Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 25.11.2021, Az.: L 8 SO 207/21 B
Vorläufige existenzsichernde Leistungen für einen Unionsbürger; Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts; Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 25.11.2021
- Aktenzeichen
- L 8 SO 207/21 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2021, 53096
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2021:1125.L8SO207.21B.ER.
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 15.10.2021 - AZ: S 33 SO 159/21 ER
Rechtsgrundlagen
- § 4a FreizügG/EU
- § 6 FreizügG/EU
- § 7 FreizügG/EU
- § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I
- § 37 SGB I
- § 7 SGB II
- § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 und S. 4-6 SGB II
- § 21 S. 1 SGB XII
- § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII
- § 193 SGG
Amtlicher Leitsatz
- 1.
Das AsylbLG ist auf Angehörige der EU nicht anwendbar; § 1 Abs 1 AsylbLG ist insoweit teleologisch zu reduzieren (so auch LSG Nordrhein-Westfalen v. 30.05.2019 - L 20 AY 15/19 B ER - juris Rn. 29 ff.).
- 2.
Die Auslegung des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ iSd § 7 Abs 1 Satz 4 Hs 1 SGB II orientiert sich allgemein nach der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, ohne dass dieser Begriff zusätzliche inhaltliche (qualitative) Anforderungen iS einer Eignung zur Aufenthaltsverfestigung enthält. Auf die (materielle) Rechtmäßigkeit des Aufenthalts und die tatsächlich „gelebten“ Verhältnisse in Deutschland oder deren integrative Bewertung kommt es nicht an.
- 3.
Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch in einer Einrichtung (wie z.B. einer JVA) begründet werden (vgl. BVerwG v. 08.12.2006 - 5 B 65/06 - juris Rn. 2).
- 4.
Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe sind bei der Fünfjahresfrist iSd § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II grundsätzlich zu berücksichtigen und führen nicht zu einem Neubeginn dieser Frist.
Tenor:
Die Beschwerde des Beigeladenen gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 15. Oktober 2021 wird zurückgewiesen.
Der Beigeladene hat die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers auch für das Beschwerdeverfahren zu erstatten. Im Übrigen sind keine Kosten zu erstatten.
Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird abgelehnt.
Gründe
Im Streit sind vorläufige existenzsichernde Leistungen für einen Unionsbürger ab Anfang Oktober 2021.
Der 1974 geborene, allein- und u.a. wegen einer psychischen Erkrankung (Anpassungsstörung mit depressiver Symptomatik) unter Betreuung stehende Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger und hält sich seit dem 1.8.2016 durchgehend gemeldet in Deutschland auf, vom 12.5.2017 bis zum 5.4.2018 unter Verbüßung einer Haftstrafe in der Justizvollzugsanstalt (JVA) G.. Zur Sicherung seines Lebensunterhaltes ging er kurzfristigen Tätigkeiten als Hilfsarbeiter nach und er bezog Arbeitslosengeld II, zuletzt bewilligt bis zum 24.6.2021 durch Bescheid des Jobcenters Landkreis Osterholz vom 30.6.2021. Seither ist er einkommens- und vermögenslos. Nach der Zwangsräumung seiner in der Gemeinde H. gelegenen Wohnung bezog er zum 25.6.2021 eine Notunterkunft in einem im Stadtgebiet der Antragsgegnerin gelegenen Hotel, deren Kosten (32,00 € je Nacht) vorläufig von der Antragsgegnerin (Zentrale Fachstelle Wohnen) übernommen wurden.
Nachdem das beigeladene Jobcenter seinen Antrag auf Arbeitslosengeld II vom 28.6.2021 wegen der Annahme eines Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II durch Bescheid vom 8.7.2021 abgelehnt hatte, erhob der Antragsteller hiergegen am 23.7.2021 Widerspruch, über den noch nicht entschieden ist. Den am gleichen Tag gestellten Sozialhilfeantrag lehnte die Antragsgegnerin durch Bescheid vom 23.8.2021 mit der Begründung ab, der Antragsteller sei wegen seines fünfjährigen Aufenthalts in Deutschland leistungsberechtigt nach dem SGB II und könne von der Antragsgegnerin allenfalls Überbrückungsleistungen zur Ausreise in Anspruch nehmen. Über den hiergegen am 23.9.2021 erhobenen Widerspruch liegt ebenfalls noch keine Entscheidung vor.
Auf den Eilantrag vom 5.10.2021 hat das Sozialgericht (SG) Bremen den Beigeladenen durch Beschluss vom 15.10.2021 im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Arbeitslosengeld II ab Stellung des Eilantrags bis zum 31.3.2022 zu gewähren, längstens jedoch bis zur Bestandskraft des Bescheides vom 8.7.2021 oder der Entscheidung in der Hauptsache, und den Eilantrag im Übrigen abgelehnt. Zur Begründung hat es u.a. ausgeführt, der Antragsteller sei nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen, weil die Gegenausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II greife. Er halte sich seit August 2016 durchgehend gemeldet in Deutschland auf und ein Verlust des Freizügigkeitsrechts sei nicht festgestellt. Entgegen der Auffassung des Beigeladenen sei nach dem Schwerpunkt der Lebensverhältnisse des Antragstellers auch die Haftzeit als gewöhnlicher Aufenthalt in Deutschland anzusehen.
Mit der hiergegen gerichteten Beschwerde vom 29.10.2021 macht der Beigeladene geltend, dass die Zeit der Inhaftierung des Antragstellers eine wesentliche Unterbrechung darstelle und für die Dauer des gewöhnlichen Aufenthalts im Bundesgebiet i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nur die Zeit ab Haftentlassung (am 5.4.2018) maßgeblich sei. Durch den Zugang für Ausländer zu dem Leistungssystem nach dem SGB II bei einem gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland von mindestens fünf Jahren solle einer Verwurzelung Rechnung getragen werden, wegen der eine Rückkehr in das Heimatland nicht ohne weiteres zumutbar sei. Stark vereinfacht ausgedrückt, sei derjenige, der sich hier fünf Jahre lang irgendwie durchgeschlagen hat, zur „Belohnung“ von der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II betroffen und er könne Leistungen nach dem SGB II beanspruchen. Von einer Aufenthaltsverfestigung könne aber bei einem Haftaufenthalt keine Rede sein; vielmehr sei ein solcher Aufenthalt vergleichbar mit einer wesentlichen Abwesenheitszeit, wie etwa bei einem Auslandsaufenthalt.
Die übrigen Beteiligten halten die Entscheidung des SG für zutreffend. Der Antragsteller macht zusätzlich geltend, es bestehe kein Anhaltspunkt für eine einschränkende und von der allgemeinen Definition nach § 30 Abs. 3 SGB I abweichende Auslegung des gewöhnlichen Aufenthaltes i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II. Besonderen Fallgestaltungen, in denen längere Zeiten der Inhaftierung in Deutschland vorliegen, sei durch einen konsequenten Vollzug des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) zu begegnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Prozessakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin und des Beigeladenen Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegte und auch im Übrigen zulässige, insbesondere statthafte (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 SGG i.V.m. §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG) Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Beigeladenen zu Recht und mit zutreffender Begründung im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Einstweilige Anordnungen sind nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber dem Antragsgegner besteht (Anordnungsanspruch) und der Antragsteller ohne den Erlass der begehrten Anordnung wesentliche Nachteile erleiden würde (Anordnungsgrund). Sowohl die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines in der Sache gegebenen materiellen Leistungsanspruchs als auch die Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Die einstweilige Anordnung betrifft die Ablehnungsbescheide des Beigeladenen und der Antragsgegnerin vom 8.7. und 23.8.2021, die fristgerecht mit Widersprüchen angefochten worden sind. Da der geltend gemachte Anspruch auf laufende existenzsichernde Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII (3. Kapitel) in einem Alternativverhältnis zueinander stehen (vgl. § 21 Satz 1 SGB XII und § 5 Abs. 2 SGB II), ist (auch) in einem sich ggf. dem Verwaltungsverfahren anschließenden Klageverfahren über eine notwendige Beiladung des (dann noch) nicht beteiligten Leistungsträgers (§ 75 Abs. 2 Alt. 2 SGG) zu entscheiden (vgl. etwa BSG, Urteil vom 27.1.2021 - B 14 AS 25/20 R - juris Rn. 34-36). Das streitige Rechtsverhältnis i.S. des § 86b Abs. 2 SGG ist diesem Fall das zuerst rechtsanhängige (§ 94 Satz 1 SGG). In diesem Zusammenhang bedarf es keiner abschließenden Erörterung, ob ein Anspruch auf Überbrückungsleistungen i.S. des § 23 Abs. 3 Satz 3 bis 6 SGB XII ein „aliud“ gegenüber einem Anspruch auf laufende existenzsichernde Sozialleistungen nach dem SGB II oder dem SGB XII darstellt (ebenfalls offen gelassen durch BSG, Urteil vom 27.1.2021 - B 14 AS 25/20 R - juris Rn. 36; Senatsbeschluss vom 20.10.2021 - L 8 SO 157/21 B ER - juris Rn. 10; zum Meinungsstand Siefert in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 23 Rn. 115 m.w.N.).
Der Antragsteller hat einen Anordnungsanspruch gegen den Beigeladenen auf laufende Leistungen nach dem SGB II glaubhaft gemacht. Der gegen die Antragsgegnerin gerichtete Eilantrag ist hingegen aufgrund der Sperrwirkung des § 21 Satz 1 SGB XII (vgl. dazu u.a. BSG, Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - juris Rn. 40 ff.; grundlegend auch Senatsbeschluss vom 23.5.2014 - L 8 SO 129/14 B ER - juris Rn. 13 ff.) unbegründet und vom SG (insoweit) zu Recht abgelehnt worden.
Der Antragsteller ist dem Grunde nach leistungsberechtigt gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II. Er erfüllt die altersbezogenen Voraussetzungen (Nr. 1) und ist erwerbsfähig (Nr. 2), weil er nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen (vgl. das im Betreuungsverfahren eingeholte psychiatrische Gutachten des Dr. I., J., vom 8.5.2019) nicht wegen Krankheit oder Behinderung nicht auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 8 Abs. 1 SGB II). Er hat auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB II), seit dem 25.6.2021 im Zuständigkeitsbereich der Antragsgegnerin und des Beigeladenen, weil er nach den Umständen hier nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft verweilt (vgl. § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, zu Einzelheiten auch gleich; zum Begriff BSG, Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 17 ff.). Er ist auch hilfebedürftig (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II), weil er mittellos ist und deswegen seinen Lebensunterhalt nicht sichern kann und die erforderliche Hilfe - mit Ausnahme der vorläufig von der Antragsgegnerin (Fachstelle Zentrales Wohnen) übernommenen Unterkunftskosten (dazu später) - nicht von anderen erhält (vgl. § 11 Abs. 1 SGB II).
Der Antragsteller ist als bulgarischer Staatsangehöriger nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil er sich länger als drei Monate in Deutschland aufhält (vgl. Nr. 1) und als Unionsbürger nicht leistungsberechtigt nach § 1 AsylbLG ist (vgl. Nr. 3). Das AsylbLG ist nach Sinn und Zweck dieses Gesetzes, seiner Entstehungsgeschichte und dem Gesamtzusammenhang der einschlägigen Regelungen auf Angehörige der EU nicht anwendbar; § 1 Abs. 1 AsylbLG ist insoweit teleologisch zu reduzieren (so auch die wohl h.M. vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 30.5.2019 - L 20 AY 15/19 B ER - juris Rn. 29 ff.; Bayerischer VGH, Beschluss vom 14.5.2020 - 12 CE 20.985 - juris Rn. 22; grundlegend VG Darmstadt, Urteil vom 26.1.2004 - AN 4 K 03.01940 - juris Rn. 33-37; Frerichs in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 81; Dollinger in Siefert, AsylbLG, 2. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 46; Hohm in GK-AsylbLG, § 1 AsylbLG Rn. 21 ff. m.w.N.; Korff in BeckOK SozR, AsylbLG, § 1 AsylbLG Rn. 5; Wahrendorf, AsylbLG, § 1 AsylbLG Rn. 13; a.A. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.3.2020 - L 19 AS 2035/19 B ER - juris Rn. 67 ff. und Beschluss vom 16.1.2019 - L 7 AS 1085/18 B - juris Rn. 26; Hessisches LSG, Beschluss vom 5.2.2015 - L 6 AS 883/14 B ER - juris Rn. 12; Cantzler, AsylbLG, 1. Aufl. 2019, § 1 Rn. 34; Leopold in Grube/Wahrendorf/Flint, SGB XII, SGB XII, 7. Aufl. 2020, § 1 AsylbLG Rn. 9; Decker in Oestreicher, SGB XII/SGB II, § 1 AsylbLG Rn. 66 f.).
Der Antragsteller ist auch nicht gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen, weil dieser Ausschluss hier gemäß § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II nicht greift. Danach erhalten Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen abweichend von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben (Hs. 1); dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde (Hs. 2). Diese Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 Satz 5 SGB II). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II).
Die Voraussetzungen für die Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II liegen hier vor. Der Antragsteller lebt jedenfalls seit August 2016 durchgehend gemeldet (vgl. die Meldebescheinigung der Stadt K. vom 20.9.2021) und mit gewöhnlichem Aufenthalt - und somit länger als fünf Jahre - in Deutschland, davon vorübergehend (von Mai 2017 bis April 2018) inhaftiert, ohne dass der Verlust seines Freizügigkeitsrechts aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt worden ist. Auch während der Haftzeit hat er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt.
Die Auslegung des gewöhnlichen Aufenthalts i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II orientiert sich allgemein nach der Legaldefinition in § 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I, nach der jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Diese Definition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des Sozialgesetzbuchs, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 Satz 1 SGB I). Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie nach den objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnissen im streitigen Zeitraum zu beurteilen. Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist (zum Vorstehenden BSG, Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 18 m.w.N.). Im Rahmen des § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II ist insoweit eine Einzelfallprüfung erforderlich, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland gegeben ist, wozu auch Meldebescheinigungen, Mietverträge, Abrechnungen mit Energieversorgern etc. herangezogen werden können; unwesentliche Unterbrechungen sind dabei unschädlich (Senatsbeschluss vom 3.7.2020 - L 8 SO 73/20 B ER - juris Rn. 29 m.w.N.; Einzelheiten sind umstritten vgl. etwa LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.5.2021 - L 5 AS 457/21 B ER, L 5 AS 459/21 B ER PKH - juris Rn. 7).
Für eine von der allgemeinen Definition abweichende Auslegung des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II, nach der dieser zusätzliche inhaltliche (qualitative) Anforderungen i.S. einer Eignung zur Aufenthaltsverfestigung enthält, sprechen die Besonderheiten des SGB II nicht (§ 37 Satz 1 SGB I). Die Norm stellt allein auf einen gewöhnlichen Aufenthalt des Ausländers in Deutschland (für mindestens fünf Jahre) ab. Gegen die Annahme von zusätzlichen inhaltlichen Vorgaben für diesen gewöhnlichen Aufenthalt - über den Gesetzeswortlaut hinaus - sprechen schon die weiteren Regelungen in § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II, durch die der Gesetzgeber die Rückausnahme von dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II durch bestimmte Voraussetzungen eingeschränkt hat, die gerade auch eine gewisse Aufenthaltsverfestigung dokumentieren sollen (z.B. das Fehlen einer Verlustfeststellung i.S. der §§ 6, 7 FreizügG/EU oder die Meldung bei der zuständigen Meldebehörde, vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 14). Nach der Sonderregel des § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II werden Zeiten eines nicht rechtmäßigen Aufenthaltes, in denen eine Ausreisepflicht besteht, auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthaltes ausdrücklich nicht angerechnet (zur analogen Anwendung der Norm auf Zeiten der Verbüßung einer Freiheitsstrafe gleich). Auch in systematischer Hinsicht ist es fernliegend, dass der Begriff innerhalb des Gesetzbuches bzw. der gleichen Norm (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 und § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II) unterschiedliche Bedeutungen haben soll; insoweit ist es nach der Rechtsprechung des BSG bereits geklärt, dass es für den Bereich des SGB II der Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwiderläuft, wenn dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale (im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus) aufgestellt werden und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt wird (BSG, Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 19). Nichts anderes gilt betreffend den Begriff in § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II für zusätzliche qualitative Anforderungen i.S. einer Eignung zur Aufenthaltsverfestigung, zumal das Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik - und nicht bloß auf eine formale Begründung des Wohnsitzes - bereits einer Missbrauchsabwehr dienen soll (vgl. BSG, a.a.O., Rn. 18). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Sinn und Zweck der Vorschrift, ausländischen erwerbsfähigen Personen ohne materielles Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht, die dauerhaft oder jedenfalls für einen längeren Zeitraum in Deutschland verbleiben und deren Aufenthalt sich damit verfestigt hat (zu diesem Aspekt nach der bis zum 28.12.2016 geltenden Rechtslage bereits nach einem sechsmonatigen Aufenthalt in Deutschland vgl. die st. Rechtsprechung des BSG, u.a. Urteil vom 3.12.2015 - B 4 AS 44/15 R - juris Rn. 53 ff., vom 9.8.2018 - B 14 AS 32/17 R - juris Rn. 36 ff. und zuletzt vom 12.5.2021 - B 4 AS 34/20 R - juris Rn. 31 ff.), das Leistungssystem des SGB II unter Geltung des Grundsatzes des Förderns und Forderns (§ 2 SGB II) zu eröffnen. Diese Personen sind für den (inländer-)gleichberechtigten Zugang zu existenzsichernden Leistungen (vgl. auch die Parallelregelung § 23 Abs. 3 Satz 7 bis 9 SGB XII) nicht auf den Erwerb des Daueraufenthaltsrechts (§ 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU) nach einem fünf Jahre währenden rechtmäßigen Aufenthalt zu verweisen, der unionsrechtlich von einer Integration im Aufnahmemitgliedstaat nicht nur nach territorialen und zeitlichen Faktoren, sondern auch nach qualitativen Elementen abhängig ist (zur Unterbrechung der Zeiten eines rechtmäßigen Aufenthaltes wegen der Verbüßung einer Freiheitsstrafe vgl. EuGH, Urteile vom 16.1.2014 - C-378/12 und C-400/12- jeweils juris; EuGH, Urteil vom 17.4.2018 - C-316/16 - juris; vgl. dazu auch LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 31.5.2021 - L 5 AS 457/21 B ER, L 5 AS 459/21 B ER PKH - juris Rn. 6 m.w.N.). Im Rahmen der Rückausnahme des § 7 Abs. 1 Satz 4 SGB II geht der Gesetzgeber dagegen typisierend nach einem gewöhnlichen Aufenthalt von mindestens fünf Jahren von einem längeren verfestigten Aufenthalt in Deutschland aus (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 14); gesetzestechnisch handelt es sich dabei in gewisser Weise (bloß) um eine nur unter den o.g. Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 4 bis 6 SGB II (etwa Verlustfeststellung nach §§ 6, 7 FreizügG/EU; rechtswidriger Aufenthalt bei vollziehbarer Ausreisepflicht) widerlegliche Vermutung einer Aufenthaltsverfestigung, ohne dass es auf die (materielle) Rechtmäßigkeit des Aufenthalts (vorbehaltlich § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II) und die tatsächlich „gelebten“ Verhältnisse in Deutschland (z.B. Obdachlosigkeit, vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11.05.2020 - L 18 AS 1812/19 - juris Rn. 20, oder allgemein die Art und Weise der Finanzierung des Lebensunterhaltes, dazu Senatsbeschluss vom 3.7.2020 - L 8 SO 73/20 B ER - juris Rn. 2 sowie LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 13.9.2021 - L 2 AS 446/21 B ER - juris Rn. 33 m.w.N.; Leopold in jurisPK-SGB II, 5. Aufl. 2020, § 7 Rn. 162) oder deren integrative Bewertung ankommt. Diese Aspekte können freizügigkeitsrechtlich von Bedeutung sein, worauf der Antragsteller zu Recht hinweist.
Dies zu Grunde gelegt, hat sich die Haftzeit des Antragstellers in der JVA G. von Mai 2017 bis April 2018 in seinen - nach den erkennbaren Umständen stets zukunftsoffenen (vgl. dazu bei Betroffenheit von Unionsbürgerinnen und -bürgern BSG, Urteil vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R - juris Rn. 20) - Aufenthalt in Deutschland eingefügt, wobei dahin gestellt bleiben kann, ob der Antragsteller wegen der Haftdauer von unter einem Jahr bzw. dem vorübergehenden Charakter der Strafhaft überhaupt einen gewöhnlichen Aufenthalt in der JVA begründet hat (vgl. dazu etwa Bayrischer VGH, Beschluss vom 30.11.2007 - 12 B 07.232 - juris Rn. 11). Ein gewöhnlicher Aufenthalt kann auch in einer Einrichtung wie z.B. einer JVA begründet werden, weil insbesondere Zwang und Unfreiwilligkeit - anders als der Beigeladene meint - die Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts nicht ausschließen (BVerwG, Beschluss vom 8.12.2006 - 5 B 65/06 - juris Rn. 2; BVerwG, Urteil vom 29.9.2010 - 5 C 21/09 - juris; vgl. auch BSG, Urteil vom 6.12.2013 - B 14 AS 66/13 R - juris Rn. 11; Böttiger in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 36 Rn. 39). So oder so hatte der Antragsteller während der Inhaftierung seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, entweder am Haftort in G. oder in dem ebenfalls in Nordrhein-Westfalen gelegenen Ort K., wo er während der Haftstrafe durchgehend gemeldet gewesen ist und vor und nach der Inhaftierung gelebt hat, vor allem wohl um in der Nähe seines ebenfalls in Deutschland lebenden Sohnes zu sein. Anhaltspunkte dafür, dass er den Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse in Deutschland aufgegeben hat oder beenden wollte, liegen auch mit Rücksicht darauf, dass er nach eigenen Angaben sein Heimatland schon jung verlassen und vor seinem Aufenthalt in Deutschland etwa 20 Jahre in Italien gelebt hat, nicht vor.
Für Zeiten der Strafhaft ist § 7 Abs. 1 Satz 6 SGB II nicht entsprechend anwendbar mit der möglichen Folge, dass diese Zeit bei der Berechnung der Fünfjahresfrist i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II nicht zu berücksichtigen wäre (so i.E. aber nach den Fachlichen Hinweisen der Bundesagentur für Arbeit zu § 7 SGB II, Stand 2.3.2021, Rz. 7.35a). Angesichts der eindeutigen Gesetzeslage, nach der es bezogen auf die Anrechenbarkeit von Zeiten nicht rechtmäßigen Aufenthalts auf die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht ankommt, fehlt es an einer unbeabsichtigten Regelungslücke (zu den Analogievoraussetzungen allgemein BSG, Urteil vom 27.5.2014 - B 8 SO 1/13 R - juris Rn. 21 m.w.N.). Mangels Feststellung der Ausländerbehörde, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht (vgl. § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU), ist der Antragsteller aber - soweit ersichtlich - bis heute nicht ausreisepflichtig.
Entgegen der Auffassung des Beigeladenen bedeuten die Zeiten der Strafhaft auch keine wesentliche Zäsur, die zu einem Neubeginn der Fünfjahresfrist i.S. des § 7 Abs. 1 Satz 4 Hs. 1 SGB II führt (in diese Richtung, aber offen gelassen durch LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29.6.2021 - L 13 AS 234/21 B ER - nicht veröffentlicht). Wie ausgeführt liegen schon keine Anhaltspunkte für eine Unterbrechung des gewöhnlichen Aufenthalts des Antragstellers in Deutschland durch den Antritt bzw. die Verbüßung der Haftstrafe vor, noch nicht einmal für eine Unterbrechung des tatsächlichen Aufenthaltes durch einen (nicht nur vorübergehenden) Auslandsaufenthalt, der aber für einen Neubeginn der Frist in aller Regel - wie auch hier - vorauszusetzen ist (vgl. BT-Drs. 18/10211, S. 14; G. Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Aufl. 2021, § 7 Rn. 54).
Der Antragsteller hat die besondere Eilbedürftigkeit der Sache (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht, weil er mittellos ist und seinen Lebensunterhalt einschließlich die Versorgung im Krankheitsfall nicht allein sicherstellen kann. Angesichts der Bedeutung des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art. 1 Abs. 1 GG i.Vm. Art. 20 Abs. 1 GG (vgl. dazu grundlegend sog. Regelsatzurteil des BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 -; BVerfG, Urteil vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -; BVerfG, Beschluss vom 23.7.2014 - 1 BvL 10/12, 1 BvL 12/12, 1 BvR 1691/13 -; BVerfG, Beschluss vom 27.7.2016 - 1 BvR 371/11 -; BVerfG, Urteil vom 5.11.2019 - 1 BvL 7/16 -), die vom Beigeladenen als Träger existenzsichernder Leistungen nach seinen Einlassungen im gerichtlichen Verfahren offenbar verkannt wird, sind an die Glaubhaftmachung des Anordnungsgrundes keine weiteren Anforderungen zu knüpfen.
Die Verpflichtung des Beigeladenen zur Gewährung vorläufiger lebensunterhaltssichernder Leistungen nach dem SGB II ist sowohl in zeitlicher Hinsicht als auch dem Grunde nach (entsprechend § 130 SGG) ermessensgerecht zur Abwendung der gegenwärtigen Notlage erfolgt (§ 86 Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO). In Umsetzung des Beschlusses des SG wird der Beigeladene zu prüfen haben, ob der in einer Notunterkunft lebende Antragsteller gegenwärtig Bedarfe für Unterkunft und Heizung (§ 22 SGB II) hat; bei einer Einstellung der vorläufigen Kostenübernahme durch die Antragsgegnerin (Zentrale Fachstelle Wohnen) wird er sich insoweit aber nicht auf einen Nachrang der Leistungen nach dem SGB II berufen können (vgl. BSG, Urteil vom 23.3.2021 - B 8 SO 2/20 R - juris Rn. 13 zu § 2 Abs. 1 SGB XII).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Der in zweiter Instanz gestellte Prozesskostenhilfeantrag ist mangels Rechtsschutzbedürfnisses abzulehnen, weil der Beigeladene die außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für das Beschwerdeverfahren nach dieser Entscheidung (endgültig) zu erstatten hat und es damit keiner Gewährung von Prozesskostenhilfe mehr bedarf (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25.8.2015 - 1 BvR 3474/13 - juris Rn. 9).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar, § 177 SGG.