten der Antragstellerin auseinandergesetzt.

Stattdessen hat sich die Antragsgegnerin an einem von der Künstlersozialkasse erarbeiteten Arbeitspapier „Schätzung nach Branchendurchschnitt“ (Bl. 60 GA) orientiert, welches eine Tabelle mit sog. „branchenüblichen Schätzwerten“ auflistet. Auch auf Nachfrage des Senates vermochte die Antragsgegnerin nichts inhaltlich nachvollziehbar dazu vorzutragen, wie im Einzelnen die Werte in dieser Tabelle zustande gekommen sein sollen. Dabei trägt die Antragsgegnerin im Rahmen der von ihr durchgeführten Betriebsprüfungen uneingeschränkt selbst die Verantwortung für die Rechtmäßigkeit der von ihr erlassenen Bescheide.

Schon der von der Antragsgegnerin herangezogene Begriff „branchenüblicher Schätzwerte“ ist bezogen auf den vorliegenden Zusammenhang irreführend. In der von der Antragsgegnerin herangezogenen Tabelle mit sog. „branchenüblichen Schätzwerten“ bei abgabeverpflichteten Unternehmen im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 1 KSVG wird hinsichtlich der sog. Eigenwerbung gar nicht näher nach einzelnen „Branchen“ unterschieden; es wird vielmehr gleichmäßig branchenübergreifend für alle „Eigenwerber“ ein Betrag von 19.000 € aufgeführt. Dessen tatsächliche Grundlage ist überhaupt nicht nachvollziehbar, wobei überdies bezogen auf die Jahre 2017 bis 2020 auch von Seiten der Antragsgegnerin nicht einmal nachvollziehbar aufgezeigt worden ist, dass die Antragstellerin überhaupt zum Kreis der sog. „Eigenwerber“ im Sinne der erläuterten Rechtsprechung des BSG zählte.

Auch im Rahmen von Schätzungen ist es völlig sachwidrig, unabhängig von der Unternehmensausrichtung und –größe einen pauschalen Jahreswert für alle „Eigenwerber“ annehmen zu wollen. Auch soweit ein Unternehmer überhaupt zumindest einen selbständigen Künstler oder Publizisten im erläuterten Sinne beauftragt hat, können die damit verbundenen Aufwendungen auch sich auf nur 50 € im Jahr, bei großen Unternehmen mit einem großen Volumen entsprechender Aufträge aber durchaus auch auf mehrere 10.000 €, mitunter wohl auch auf mehrere 100.000 €, belaufen. Erst eine konkrete Erfassung und Bewertung des maßgeblichen Lebenssachverhalts kann die unerlässliche Grundlage für eine inhaltlich nachvollziehbare Schätzung des im Einzelfall geschuldeten Abgabenbetrages bilden.

Im Ergebnis räumt auch die Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 8. November 2022 ein, dass der von ihr angeführte „Schätzwert“ keinen konkreten Bezug zu dem – nach den erläuterten rechtlichen Vorgaben gerade ausschlaggebenden – realen Lebenssachverhalt bei den jeweils in Betracht kommenden Abgabenschuldnern aufweist. Sie räumt selbst ein, dass ihre sog. „Schätzung“ „nicht differenziert“ habe. Ihr Hinweis auf dafür maßgebliche „Gründe der Vereinfachung“ bringt inhaltlich letztlich nur zum Ausdruck, dass sich die Antragsgegnerin sehenden Auges über die erläuterten rechtsstaatlichen Vorgaben hinweggesetzt hat.

Bezogen auf den vorliegend zu beurteilenden Fall kann gemessen an dem geringen Umsatz der Antragstellerin eine Annahme jährlichen Aufwendungen für selbständige Künstler in Höhe von 19.000 € (dies würde etwa im Jahr 2017 ca. ein Sechstel der Umsatzerlöse ausmachen) nur als völlig realitätsfern beurteilt werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2, 52 Abs. 1 GKG. Angesichts der bei wirtschaftlicher Betrachtung erheblichen Relevanz des vorliegend angestrebten vorläufigen Rechtsschutzes erscheint es angemessen, die Höhe des Streitwertes mit der Hälfte der streitbetroffenen Forderungen in Ansatz zu bringen (vgl. auch Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 18. Februar 2014 – L 1 KR 361/13 B ER –, juris; Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 12. November 2013 – L 4 KR 383/13 B ER –, juris).

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).