Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 26.05.2020, Az.: L 11 AS 239/18

Aufhebung und Erstattung von Leistungen nach dem SGB II; Berücksichtigung tatsächlich erzielten Einkommens; Jahresfrist für einen Aufhebungsbescheid und Erstattungsbescheid

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
26.05.2020
Aktenzeichen
L 11 AS 239/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 47793
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hannover - 13.02.2018 - AZ: S 7 AS 2927/15

Redaktioneller Leitsatz

Die Jahresfrist nach §§ 45 Abs. 4, 48 Abs. 4 SGB X gilt nur für einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, nicht für einen diesen teilweise abändernden Widerspruchsbescheid.

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Februar 2018 wird aufgehoben. Die Klage gegen den Bescheid des Beklagten vom 14. März 2013 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014 sowie des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2015 wird abgewiesen. Kosten sind für das erst- und zweitinstanzliche Gerichtsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die teilweise Aufhebung der dem Kläger für die Zeit vom 1. September 2012 bis 31. März 2013 gewährten Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) sowie um eine vom Beklagten insoweit geltend gemachte Erstattungsforderung iHv 1.894,13 Euro.

Der 1992 geborene Kläger stand im streitbefangenen Zeitraum gemeinsam mit seinem Vater im laufenden Bezug von SGB II-Leistungen während seine Mutter Leistungen nach dem SGB XII bezog. Die Leistungsbewilligung für den Kläger und seinen Vater erfolgte für den Monat September 2012 auf der Grundlage des Bewilligungsbescheides vom 16. Februar 2012 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 13. September 2012. Für die Zeit ab Oktober 2012 erließ der Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 13. September 2012 sowie den Dynamisierungsbescheid vom 24. November 2012 (Umsetzung der gesetzlichen Erhöhung der Regelbedarfe nach § 20 SGB II mit Wirkung ab 1. Januar 2013). Erwerbseinkommen des Klägers wurde bei diesen Leistungsbewilligungen nicht berücksichtigt. Insoweit hatte der Vater des Klägers in seinem auch mit Wirkung für den Kläger gestellten Antrag vom 14. August 2012 über Kindergeld hinausgehendes Einkommen (auch Arbeitsentgelt) ausdrücklich verneint. Für die im vorliegenden Verfahren streitbefangenen Monate erhielt der Kläger aufgrund der og Bescheide folgende SGB II-Leistungen:

September 2012: 333,41 Euro

Oktober 2012: 285,62 Euro

November und Dezember 2012: 340,41 Euro pro Monat

Januar bis März 2013: 347,41 Euro pro Monat

Auf eine Aufforderung zur Mitwirkung vom 5. März 2013 legte der Kläger am 12. März 2013 Verdienstabrechnungen seiner im August 2012 begonnenen Berufsausbildung zum Einzelhandelskaufmann für die Monate August 2012 bis Februar 2013 vor. Die Ausbildungsvergütung, die jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurde, betrug zwischen 550,00 und 576,64 Euro brutto = 437,39 bis 458,58 Euro netto pro Monat (vgl im Einzelnen: Bl 766ff der Verwaltungsakte - VA -). Von den Nettobeträgen wurden zusätzlich monatlich 12,78 Euro für Berufskleidung abgezogen.

Aufgrund dieser erst nachträglich bekannt gewordenen Ausbildungsvergütung hob der Beklagte ohne vorherige Anhörung die Leistungsgewährung für die Monate September 2012 bis März 2013 in Höhe eines Teilbetrags von 2.233,58 Euro auf (davon Regelleistung: 1.344,56 Euro; Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung - KdUH -: 889,02 Euro) und forderte vom Kläger die Erstattung dieses Betrags. Eine weitere Aufgliederung des Aufhebungs- und Erstattungsbetrags, insbesondere hinsichtlich der einzelnen Monate des Aufhebungszeitraums erfolgte nicht (vgl im Einzelnen: Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013).

Auf den vom Kläger am 19. April 2013 eingelegten Widerspruch berücksichtigte der Beklagte weitere Freibeträge vom Einkommen (Kfz-Haftpflichtversicherung, Fahrtkosten sowie Aufwendungen für Arbeitskleidung) und erhöhte die dem Kläger gewährten Leistungen entsprechend (vgl im Einzelnen: Änderungsbescheide vom 7. Oktober 2013 und 17. Juli 2014 - jeweils für die Monate Januar bis März 2013).

Im weiteren Zeitablauf erließ der Beklagte unter dem 18. Juli 2014 einen "Änderungsbescheid zum Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2014", mit dem er den Aufhebungs- und Erstattungsbetrag auf 1.894,13 Euro reduzierte. Dieser Bescheid enthielt erstmals eine Zuordnung des Erstattungsbetrags zu den einzelnen von der Teilaufhebung betroffenen Monaten und zwar jeweils unter Angabe des monatlichen Gesamtbetrags sowie der monatlich auf die Regelbedarfsleistungen bzw die KdUH-Leistungen entfallenden Teilbeträge. Zur Begründung verwies der Beklagte wiederum auf die erst nachträglich bekannt gewordene Ausbildungsvergütung. Diese sei gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X (Verletzung der Mitteilungspflicht) bzw § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X (Erzielung von Einkommen, welches zur Minderung des Anspruchs führt) nachträglich als Einkommen zu berücksichtigen. Wegen der Berechnung der dem Kläger im streitbefangenen Zeitraum tatsächlich zustehenden Leistungen verwies der Beklagte auf die dem Bescheid als Anlage beigefügten Horizontalübersichten (für die Monate September bis Dezember 2012, Bl 1047ff VA) bzw den Änderungsbescheid vom 17. Juli 2014 (für die Monate Januar bis März 2013, Bl 1066ff VA), aus denen sich folgende monatliche Leistungsbeträge ergaben (im nachfolgenden Widerspruchsbescheid als "Anspruch neu" bezeichnet):

September 2012: 59,45 Euro

Oktober 2012: 31,84 Euro

November 2012: 86,63 Euro

Dezember 2012: 63,37 Euro

Januar 2013: 77,68 Euro

Februar 2013: 68,04 Euro

März 2013: 60,64 Euro

Den über den Änderungsbescheid hinausgehenden Widerspruch wies der Beklagte "nach Erlass des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014" zurück (Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2015).

Mit seiner am 9. Juni 2015 beim Sozialgericht (SG) Hildesheim erhobenen und mit Beschluss vom 29. Juli 2015 an das SG Hannover verwiesenen Klage hat der Kläger geltend gemacht, dass der Beklagte nicht sämtliche Leistungsbescheide aus dem streitbefangenen Zeitraum aufgehoben habe. Die Bescheide vom 16. Februar 2012 und 24. November 2012 seien weiterhin wirksam. Deren Aufhebung sei nach Ablauf der Jahresfrist nach § 45 Abs 4 SGB X auch nicht mehr möglich. Zudem könne die Aufhebung des Bescheids vom 24. November 2012 nicht - wie vom Beklagten angegeben - auf § 48 SGB X, sondern allenfalls auf § 45 SGB X gestützt werden. Damit seien auch die Voraussetzungen des § 50 SGB X nicht erfüllt.

Das SG hat der Klage stattgegeben und den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 14. März 2013 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014 sowie des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2015 aufgehoben. Auch wenn das Unterlassen einer vorherigen Anhörung im Ergebnis unschädlich sei (vgl Seite 3 und 4 des Urteils), fehle es dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 an der erforderlichen Bestimmtheit (§ 33 SGB X). Aus der pauschalen Teilaufhebung der Leistungsbewilligung für die Monate September 2012 bis März 2013 in Höhe eines Gesamtbetrags von 2.233,58 Euro habe der Kläger nicht entnehmen können, in welchem Umfang die Bewilligung für die einzelnen Monate nach erfolgter Teilaufhebung noch Bestand haben sollte. Zwar sei die mangelnde Bestimmtheit durch den im Laufe des Widerspruchsverfahrens erlassenen Teilabhilfebescheid vom 18. Juli 2014 geheilt worden. Allerdings sei dies erst nach Ablauf der für eine Aufhebung bzw Rücknahme geltenden Jahresfrist erfolgt (§§ 45 Abs 4 Satz 2, § 48 Abs 4 SGB X). Schließlich habe der Beklagte vom Zufluss der Ausbildungsvergütung bereits am 12. März 2013 Kenntnis erhalten, den Teilabhilfebescheid jedoch erst am 18. Juli 2014 erlassen. Dass es sich bei dem Teilabhilfebescheid nur um die Korrektur des noch innerhalb der Jahresfrist nach § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X erlassenen ursprünglichen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 14. März 2013 handele, führe zu keinem anderen Ergebnis (Urteil vom 13. Februar 2018).

Gegen das dem Beklagten am 22. Februar 2018 zugestellte Urteil richtet sich seine am 22. März 2018 eingelegte Berufung. Entgegen der Auffassung des SG sei mit dem Teilabhilfebescheid vom 18. Juli 2014 keine erneute oder erstmalige Aufhebung der ursprünglichen Leistungsbescheide erfolgt, sondern lediglich eine Konkretisierung des Verfügungssatzes des zuvor erlassenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 14. März 2013. Dies sei "hier vorliegend nicht zu beanstanden", zumal nach der Rechtsprechung des BSG "ein jeder Verfügungssatz des Bescheides der Auslegung zugänglich" sei. Hierfür könne auf die Begründung des Verwaltungsaktes, bekannte Unterlagen sowie auch früher zwischen den Beteiligten ergangene Verwaltungsakte zurückgegriffen werden. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 bilde mit dem Änderungsbescheid vom 18. Juli 2014 und dem Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2015 eine Einheit iSd § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Im Änderungsbescheid vom 18. Juli 2014 seien auch sämtliche zuvor ergangenen Leistungsbescheide aufgeführt worden. Unabhängig davon sei es nach der Rechtsprechung des BSG unschädlich, wenn bei klarer Benennung des betroffenen Leistungszeitraums nicht sämtliche ursprüngliche Leistungsbescheide vollständig aufgezählt würden. Der Bescheid vom 16. Februar 2012 habe zudem deshalb nicht aufgeführt werden müssen, weil er sich durch den Erlass von Änderungsbescheiden erledigt habe.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Februar 2018 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Kläger weist darauf hin, dass aus dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 nicht ersichtlich gewesen sei, in welcher Höhe für die einzelnen Monate Leistungen aufgehoben worden seien. Damit habe dieser Bescheid nicht den nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) geltenden Bestimmtheitsanforderungen genügt. Die späteren Bescheide seien erst nach Ablauf der Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X ergangen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Kläger und seinen Vater betreffende Verwaltungsakte des Beklagten, die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakte sowie die Gerichtsakten S 7 AS 848/17 und S 7 AS 951/17 (SG Hannover) verwiesen. Sie sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet mit Zustimmung der Beteiligten (vgl Schriftsätze vom 17. und 23. März 2020) ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 14. März 2013 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014 sowie des Widerspruchsbescheides vom 6. Mai 2015 erweist sich als im Ergebnis rechtmäßig. Das zusprechende Urteil des SG unterliegt daher der Aufhebung.

1.

Der Kläger hat für die Monate September 2012 bis März 2013 materiellrechtlich keinen höheren SGB II-Leistungsanspruch als in Höhe der auf Seite 3 des Widerspruchsbescheides unter der Bezeichnung "Anspruch neu" aufgelisteten monatlichen Leistungsbeträge.

Diese vom Beklagten berechneten monatlichen SGB II-Ansprüche ergeben sich aus der zutreffenden Berücksichtigung ua des tatsächlich erzielten Einkommens des Klägers (Ausbildungsvergütung und Kindergeld) sowie der einschlägigen Freibeträge (vgl hierzu §§ 9, 11ff SGB II). Gegen die vom Beklagten unter Berücksichtigung der Ausbildungsvergütung (550,00 bis 576,64 Euro brutto = 437,39 bis 458,58 Euro netto pro Monat) vorgenommene Berechnung hat auch der Kläger keine substantiierten Einwände erhoben. Ebenso wenig kann der erkennende Senat Rechenfehler feststellen. Anstatt der ursprünglich gewährten SGB II-Leistungen iHv 285,62 Euro bis 347,41 pro Monat (vgl zu den konkreten Monatsbeträgen: Seite 2 des vorliegenden Urteils) standen dem Kläger lediglich monatliche Leistungen iHv 31,84 bis 86,63 Euro zu (vgl zu den konkreten Monatsbeträgen: Seite 3 des vorliegenden Urteils).

2.

Entgegen der Rechtsaufassung des Klägers und des SG erfolgte die nachträgliche Korrektur der Leistungsgewährung im Ergebnis rechtsfehlerfrei.

Rechtsgrundlage für die Korrektur des Bescheides vom 16. Februar 2012 ist § 48 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 3 SGB X iVm § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II und § 330 Abs 3 SGB III, für die Korrektur der seit September 2012 für den streitbefangenen Zeitraum erlassenen ursprünglichen Leistungsbescheide § 45 Abs 1, Abs 2 Satz 1 und 3 Nr 2 SGB X iVm § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II und § 330 Abs 2 SGB III.

a.

Nach § 48 Abs 1 Satz 1, Satz 2 Nr 3 SGB X ist ein Dauerverwaltungsakt, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Der Verwaltungsakt ist (vgl zur gebundenen Entscheidung: § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 3 SGB II) mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt worden ist, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde.

Der Kläger hat nach Erlass des Bewilligungsbescheides vom 16. Februar 2012 (Bewilligungszeitraum: April bis September 2012) Einkommen erzielt (Ausbildungsvergütung für den Monat August 2012; Auszahlung im September 2012), welches im og Bewilligungsbescheid noch nicht berücksichtigt worden war. Dieses Erwerbseinkommen führte gemäß §§ 11ff SGB II zur Minderung seines Anspruchs auf SGB II-Leistungen (s.o. Abschnitt 1.).

Eine Anhörung vor Erlass des Aufhebungsbescheides war nicht erforderlich (§ 24 Abs 2 Nr 5 SGB X).

b.

Für die in der Zeit nach August 2012 und somit nach Aufnahme der Berufsausbildung zum Einzelhandelskaufmann am 1. August 2012 ergangenen Bewilligungs- bzw Änderungsbescheide ergab sich die Pflicht des Beklagten zur teilweisen Rücknahme dieser Bescheide aus § 45 Abs 1, Abs 2 Satz 1 und 3 Nr 2 SGB X iVm § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II und § 330 Abs 2 SGB III.

Danach ist ein rechtswidriger Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, unter den Einschränkungen des § 45 Abs 2 bis 4 mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen (vgl zur gebunden und rückwirkenden Entscheidung: § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III). Zwar darf ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Auf Vertrauensschutz kann sich der Begünstigte allerdings nicht berufen, soweit der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Begünstigte vorsätzlich oder grob fahrlässig in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat (nach § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X).

Dass die für den streitbefangenen Zeitraum ergangenen ursprünglichen Bewilligungs- und Änderungsbescheide wegen zu hoher Leistungsgewährung (Nichtberücksichtigung der Ausbildungsvergütung) teilweise rechtswidrig waren, ist bereits in Abschnitt 1. dargelegt worden. Da der Vater des Klägers zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben bei Antragstellung gemacht hatte (Verneinung von Einkommen bei Antragstellung am 14. August 2012 trotz der zu diesem Zeitpunkt bereits aufgenommenen Berufsausbildung), musste der Beklagte die rechtswidrig zu hohe Leistungsgewährung rückwirkend korrigieren. Das Verhalten des Vaters des Klägers bei Antragstellung ist dem Kläger zuzurechnen, da sein Vater für die Bedarfsgemeinschaft tätig geworden ist (§ 38 SGB II) und damit auch den Kläger - zumindest im Rahmen einer sog Duldungsvollmacht - vertreten hat (§ 13 SGB X iVm §§ 164, 166, 278 Bürgerliches Gesetzbuch - BGB -, vgl. im Einzelnen: Valgolio in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 2020, K § 38 Rn 36f.; Aubel in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage (Stand: 01.03.2020), § 38 Rn 36; Silbermann in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, Rn 26f.; Entscheidungen des erkennenden Senats vom 30. Juni 2014 - L 11 AS 1333/12 - und 4. Mai 2018 - L 11 AS 379/17 -).

Dass der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden seine Entscheidungen für die seit September 2012 erlassenen Bescheide anstatt auf § 45 SGB X auf § 48 SGB X gestützt hat, ist im Ergebnis unschädlich. Da die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel gerichtet sind und auf Seiten des Klägers - wie bereits dargelegt - keine Vertrauensschutzgesichtspunkte einer Aufhebung bzw Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit entgegenstehen, ist das Auswechseln dieser Rechtsgrundlagen zulässig (vgl etwa: BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 6/12 R, Rn 23 mwN).

Die hinsichtlich des Bescheides vom 14. März 2013 entgegen § 24 SGB X unterlassene Anhörung des Klägers ist im Widerspruchsverfahren mit heilender Wirkung nachgeholt worden (§ 41 Abs 1 Nr 3 SGB X; vgl BSG, Urteil vom 19.10.2011 - B 13 R 9/11 R -, Rn 14 mwN).

3. Die angefochtenen Bescheide sind auch nicht wegen fehlender Bestimmtheit iSd § 33 SGB X rechtswidrig.

Zwar war der vom Beklagten zunächst erlassene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 nicht hinreichend bestimmt. Er enthielt für die Zeit vom 1. September 2012 bis 31. März 2013 eine pauschale Teilaufhebung iHv 2.233,58 Euro, aufgegliedert lediglich in Regelbedarfsleistungen (1.344,56 Euro) und KdUH-Leistungen (889,02 Euro). Dagegen fehlte eine Zuordnung der Teilbeträge zu den einzelnen Monaten des streitbefangenen Zeitraums (September 2012 bis März 2013) unter Nennung des im jeweiligen Monat konkret aufgehobenen Teilbetrags. Eine solche Zuordnung ergab sich auch nicht aus etwaigen, dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 beigefügten Berechnungsbögen, da dieser Bescheid keine solchen Anlagen enthielt. Nach der Rechtsprechung des BSG muss jedoch erkennbar sein, ob und in welchem Umfang dem Betroffenen monatlich Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts verbleiben, damit dieser sein Verhalten daran ausrichten kann (BSG, Urteil vom 29. November 2012 - B 14 AS 196/11 R -, SozR 4-1300 § 33 Nr 2, Rn 17; ebenso zum Arbeitsförderungsrecht: BSG, Urteil vom 02. Juni 2004 - B 7 AL 58/03 R -, BSGE 93, 51-59, SozR 4-4100 § 115 Nr 1; vgl auch Urteil des erkennenden Senats vom 26. Februar 2013 - L 11 AS 1394/09 -, veröffentlicht in juris sowie in Sozialrecht aktuell 2013, 220).

Der Beklagte hat jedoch in der Folgezeit hinreichend bestimmte Verwaltungsakte iSd § 33 SGB X erlassen. Im Änderungsbescheid vom 18. Juli 2014 wurden sowohl sämtliche bislang ergangenen Bewilligungs- und Änderungsbescheide ausdrücklich im Verfügungssatz genannt als auch die auf die einzelnen Monate des streitbefangenen Zeitraums entfallenden Teilbeträge ausdrücklich aufgelistet. Außerdem wurde der Aufhebungs- und Erstattungsbetrag entsprechend der vom Beklagten offengelegten Berechnung (Horizontalübersichten bzw Berechnungsbögen des Änderungsbescheids vom 17. Juli 2014) auf insgesamt 1.894,13 Euro reduziert. Dieser Bescheid wurde gemäß § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Gegenstand des noch gegen den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 laufenden Widerspruchsverfahrens, welches erst durch den Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2015 abgeschlossen wurde (betreffend den Bescheid vom 14. März 2013 "nach Erlass des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014").

Entgegen der Auffassung des Klägers und des SG hat der Beklagte die Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X eingehalten.

Nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X muss die Rücknahme bzw Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Wirkung für die Vergangenheit innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Behörde von den Tatsachen erfolgen, welche die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen.

Nachdem der Beklagte am 12. März 2013 Kenntnis vom Zufluss der für die Monate August 2012 bis Februar 2013 ausgezahlten Ausbildungsvergütungen erhalten hatte, lief die Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X am 12. März 2014 ab. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Beklagte lediglich den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14. März 2013 erlassen, der jedoch - wie bereits ausgeführt - nicht hinreichend bestimmt iSd § 33 SGB X war. Allerdings hat der Beklagte den Bescheid vom 14. März 2013 noch vor Abschluss des gegen ihn geführten Widerspruchsverfahrens abgeändert ("Änderungsbescheid" vom 18. Juli 2014). Hierbei handelte es sich in der Sache um einen Teilabhilfebescheid. Auch aus dem nachfolgend ergangenen Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2015 ergab sich zweifelsfrei, dass der (unbestimmte) Bescheid vom 14. März 2013 nicht etwa aufgehoben, sondern lediglich abgeändert worden ist: Im Kopf des Widerspruchsbescheides wird nur der Bescheid vom 14. März 2013 genannt (als Bezugspunkt für den vom Kläger eingelegten Widerspruch). Der Widerspruch gegen diesen Bescheid ist vom Beklagten "nach Erlass des Änderungsbescheides vom 18. Juli 2014" als unbegründet zurückgewiesen worden. Auch in der Begründung des Widerspruchsbescheides hat der Beklagte nochmals ausdrücklich ausgeführt, dass der Ausgangsbescheid vom 14. März 2013 durch den Bescheid vom 18. Juli 2014 abgeändert worden sei und nach § 86 SGG gemeinsam mit diesem den Gegenstand des Widerspruchsverfahrens bilde (S. 2 des Widerspruchsbescheides).

Dass die Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X nur für den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid, nicht dagegen für einen diesen teilweise abändernden Widerspruchsbescheid gilt, hat der erkennende Senat bereits mit Urteil vom 26. Februar 2013 - L 11 AS 1394/09 -, Sozialrecht aktuell 2013, 220, entschieden und zur Begründung ausgeführt (Rn 34): Entgegen der Auffassung des SG gilt für einen Widerspruchsbescheid nämlich nicht erneut die Einjahresfrist nach § 45 Abs 4 S 2 SGB X. Ausgangs- und Widerspruchsbescheid stellen sich vielmehr als Einheit dar (vgl. hierzu: Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 10. Auflage 2012, § 95 Rn 2 mit weiteren Nachweisen). Streitgegenstand im gerichtlichen Verfahren ist der mit der Klage angefochtene ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden hat (§ 95 Sozialgerichtsgesetz - SGG-). Die vom SG aufgeworfene Frage nach einer Rückwirkung der im Widerspruchsbescheid nachgeholten Konkretisierungen stellt sich somit für ein durchgängig betriebenes Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren nicht. Nur wenn der Ausgangsbescheid im weiteren Zeitablauf ausdrücklich aufgehoben bzw. - ohne dass weiterhin an ihm festgehalten werden würde - vollständig ersetzt wird, kann für die Frist nach § 45 Abs 4 S 2 SGB X nicht mehr an den infolge der Aufhebung bzw. infolge der vollständigen Ersetzung nicht mehr existenten Erstbescheid angeknüpft werden (vgl. hierzu: BSG, Urteile vom 27. Juli 1989 und 15. Februar 1990 - 11/7 RAr 115/87, SozR 1300 § 45 Nr 45 sowie 7 RAr 28/88, SozR 3-1300 § 45 Nr 1).

An dieser Rechtsprechung, der auch das LSG Hamburg gefolgt ist (Urteile vom 30. September 2019 - L 4 AS 26/18 und L 2 AS 26/18 -, jeweils Rn 37), hält der Senat fest. Aufgrund der prozessualen Einheit von Ausgangs-, Teilabhilfe- und Widerspruchsbescheid (vgl zum Begriff der prozessualen Einheit etwa: BSG, Urteil vom 11. Februar 2015 - B 13 R 15/13 R -, Rn 23; Roos/Wahrendorf, SGG, 1. Auflage 2014, § 95 Rn 18; Schmidt in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Auflage 2017, § 95 Rn 2) ist im vorliegenden Fall aufgrund des Erlasses des Ausgangsbescheides bereits im März 2013 die Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X eingehalten worden. Da der Teilabhilfebescheid vom 18. Juli 2014 auf demselben Lebenssachverhalt beruhte wie der Ausgangsbescheid vom 14. März 2014 (nachträgliche Anrechnung des zunächst verschwiegenen Einkommens aus Ausbildungsvergütung), ist im vorliegenden Verfahren nicht entscheidungserheblich, ob diese Rechtsgrundsätze auch dann gelten, wenn der Teilabhilfe- oder Widerspruchsbescheid auf einen im Vergleich zum Ausgangsbescheid vollkommen anderen Lebenssachverhalt gestützt wird.

Der Gegenauffassung, wonach die Jahresfrist nach §§ 45 Abs 4, 48 Abs 4 SGB X auch auf einen Teilabhilfe- bzw Widerspruchsbescheid Anwendung findet (Padé in: jurisPK-SGB X, 2. Auflage 2018, § 45 Rn 116; wohl auch: Rieker, NZS 2015, 656, 657 - letzterer allerdings unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die anderslautende Entscheidung des erkennenden Senats vom 26. Februar 2013), schließt sich der erkennende Senat aus den bereits genannten Gründen nicht an. Die Abänderung eines mit Widerspruch angefochtenen Bescheides im laufenden Widerspruchsverfahren ist nicht gleichzusetzen mit einer ausdrücklichen Aufhebung des Ausgangsbescheides und nachfolgendem Erlass eines neuen Bescheides erst im anschließenden Klage-/Berufungsverfahren oder erst in einem sich an ein solches Klageverfahren anschließenden neuen Verwaltungsverfahren (vgl zu diesen Fallkonstellationen: BSG, Urteile vom 27. Juli 1989 und 15. Februar 1990 - 11/7 RAr 115/87, SozR 1300 § 45 Nr 45 sowie 7 RAr 28/88, SozR 3-1300 § 45 Nr 1; BVerwG, Urteil vom 19. Dezember 1995 - 5 C 10/94 -, BVerwGE 100, 199).

4. Aufgrund der zumindest grob fahrlässig unterbliebenen unverzüglichen Anzeige des Erwerbseinkommens stand dem Kläger kein Vertrauensschutz zur Seite; ebenso wenig war vom Beklagten bei der Rücknahme- bzw Aufhebungsentscheidung Ermessen auszuüben (§§ 45, 48 SGB X iVm § 40 Abs Abs 2 Nr 3 SGB II und § 330 Abs 2 und 3 SGB III).

5. Der Erstattungsanspruch ergibt sich aus der im Ergebnis rechtmäßigen teilweisen Aufhebung bzw Rücknahme der vorangegangenen Leistungsbewilligungen und beruht auf § 50 SGB X. Der Erstattungsbetrag errechnet sich aus der Differenz zwischen den dem Kläger zunächst gewährten Leistungen (vgl Seite 2 des vorliegenden Urteils) und den dem Kläger für diese Monate tatsächlich zustehenden SGB II-Leistungen (vgl oben Abschnitt 1.; zu den konkreten Beträgen: Seite 3 des vorliegenden Urteils sowie Seite 3 des Widerspruchsbescheids vom 6. Mai 2015 - "Anspruch neu"). Die Summe der monatlichen Überzahlungen beträgt nach Berechnung des Senats 1.893,43 Euro, so dass der Kläger durch die vom Beklagten geforderten 1.893,13 Euro nicht beschwert wird.

6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Für das erfolglos gebliebene Klage- und Berufungsverfahren erfolgt keine Kostenerstattung. Aufgrund des Teilerfolgs des Widerspruchs verbleibt es für das Widerspruchsverfahren jedoch bei dem Anspruch auf Kostenerstattung iHv 20 % (vgl Widerspruchsbescheid vom 6. Mai 2015).

Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtsfrage zugelassen, ob die Jahresfrist nach §§ 45, 48 Abs 4 SGB X auch auf Teilabhilfe- bzw Widerspruchsbescheide, die einen Ausgangsbescheid abändern, Anwendung findet (§ 160 Abs 2 SGG).-