Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 18.11.2021, Az.: L 14 U 284/17
Anerkennung von Arbeitsunfallfolgen; Zulässigkeit einer Feststellungsklage; Vollbeweis für ein Unfallereignis und einen Gesundheitserst- bzw. Gesundheitsfolgeschaden; Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 18.11.2021
- Aktenzeichen
- L 14 U 284/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 68342
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2021:1118.L14U284.17.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Aurich - 27.09.2017 - AZ: S 33 U 54/16
Rechtsgrundlagen
- § 8 Abs. 1 SGB VII
- § 56 Abs. 1 SGB VII
- § 55 SGG
- § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG
- § 193 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Gesundheitsstörungen können als Unfallfolgen nur anerkannt werden, wenn sie selbst sowie auch ein Ursachenzusammenhang mit dem Unfallereignis nachgewiesen sind – hier bejaht beim Vollbeweis eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes, der mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich auf die unmittelbare Unfallfolgen zurückzuführen ist.
Tenor:
Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Aurich vom 27. September 2017 aufgehoben und der Bescheid der Beklagten vom 4. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2016 abgeändert.
Es wird festgestellt, dass ein arzneimittelinduzierter Kopfschmerz (G44.4 nach ICD-10) eine weitere Folge des Arbeitsunfalls des Klägers vom 14. Dezember 2015 ist.
Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers in beiden Rechtszügen.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist die Anerkennung eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes (G44.4 nach ICD-10) als (mittelbare) Unfallfolge streitig.
Mit einem am 14. Dezember 2015 erstatteten Durchgangsarztbericht teilte Dr. D., E., der Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG Bau) mit, dass der F. geborene und als Bauleiter tätige Kläger am selben Tag auf dem Weg zur Arbeit mit seinem PKW in einen Verkehrsunfall geraten sei. Der Kläger sei auf einer vorfahrtsberechtigenden Straße gefahren, als ein Auto von rechts ihm die Vorfahrt genommen habe und in die Beifahrerseite gefahren sei. Der Kläger sei erst zur Arbeit gegangen, habe diese später abgebrochen und sei dann zur Behandlung erschienen. Im Rahmen der Untersuchung sei der Kläger wach und ansprechbar gewesen, es habe keine Amnesie für das Unfallgeschehen bestanden, die Pupillen seien seitengleich direkt und indirekt auf Licht reagibel gewesen. Er habe keine Doppelbilder gesehen und keine Schluckstörungen gehabt, die Halswirbelsäule (HWS) sei frei mobil ohne Druckschmerz über den Dornfortsätzen gewesen, es habe auch kein sensomotorisches Defizit bestanden. Eine Röntgenuntersuchung der HWS habe keine sichtbaren Zeichen einer knöchernen Verletzung gezeigt. Als Diagnose sei eine HWS-Distorsion zu stellen gewesen. Die weitere Behandlung erfolge durch Dr. G.. Der Kläger sei arbeitsunfähig bis voraussichtlich 21. Dezember 2015.
Mit weiterem Nachschaubericht vom 8. Januar 2016 teilte Dr. D. dann mit, dass der Kläger ein paar Tage nach dem Unfall bemerkt habe, dass er Konzentrationsstörungen und ein permanentes Druckgefühl im Kopf habe. Die Kopfschmerzen hätten sich beim Bewegen verstärkt. Er habe über Bewegungsschmerzen der HWS im Bereich des Trapezius beim Bewegen nach rechts geklagt. Der Kläger sei zum Neurologen überwiesen worden, die Erstellung einer Magnetresonanztomographie sei veranlasst worden.
Der den Kläger untersuchende Neurologe und Psychiater H., I., führte in seinem am 13. Januar 2016 erstellten Bericht aus, dass die Diagnose eines Spannungskopfschmerzes bei Distorsion der HWS zu stellen gewesen sei. Das am 8. Januar 2016 von Dr. J., Radiologe, I., erstellte MRT ergab bei C2/C4 einen kleinvolumigen dorsomedian linksbetonten Prolaps ohne Bedrängung nervaler Strukturen sowie beginnende osteochondrotische Veränderungen der Bandscheiben in T2w ohne Niveauverlust und Spondylarthrosen im Segment C4.
Dr. D. teilte der BG Bau nach Auswertung dieser Berichte am 25. Januar 2016 mit, dass der Kläger am selben Tag aus der ambulanten Behandlung entlassen worden sei. Die ärztliche Behandlung erfolge nicht mehr zu Lasten der Berufsgenossenschaft, weil im MRT kein Nachweis von Traumafolgen erbracht worden sei. Eine Weiterbehandlung erfolge durch den Hausarzt zu Lasten der Krankenkasse.
Die BG Bau übersandte der Beklagten am 26. Januar 2016 zuständigkeitshalber den Aktenvorgang, weil die Arbeitgeberin des Klägers, die K., am 21. August 2015 mitteilte, ein Mitgliedsunternehmen der Beklagten zu sein.
Mit Schreiben vom 12. Februar 2016 erhob der Kläger unter Bezugnahme auf ein vorher geführtes Telefonat mit der Beklagten Widerspruch gegen die Einstellung der Behandlungsmaßnahmen ab dem 25. Januar 2016 mit der Begründung, dass bei ihm noch erhebliche Beeinträchtigungen aufgrund der Nackenzerrung bestünden. Darüber hinaus leide er unter erheblichen Gedächtnisstörungen.
In dem daraufhin von der Beklagten übernommenen Verwaltungsverfahren forderte diese zunächst eine Unfallanzeige der Arbeitgeberin des Klägers vom 23. Februar 2016 an, in der der Unfallhergang im Wesentlichen bestätigt wurde.
Ferner übersandte der Kläger der Beklagten u.a. weitere medizinische Unterlagen, eine Verkehrsunfallanzeige der Polizei sowie eine Unfallskizze.
Mit Bescheid vom 4. März 2016 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass „kein Ursachenzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und der Krankheit“ bestehe, weshalb „ab dem 22. Januar 2016 keine Leistungen“ zu erbringen seien. Am 14. Dezember 2015 habe der Kläger „auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall“ erlitten und sich dabei „eine Zerrung der Halswirbelsäule“ zugezogen. Unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit seien bis zum 22. Januar 2016 gegeben. Festgestellt worden seien vorbestehende degenerative Veränderungen, die durch den Unfall nicht richtunggebend verschlimmert worden seien. Eine strukturelle Schädigung der HWS sei durch den Unfall nicht entstanden. Die über den 22. Januar 2016 hinausgehenden Beschwerden seien nicht mehr auf den Unfall, sondern vielmehr auf die unfallunabhängigen Erkrankungen zurückzuführen.
Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben vom 21. März 2016 Widerspruch, den er mit Schreiben vom 31. März 2016 unter Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung des Neurologen L., M., dahingehend begründete, dass dieser zu dem Ergebnis gelangt sei, dass es sich um eine traumatische HWS-Distorsion gehandelt habe. Ein Zusammenhang mit dem Unfall sei deshalb anzunehmen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 27. April 2016 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 3. Mai 2016 Klage beim Sozialgericht (SG) N. erhoben, mit der er unter Verweis auf die bei ihm weiterhin bestehenden Beschwerden die Übernahme der Kosten für die medizinische Behandlung aufgrund des Unfalls vom 14. Dezember 2015 begehrt hat. Ferner hat der Kläger auf die bei ihm bestehenden stärksten Kopfschmerzen verwiesen und weitere medizinische Unterlagen zum Verfahren gereicht (u.a. Reha-Entlassungsbericht der O. Klinik vom 25. Juli 2016).
Das SG hat im weiteren Verfahren eine Leistungs- und Behandlungsübersicht der Krankenkasse des Klägers, der P., vom 16. November 2016 sowie weitere medizinische Unterlagen von den den Kläger behandelnden Ärzten (u.a. Dr. D.) eingeholt.
Der Kläger hat im weiteren Verlauf unter Vorlage eines Arztbriefes der Q. Klinik vom 19. Januar 2017 vorgetragen, dass es bei ihm zu einem Medikamentenübergebrauch gekommen und ein migräneformer Phänotyp diagnostiziert worden sei. Diese Probleme habe er vor dem Unfall nicht gehabt.
Die Beklagte hat erneut darauf verwiesen, dass als Gesundheitserstschaden eine Zerrung der HWS gesichert und eine strukturelle Schädigung mittels MRT ausgeschlossen worden sei. Eine HWS-Zerrung könne zu Kopfschmerzen führen, dieser bilde sich aber nach der Begutachtungsliteratur innerhalb weniger Wochen zurück. Hartnäckige Kopfschmerzen seien überwiegend durch psychologische Faktoren bedingt. Chronische Kopfschmerzen seien allenfalls dann auf den Unfall zu beziehen, wenn diskoligamentäre Verletzungen mit bildgebenden Verfahren nachweisbar seien. Solche Verletzungen seien laut MRT jedoch nicht nachweisbar. Auch eine Verschlimmerung sei nicht anzunehmen, denn vor dem Unfall sei kein klinisch manifester, mit objektivierbaren Gesundheitsstörungen vorhandener Krankheitszustand nachweisbar vorhanden gewesen.
Nach einer vorherigen Anhörung der Beteiligten vom 12. Juni 2017 hat das SG die Klage mit Gerichtsbescheid vom 27. September 2017 abgewiesen und die Entscheidung der Beklagten bestätigt. Traumatische Schädigungen seien durch die MRT-Untersuchung der HWS vom 8. Januar 2016 sowie des Schädels vom 17. Februar 2016 ausgeschlossen worden. Es handele sich um eine HWS-Distorsion Grad I nach Erdmann die nach medizinischen Erfahrungssätzen in längstens wenigen Wochen ausheile. Die über diesen Zeitraum hinausgehenden Beschwerden seien nicht mehr im Kausalitätsmaßstab mit einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis zurückzuführen. Ein ursächlicher Zusammenhang könne auch nicht mit der im Bericht der Q. Klinik vom 19. Januar 2017 als Ursache der Beschwerden angeführten anlagebedingten Migränedisposition sowie einem Medikamentenübergebrauch hergestellt werden. Heilbehandlungsmaßnahmen nach § 26 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII) seien deshalb nur bis zum 22. Januar 2016 zu übernehmen gewesen. Die weitere Behandlung habe ggf. zu Lasten des Krankenversicherungsträgers zu erfolgen.
Gegen den ihm am 2. Oktober 2017 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1. November 2017 Berufung eingelegt, mit der er sein Begehren auf Feststellung weiterer Unfallfolgen sowie die Übernahme von Heilbehandlungskosten über den 22. Januar 2016 hinaus fortgeführt hat. Maßgebend für ihn sei, ob und inwieweit die bei ihm bestehende Kopfschmerzproblematik unfallbedingt sei. Ergänzend zu seinem erstinstanzlichen Vorbringen führt der Kläger hierzu aus, dass eine Klärung nur durch eine umfassende Zusammenhangsbegutachtung erfolgen könne. Er habe stets nur das Medikament eingenommen, welches ihm verordnet und auch ärztlich angeraten worden sei. Von seiner Seite aus habe es keinen Schmerzmittelmissbrauch gegeben.
Der Kläger beantragt,
1. den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts N. vom 27. September 2017 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 4. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 2016 abzuändern,
2. festzustellen, dass ein arzneimittelinduzierter Kopfschmerz (G44.4 nach ICD-10) eine weitere (mittelbare) Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Dezember 2015 ist.
Die Beklagte beantragt,
1. die Berufung zurückzuweisen,
2. hilfsweise, einen Kontoauszug der Apotheke Wolfsmeer (Wolfsmeerapotheke) mindestens zwei Jahre vor dem Unfall einzuholen,
3. weiter hilfsweise, dass sich der Sachverständige Dr. R. ergänzend mit der beratungsärztlichen Stellungnahme der Chirurgin Frau Dr. S. auseinandersetzt.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend. Ergänzend führt sie im Hinblick auf die im Berufungsverfahren vom Senat eingeholten Sachverständigengutachten aus, dass weder der gutachterlichen Einschätzung des Dr. R. noch des Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. zu folgen sei. Zum Zeitpunkt des Abbruchs der Heilbehandlung am 22. Januar 2016 habe ein MOH nicht vorgelegen. Ferner beruft sie sich auf die zum Verfahren gereichte beratungsärztliche Stellungnahme von Dr. S. vom 27. Oktober 2021. Es sei weder von Seiten des Unfallversicherungsträgers noch von Seiten des D-Arztes objektiv ein Rechtsschein i.S.d. § 11 SGB VII gesetzt worden, dass von einer weiteren Behandlung zu Lasten der gesetzlichen Unfallversicherung auszugehen gewesen sei. Vielmehr habe der D-Arzt Dr. D. am 25. Januar 2016 mitgeteilt, dass von keiner durch die BG veranlassten Heilbehandlung mehr auszugehen sei. Auch nach Bekanntgabe des Bescheides vom 4. März 2016 habe der Kläger nicht mehr davon ausgehen können, dass eine Unfallfolge zu Lasten des Unfallversicherungsträgers behandelt werde.
Der Senat hat im vorbereitenden Verfahren von Amts wegen das Sachverständigengutachten des Dr. R., Klinik für Neurologie und klinische Neurophysiologie, U., V., vom 3. August 2018 eingeholt, der zusammenfassend zum Ergebnis gelangt ist, dass als Unfallfolge vom 14. Dezember 2015 eine HWS-Distorsion nach Erdmann vorgelegen habe, der ein Medication-overuse-Headache (MOH) gefolgt sei. Beides müsse mittlerweile als ausgeheilt angesehen werden. Die noch vorhandenen Beschwerden könnten nicht mit einer ausreichenden Wahrscheinlichkeit auf den Unfall zurückgeführt werden. Insbesondere seien die Gedächtnisstörungen nicht erklärbar und nicht auf den Unfall zurückzuführen. Ebenfalls nicht eine beschriebene leichtgradige depressive Episode. Bis zum Ausheilen des MOH (ca. 30. Juni 2017) könne eine ärztliche Behandlungsbedürftigkeit unterstellt werden. Die Frage der Dauer der Arbeitsunfähigkeit könne anhand der vorliegenden Informationen nicht abschließend beantwortet werden.
Auf Anregung der Beklagten hat der Senat weitere Auskünfte des Klägers zu dessen Schmerzmittelgebrauch eingeholt (Schriftsatz vom 5. Oktober 2018 – mit Nachweis durch ärztliche Berichte sowie der Sammelquittungen der W. -Apotheke, X., zum Medikamentenkauf) und die Behandlungskarteikarte des Dr. Y. mit ärztlicher Stellungnahme vom 11. Dezember 2018 beigezogen.
Nach Auswertung der ihr übersandten Unterlagen ist die Beklagte der Einschätzung des Sachverständigen durch Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. Z., Neurologe, AA., vom 14. Januar 2019 entgegengetreten. Dieser ist zusammengefasst zum Ergebnis gelangt, dass grundsätzlich Konsens bestehe, dass bei dem Kläger ein MOH vorgelegen habe. Eine Unfallabhängigkeit sei nur als mittelbare Unfallfolge möglich, weil der Kopfschmerz nicht direkt durch das Unfallereignis verursacht worden sei. Die durch den Behandler L. erfolgte Dauermedikation mit 3 x 800 mg Ibuprofen könne allerdings nicht der Berufsgenossenschaft angelastet werden, denn die berufsgenossenschaftliche Behandlung sei schon zum 22. Januar 2016 abgebrochen worden. Vom Durchgangsarzt (D-Arzt) sei nur eine Medikation des Ibuprofen für drei Tage verordnet worden. Selbst wenn dreimal täglich durch den D-Arzt Ibuprofen verordnet worden wäre, so führe dies bis zum 22. Januar 2016 nicht zu einem MOH, denn der dafür geforderte Zeitraum von mehr als drei Monaten sei nicht erfüllt. Die Medikation durch den Behandler L. sei eindeutig zu Lasten der Krankenkasse erfolgt.
Der Senat hat hierzu die ergänzende Stellungnahme des Dr. R. vom 13. Februar 2019 eingeholt, der bei seiner Einschätzung verblieb und diese nochmals vertieft hat. Die Ibuprofeneinnahme sei aufgrund des Kopfschmerzes erfolgt, der nach dem Unfall aufgetreten sei. Die Verordnung von Ibuprofen hätte nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkasse, sondern zu Lasten der Beklagten erfolgen müssen. Aus den mittlerweile vorgelegten Ausgabelisten der Apotheke könne der Rückschluss auf die Einnahmemengen gezogen werden. Im Rahmen der Behandlung im Januar 2017 sei die Reduktion der Schmerzmitteleinnahme ausdrücklich unter Nennung eines Medikamentenübergebrauchs empfohlen worden, was der Kläger dann auch umgesetzt habe. Von einem Ausheilen des MOH sei nach einem langsamen Reduzieren der Medikation erst ca. zwei Monate nach einem kompletten Absetzen des auslösenden Medikamentes auszugehen; davon könne im Juni 2017 vertretbar ausgegangen werden.
Die Beklagte hat weitere Einwände gegen diese gutachterliche Einschätzung erhoben und nochmals darauf verwiesen, dass die Verordnung der Schmerzmittel nach dem 22. Januar 2016 nicht wegen der Unfallfolgen erfolgt sei.
Der Senat hat im Anschluss weitere medizinische Unterlagen aus dem rentenversicherungsrechtlichen Klageverfahren des SG N. (Az.: S 6 R 121/18 – u.a. Sachverständigengutachten des Dr. AB., Psychiater, AC., vom 14. Januar 2020 – Bl. 79 der Beiakte) beigezogen und diese erneut dem Sachverständigen zur Auswertung vorgelegt. In der weiteren ergänzenden Stellungnahme vom 17. September 2020 ist dieser bei seiner Einschätzung verblieben.
Anschließend hat der Senat auf Anraten der Beklagten die Behandlungskarteikarte des Dr. Y. beigezogen, die sich auf Behandlungen vor dem streitgegenständlichen Unfall bezogen.
Nach einem Berichterstatterwechsel hat der Senat von Amts wegen das Sachverständigengutachten des Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T., Neurologe/Psychiater/Schmerzmediziner, vom 1. September 2021 eingeholt, der zusammenfassend zum Ergebnis gelangt ist, dass grundsätzlich der Einschätzung des Dr. R. zuzustimmen sei. Dies entspreche auch der Einschätzung in den Leitlinien für die Begutachtung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen (Teil III, Begutachtung bei Kausalitätsfragen im Sozial-, Zivil- und Verwaltungsrecht). Lediglich der Zeitraum für die Annahme eines MOH sei anhand der inzwischen vorhandenen Medikamentendokumentation auf Anfang 2017 zu reduzieren. Einen schematischen Abbruch der berufsgenossenschaftlichen Behandlung mit dem Abbruch der Behandlungsbedürftigkeit aufgrund von Unfallfolgen gleichzusetzen, was der Einschätzung des Dr. Z. entspreche, sei nicht schlüssig.
Die Beklagte hat hierzu weitere Einwände durch Vorlage einer beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S., Fachärztin für Chirurgie, vom 27. Oktober 2021 erhoben, die das Vorliegen eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes im erforderlichen Vollbeweis als nicht gesichert ansieht.
Dem Senat haben außer der Prozessakte die den Kläger betreffenden Verwaltungsunterlagen der Beklagten sowie die medizinischen Unterlagen des rentenrechtlichen Klageverfahrens S 6 R 121/18 des SG N. vorgelegen. Alle Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird hierauf verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die gemäß §§ 143 f. des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers ist zulässig.
Die von dem Kläger neben der Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 SGG gestellte und in der mündlichen Verhandlung zutreffend auf die Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG beschränkte Klage ist zulässig. Mit Letzterer kann u.a. die gerichtliche Feststellung verlangt werden, dass eine Gesundheitsstörung Folge eines Arbeitsunfalls ist, wenn der Kläger ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat. Der Kläger begehrt einen bei ihm (unstreitig) diagnostizierten arzneimittelinduzierten Kopfschmerz (MOH - G44.4 nach ICD-10) als weitere (mittelbare) Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Dezember 2015 festzustellen. Daran hat er auch ein berechtigtes Interesse. Denn die Feststellung, ob und welche Gesundheitsstörungen Folgen eines Versicherungsfalls sind, ist für ihn rechtlich bedeutsam. Ist der Verletzte (wie im Regelfall) gesetzlich krankenversichert, ist das (Nicht-)Vorliegen eines Versicherungsfalls und seiner Folgen schon deshalb rasch und verbindlich zu klären, weil nach § 11 Abs. 5 SGB V ein Anspruch auf Krankenversicherungsleistungen (z.B. Heilbehandlung, Krankengeld) ausgeschlossen ist, wenn der Leistungsbedarf im Wesentlichen durch Folgen eines Versicherungsfalls bedingt ist. Damit dient die Feststellung von Unfall- und BK-Folgen - auch im Interesse des Kranken- und Unfallversicherungsträgers - dazu, die sich gegenseitig ausschließenden Leistungs- und Zuständigkeitsbereiche der gesetzlichen Kranken- und Unfallversicherung voneinander abzugrenzen und vor allem im Interesse des Versicherten - aber auch potentieller Schädiger – ggf. Grundlagen und Grenzen der zivilrechtlichen Haftungsbeschränkung nach §§ 104 ff SGB VII für Personenschäden festzulegen, die aus den Gesundheitsstörungen resultieren. Stellt der Unfallversicherungsträger eine Gesundheitsstörung als Folge eines Versicherungsfalls fest, können Versicherte auf dieser Basis entsprechende Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung geltend machen und sich als Leistungsberechtigte gegenüber Leistungserbringern legitimieren, während alle Sozialversicherungsträger, wie z.B. der Rentenversicherungsträger, der unfallbedingt Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit gewährt, haftungsprivilegierte Schädiger, die vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt haben, in Regress nehmen können (vgl. § 110 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Lehnt der Unfallversicherungsträger die Feststellung dagegen ab, kann sich der Krankenversicherungsträger nicht zu Lasten des Versicherten auf den Leistungsausschluss nach § 11 Abs. 5 SGB V und der vermeintliche Schädiger - sofern die Ablehnungsentscheidung auch ihm gegenüber unanfechtbar geworden ist (§§ 77, 141 SGG) - nicht auf das Haftungsprivileg nach §§ 104 ff SGB VII berufen. Ist damit primär für den Versicherten (und mittelbar auch für andere Personen) sowohl die negative als auch die positive Feststellung relevant, besteht ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung, ob Gesundheitsstörungen Folgen eines Versicherungsfalls sind (Bundessozialgericht – BSG -, Beschluss vom 15. Dezember 2020 – Az.: B 2 U 142/20 B – Rn. 7 – zitiert nach juris).
Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass das Interesse gerade an einer gerichtlichen Feststellung grundsätzlich erst "berechtigt" ist, nachdem sich der Versicherte an den Unfallversicherungsträger gewandt und ihm Gelegenheit gegeben hat, das (Nicht-)Vorliegen einer Unfall- bzw. BK-Folge behördlich festzustellen, weil dies im Regelfall der einfachste, schnellste und prozessökonomischste Weg ist, um eine rasche und verbindliche Klärung zu erlangen. Lehnt es der Unfallversicherungsträger ab, die Gesundheitsstörung als Folge des Versicherungsfalls behördlich festzustellen, sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit dieses Verwaltungsakts (§ 31 Satz 1 SGB X) in einem Vorverfahren nachzuprüfen (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG), bevor gegen den Verwaltungsakt in der Gestalt des Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG) zulässigerweise Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var 1 SGG) erhoben (§ 90 SGG) werden kann. Erst mit der Bekanntgabe des Widerspruchsbescheids (§ 87 Abs. 2 SGG) entsteht in diesen Fällen das berechtigte Interesse an einer gerichtlichen Feststellung der Unfall- bzw. BK-Folge, deren Anerkennung der Unfallversicherungsträger durch Verwaltungsakt abgelehnt hat. Insofern sind Anfechtungs- und Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 SGG) eng miteinander verknüpft, was ihre kombinierte Geltendmachung erfordert (§ 56 SGG). Dieses Erfordernis gilt jedoch nicht ausnahmslos: Ist dem Versicherten nicht zuzumuten, die Verwaltungsentscheidung abzuwarten, liegt darin das berechtigte Interesse an einer baldigen gerichtlichen Feststellung, wie es § 55 Abs. 1 am Ende SGG voraussetzt. In diesen Fällen kann der Versicherte die Feststellungsklage isoliert erheben und muss sie nicht mit einer Anfechtungsklage kombinieren. Ein weiteres Zuwarten wird unzumutbar und der Unfallversicherungsträger gibt Anlass zur Erhebung einer isolierten Feststellungsklage, wenn er sich entweder weigert, überhaupt eine Stellungnahme abzugeben, oder schlicht untätig bleibt, indem er das Feststellungsbegehren ohne zureichenden Grund in angemessener Frist sachlich nicht bescheidet (BSG, Beschluss vom 15. Dezember 2020 – Az.: B 2 U 142/20 B a.a.O. – Rn. 8 – zitiert nach juris).
Vorliegend hat die Beklagte mit dem hier streitgegenständlichen Bescheid vom 4. März 2016 zunächst einmal die Erbringung allgemein von „Leistungen“ ab dem 22. Januar 2016 abgelehnt (Satz 1). Im Satz 2 des Bescheides hat sie sodann ausgeführt, dass der Kläger am 14. Dezember 2015 auf dem Weg zur Arbeit einen Verkehrsunfall erlitten und sich dabei „eine Zerrung der Halswirbelsäule“ zugezogen habe. Satz 3 führt aus, dass „unfallbedingte Behandlungsbedürftigkeit und Arbeitsunfähigkeit …bis zum 22.01.2016 gegeben“ seien. Auch in den weiteren Sätzen wird ein MOH als Unfallfolge nicht abgelehnt. Allerdings sind sowohl dem Nachschaubericht des Dr. D. vom 8. Januar 2016 als auch der dem Schreiben des Klägers vom 31. März 2016 beigefügte Bericht des Neurologen Preuß zu entnehmen, dass der Kläger über stärkste Kopfschmerzen geklagt hat. Gleichwohl hat die Beklagte sowohl in ihrem Bescheid vom 4. März 2016 als auch ihrem Widerspruchsbescheid vom 27. April 2016 lediglich auf degenerative bzw. schicksalsmäßige Veränderungen Bezug genommen, die kernspintomographisch festgestellt worden seien, und die Annahme eines Ursachenzusammenhangs mit weiteren Beschwerden abgelehnt. Unter Berücksichtigung des „Empfängerhorizonts“ eines verständigen Beteiligten als Maßstab für die Auslegung von Willenserklärungen (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch – BGB) und des objektiven Sinngehaltes der Erklärung nach dem objektivierten Empfängerverständnis (BSG, Urteil vom 16. März 2021 – Az.: B 2 U 7/19 R – Rn. 13 – zitiert nach juris), konnte der Kläger als Adressat des Verwaltungsaktes die Ausführungen nach Auffassung des Senats nur so verstehen, dass auch die von ihm durch die ärztlichen Berichte vorgetragenen Kopfschmerzen nicht als weitere Folge des Unfalls anerkannt werden. Denn die Beklagte hat in ihrem Widerspruchsbescheid vom 27. April 2016 weiter ausgeführt, dass ein rein zeitlicher Zusammenhang zwischen anhaltenden Beschwerden des Klägers - zu denen die mit ärztlichen Berichten nachgewiesenen Kopfschmerzen auch zählen - und einem vorangegangenen Unfallereignis im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung nicht ausreichend seien. Derartige Unklarheiten gehen zu Lasten der Behörde (BSG, Urteil vom 16. März 2021 – Az.: B 2 U 7/19 R – Rn. 13 – zitiert nach juris). So hat nämlich ein Unfallversicherungsträger im Rahmen des gestuften Verwaltungsverfahrens zunächst über das Vorliegen eines Arbeitsunfalls zu entscheiden (1. Stufe), anschließend dann über die Gewährung von konkreten Leistungsansprüchen (2. Stufe – siehe hierzu ausdrücklich BSG, Urteile vom 16. März 2021 – Az.: B 2 U 7/19 R – Rn. 18 und Az.: B 2 U 17/19 R – Rn. 28; BSG, Urteil vom 17. Dezember 2015 – Az.: B 2 U 17/14 R – Rn. 13, 14 – jeweils zitiert nach juris; siehe auch Aubel – „Zur Zulässigkeit der Leistungsklage bei Ablehnung des Versicherungsfalls in der gesetzlichen Unfallversicherung“ in NZS 2021, Seite 376, 379/; Keller in jurisPR-SozR 16/2021 – Anm. 2 – C.). Vorliegend vermochte der Senat gerade noch mit der erforderlichen hinreichenden Bestimmtheit (§ 33 SGB X) zu erkennen, dass die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid ausdrücklich eine „Zerrung der Halswirbelsäule“ als Unfallfolge festgestellt und sie insofern zumindest konkludent einen Arbeitsunfall anerkannt hat (so auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14. Dezember 2016 – Az.: L 3 U 101/12 – „aus der Anerkennung von Unfallfolgen folgt aber in der Sache, dass damit auch das Vorliegen eines Versicherungsfalls festgestellt wird, der die Voraussetzung für die weitere Feststellung von Gesundheitsstörungen als unfallbedingt ist“).
Die Klage hat in der Sache auch Erfolg. Das SG N. hat zu Unrecht mit dem von dem Kläger angefochtenen Gerichtsbescheid vom 27. September 2017 die Klage abgewiesen. Der Bescheid der Beklagten vom 4. März 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides der Beklagten vom 27. April 2016 ist rechtswidrig und beschwert den Kläger (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Es ist festzustellen, dass der bei dem Kläger diagnostizierte arzneimittelinduzierte Kopfschmerz (G44.4 nach ICD-10) weitere Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Dezember 2015 ist.
Gesundheitsstörungen können als Unfallfolgen nur anerkannt werden, wenn sie selbst sowie auch ein Ursachenzusammenhang mit dem Unfallereignis nachgewiesen sind. Hinsichtlich des Beweismaßstabs gilt dabei, dass das "Unfallereignis" sowie der "Gesundheitserst- bzw. Gesundheitsfolgeschaden" im Wege des Vollbeweises - also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit - für das Gericht feststehen müssen. Demgegenüber genügt für den Nachweis der wesentlichen Ursachenzusammenhänge zwischen diesen Voraussetzungen die (hinreichende) Wahrscheinlichkeit - nicht allerdings die bloße Möglichkeit -, die zu bejahen ist, wenn mehr für als gegen die Annahme des Ursachenzusammenhangs spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (vgl. hierzu Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 20. Dezember 2016 – Az.: B 2 U 16/15 R – Rn. 23 m.w.N.). Sind - wie häufig - mehrere Bedingungen für den Eintritt eines Schadens ursächlich im naturwissenschaftlichen Sinn gewesen, gilt die Kausalitätslehre der wesentlichen Bedingung. Danach sind nur die Ursachen rechtserheblich, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg an dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – Az.: B 2 U 9/11 R – Rn. 33 f.). Die Kausalitätsbeurteilung hat dabei auf der Basis des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands zu erfolgen (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – Az.: B 2 U 9/11 R – Rn. 62 f.). Maßgebend sind demnach die Erkenntnisse, die von der Mehrheit der auf dem betreffenden Gebiet tätigen Fachwissenschaftler anerkannt werden (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 24. Juli 2012 – Az.: B 2 U 9/11 R – Rn. 67 f.). Für die Beurteilung zum Vorliegen bzw. Nichtvorliegen eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes (ICD-10: G44.4) als (mittelbare) Unfallfolge sowie ggf. zur haftungsausfüllenden Kausalität zwischen dieser Erkrankung und den Gesundheits(erst)schäden ist regelmäßig ein schmerztherapeutisches, nervenärztliches und/oder pharmakologisches Sachverständigengutachten (BSG, Beschluss vom 26. November 2019 – Az.: B 2 U 122/19 B – Rn. 7, 8 – zitiert nach juris) einzuholen. Hierzu sind Feststellungen zum konkreten Schmerzmittelverbrauch vor und nach dem Unfallereignis durch Einholung von Befundberichten und/oder Beiziehung der Krankenblattunterlagen der behandelnden Ärzte und Gutachten aus anderen Verfahren zu treffen (Westermann in jurisPR-SozR 14/2020 – Anm. 2 – D.).
Unter Zugrundelegung der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. in dessen am 1. September 2021 erstatteten Gutachten hält der Senat zunächst den Vollbeweis eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes im Sinne des Diagnoseschlüssels G44.4 unter Berücksichtigung u.a. der S1-Leitlinie „Kopfschmerzen bei Übergebrauch von Schmerz- und Migränemittel“ (AWMF-Register-Nr. 30.131) im erforderlichen Vollbeweis für erbracht. Diese Einschätzung überzeugt den Senat, weil sie in Übereinstimmung sowohl mit den Ausführungen des Sachverständigen Dr. R. in dessen Gutachten vom 3. August 2018 und den hierzu nochmals bestätigenden ergänzenden Stellungnahmen vom 13. Februar 2019 und 17. September 2020, als auch der beratungsärztlichen Stellungnahme des Dr. Z. vom 14. Januar 2019 steht, der ausdrücklich ausgeführt hat, dass Konsens darüber besteht, dass bei dem Kläger ein MOH bestand. Die Sachverständigen haben übereinstimmend und für den Senat überzeugend dargelegt, dass sich nach dem Unfallereignis vom 14. Dezember 2015, das unstreitig zu einer von der Beklagten auch bescheidmäßig anerkannten Zerrung der Nackenmuskulatur der HWS geführt hat, bei dem Kläger ein ärztlich auch dokumentierter (z.B. Nachschaubericht des Dr. D. vom 8. Januar 2016) Kopfschmerz aufgetreten ist. In diesem Zusammenhang ist dem Kläger zunächst nur in mäßigem Umfang Ibuprofen rezeptiert worden, dessen Einnahmehäufigkeit sich dann über das Frühjahr 2016 erheblich gesteigert hat, was für den Senat u.a. durch die Medikamentenauflistungen der W. -Apotheke und die Behandlungskarteikarte des Hausarztes Dr. Y. nachgewiesen ist. Dass es hierbei zu einem Übergebrauch bei der Einnahme des Medikamentes Ibuprofen gekommen ist, steht zur Überzeugung des Senats auch durch die übereinstimmenden Einschätzungen der Sachverständigen Dr. R. und Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. fest, zumal dem Kläger in der Q. Klinik AD. die Reduktion der Schmerzmitteleinnahme ausdrücklich bei Nennung eines Medikamentenübergebrauchs empfohlen worden ist.
Dieser Medikamentenübergebrauch ist nach Auffassung des Senats auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentliche Folge des Arbeitsunfalls vom 14. Dezember 2015. Auch dies haben beide Sachverständigen übereinstimmend für den Senat plausibel und nachvollziehbar dargelegt. Die Beklagte hat nämlich in den streitgegenständlichen Bescheiden zu Unrecht einen Abbruch der Heilbehandlungsmaßnahmen bereits zum 22. Januar 2016 vorgenommen.
Aus dem bescheidmäßigen Abbruch der weiteren Heilbehandlung zu ihren Lasten und dem gleichzeitigen Hinweis, dass die weitere Behandlung zu Lasten der Krankenkasse des Klägers erfolgt, ergibt sich zugleich, dass eine Zurechnung des in der Folgezeit bei dem Kläger entstandenen MOH nicht als mittelbare Unfallfolgen im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII erfolgen kann. Denn nach dieser Rechtsvorschrift können als mittelbare Unfallfolgen nur Gesundheitsstörungen anerkannt werden, die infolge der Durchführung einer Heilbehandlung eintreten. Die „Durchführung einer Heilbehandlung“ im Sinne des § 11 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII liegt nach der Rechtsprechung des BSG vor, wenn der Unfallversicherungsträger dem Versicherten einen Anspruch auf eine bestimmte Heilbehandlungsmaßnahme nach den §§ 26 ff SGB VII - nicht notwendig durch Verwaltungsakt in Schriftform - bewilligt oder ihn durch seine Organe oder Leistungserbringer, insbesondere einen Durchgangsarzt, zur Teilnahme an einer solchen diagnostischen oder therapeutischen Maßnahme aufgefordert hat und der Versicherte an der Maßnahme des Trägers den Anordnungen der Ärzte folgend teilnimmt (Urteil vom 6. September 2018 – Az.: B 2 U 16/17 R – Rn. 17 – zitiert nach juris). Es handelt sich daher um eine Rechtsscheinhaftung des Unfallversicherungsträgers. Diese Rechtsscheinhaftung der Beklagten ist sowohl aufgrund des ausdrücklichen Behandlungsabbruchs des Durchgangsarztes Dr. D. vom 25. Januar 2016 mit dem Hinweis auf die fehlenden Traumafolgen im MRT vom 8. Januar 2016 und die Weiterbehandlung durch den Hausarzt zu Lasten der Krankenkasse, als auch den Bescheid vom 4. März 2016 ausgeschlossen (so auch Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 9. Dezember 2020 – Az.: L 3 U 102/19 – Operation mit weitergehenden Folgen erst ein Jahr nach bescheidmäßig Behandlungsablehnung). Einer Zurechnung wegen behaupteter Behandlungs- oder Untersuchungsfolgen nach § 11 SGB VII kann nämlich nur dadurch begegnet werden, dass in einem frühen Stadium die tatbestandlichen Voraussetzungen des geltend gemachten Versicherungsfalls sorgfältig und vollständig ermittelt werden, um rechtzeitig einen Abbruch oder eine Beschränkung der berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung herbeiführen zu können (so Wagner in jurisPK-SGB VII, § 11 Rn. 36).
Eine Zurechnung des bei dem Kläger diagnostizierten MOH ist allerdings nach Auffassung des Senats bereits aufgrund der allgemeinem Zurechnungsregeln zulässig, denn nach der Theorie der wesentlichen Ursache können alle durch das Unfallereignis wesentlich verursachten Schäden diesem als mittelbare Unfallfolge zugerechnet werden. Derartige mittelbare Unfallfolgen gehen der Vorschrift des § 11 SGB VII stets vor, was auch für (lege artis) durchgeführte Behandlungen gilt (Wagner in jurisPK-SGB VII, § 11 Rn. 20, 29; Wiethfeld in BeckOK-SozR, SGB VII, § 11 Rn. 2; Keller in Hauck/Noftz, SGB VII, K § 11 Rn. 3c), und sind im Rahmen der Prüfung der haftungsausfüllenden Kausalität zu prüfen (so bereits Schwerdtfeger in Lauterbach, Gesetzliche Unfallversicherung, § 11 SGB VII, Rn. 6,7 in 4. Auflage, 47. Lieferung, April 2012).
Hierzu hat der Sachverständige Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. für den Senat eindrucksvoll dargelegt, dass die Einschätzung der Beklagten nicht auf Grundlage einer gutachterlichen Einschätzung erfolgt ist, sondern „schematisch“ aufgrund der Erfahrung, wonach nach leichten HWS-Distorsionen gemäß den hierzu vorliegenden Konsens-Tabellen (z.B. Quebec-Task-Force) die Beschwerden üblicherweise nach 6 Wochen abgeklungen sind. Im Fall des Klägers hat nach den Ausführungen von Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. jedoch definitionsgemäß keine HWS-Distorsion vorgelegen, sondern es hat sich aufgrund des Unfallmechanismus vielmehr um einen Frontalaufprall mit Zerrung der dorsalen Halsweichteile gehandelt, für den vergleichbare Konsensusarbeiten nicht vorliegen. Auch diese Einschätzung überzeugt den Senat, denn den Entscheidungen der Beklagten sowohl im Verwaltungs- als auch Widerspruchsverfahren hat zu keinem Zeitpunkt eine gutachterliche bzw. sachverständige Einschätzung oder eine beratungsärztliche Stellungnahme zu Grunde gelegen. Die Beklagte hat vielmehr trotz umgehenden Widerspruchs des Klägers am 12. Februar 2016 bereits zum Zeitpunkt des Behandlungsabbruch durch den Durchgangsarzt und weit vor Erteilung des streitgegenständlichen Bescheides am 4. März 2016 keinerlei medizinische Einschätzung hierzu eingeholt, ob der Zeitpunkt der Einstellung der Heilbehandlung aus medizinischer Sicht gerechtfertigt bzw. zulässig ist. Gleiches gilt für die Ermittlung im erstinstanzlichen Verfahren. Sowohl dem SG als auch der Verwaltung ist es bei fehlender Sachkunde jedoch verwehrt, medizinische Beurteilungen selbst vorzunehmen. Vielmehr ist regelmäßig zur Ermittlung des medizinischen Sachverhalts sachverständige Hilfe erforderlich (BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – Az.: B 2 U 94/20 B – Rn. 9, 10 – zitiert nach juris). Auch bei der Bestimmung und Auslegung der Quellen des aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands sind Gericht und Verwaltung gehalten, weiteren sachkundigen Rat bei einem (medizinischen) Sachverständigen einzuholen. Eine bloße Literaturauswertung durch auf dem einschlägigen Gebiet nicht fachgerecht ausgebildeten Richter und Verwaltungsangestellte genügt zur Feststellung des (nicht allgemeinkundigen oder gerichtsbekannten) aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstands über Kausalbeziehungen in der Regel nicht. Vielmehr wird dessen Klärung im Rahmen eines Gutachtens zu erfolgen haben. Diese Grundsätze gelten ebenso für die Interpretation der von maßgeblichen Literaturstellen und Stellungnahmen eines Durchgangsarztes (BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – Az.: B 2 U 94/20 B – Rn. 9 – zitiert nach juris). Die Beklagte hat jedoch in den streitgegenständlichen Bescheiden eine eigene medizinische Wertung ohne eine entsprechende gutachterliche Einschätzung vorgenommen, was nicht zulässig ist. Unter Beachtung dieses Umstandes kann die Beklagte sich nicht im Nachhinein darauf berufen, dass sie einen Behandlungsabbruch bescheidmäßig festgestellt habe und eine weitere Zurechnung von (mittelbaren) Unfallfolgen nicht mehr zulässig ist. Denn nach den übereinstimmenden sachverständigen Einschätzungen war der Zeitpunkt des Abbruchs der Heilbehandlung medizinisch überhaupt nicht gerechtfertigt, weshalb die Beklagte nach Auffassung des Senats auch über den 22. Januar 2016 hinaus weiterhin für die Durchführung der Heilbehandlung zuständig war. Die Einschätzungen der Sachverständigen Dr. R. und Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. überzeugen den Senat, denn sie haben bei ihrer Einschätzung die Vorgaben der Leitlinie zur „Begutachtung psychischer und psychosomatischer Störungen“ (AWMF-Registernummer 051-029, Teil III, Seite 47 – „Empfehlung III.8“) ausreichend berücksichtigt. Insoweit die Beklagte die gegenteilige Auffassung unter Vorlage der beratungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. vertritt, vermochte der Senat dieser als qualifiziertes Parteivorbringen zu wertenden Einschätzung (BSG, Beschluss vom 6. Oktober 2020 – Az.: B 2 U 94/20 B – Rn. 11 – zitiert nach juris) nicht zu folgen. Für die Beurteilung, ob ein MOH vorliegt, ist – wie bereits ausgeführt – nach der Rechtsprechung des BSG regelmäßig die Einholung eines schmerztherapeutischen, nervenärztlichen und/oder pharmakologisches Sachverständigengutachten erforderlich (BSG, Beschluss vom 26. November 2019 – Az.: B 2 U 122/19 B – Rn. 7, 8 – zitiert nach juris). Soweit die Beklagte nunmehr eine chirurgische Stellungnahme vorlegt, so kommt dieser fachfremden medizinischen Stellungnahme keine weitere Bedeutung zu. Besonders kritisch ist hierzu anzumerken, dass bereits aus der beratungsärztlichen Stellungnahme des Neurologen/Schmerzmediziner Dr. Z. als für die Beurteilung eines MOH zuständigen Mediziner ausdrücklich hervorgeht, dass „Konsens“ besteht, dass bei dem Kläger ein MOH vorlag. Allein deshalb überzeugt die Stellungnahme von Dr. S. den Senat nicht. Hinzukommt, dass dem Sachverständigen Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing. T. sämtliche Behandlungsunterlagen (einschließlich Patientenkartei des Dr. Y. für die Zeit vor dem streitgegenständlichen Unfall) zur Auswertung vorgelegen haben und dieser eine umfassende Einschätzung zum Vorliegen eines MOH treffen konnte.
Im Ergebnis ist damit der Vollbeweis eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes erbracht, der nach Auffassung des Senats auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit wesentlich auf die (unmittelbaren) Unfallfolgen zurückzuführen ist. Der Abbruch der Heilbehandlung durch die Beklagte zum 22. Januar 2016 ist nicht durch eine gutachterliche Einschätzung gedeckt und erfolgte rechtswidrig. Die Berufung hat deshalb aus dem im Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.
Der Senat hat sich auch nicht veranlasst gesehen, den weiteren Hilfsanträgen der Beklagten zu 2. und 3. nachzukommen. Hinsichtlich des Hilfsantrags zu 2. hält der Senat die weitere Einholung eines Kontoauszuges der W. -Apotheke nicht für erforderlich, denn dem Sachverständigen Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing T. haben bereits die Behandlungsunterlagen des den Kläger behandelnden Arztes Dr. Y. vor dem Unfallereignis (ab 15. Januar 2010) zur Auswertung vorgelegen, woraus sich keine weiteren Hinweise für einen Arzneimittelmissbrauch bereits vor dem Unfallereignis ergeben haben. Hinsichtlich des Hilfsantrags zu 3. sieht der Senat keine weitere Veranlassung, den im Berufungsverfahren gehörten Sachverständigen Dr. R. erneut zu den beratungsärztlichen Ausführungen der Chirurgin Dr. S. anzuhören. Bei den Ausführungen der als Chirurgin tätigen Beratungsärztin handelt es sich um fachfremde Äußerungen, die sowohl für die Diagnosestellung eines MOH als auch auf neurologisch-psychiatrischem Fachgebiet nicht maßgeblich sind. Hierzu hat der Senat auf dem maßgeblichen Fachgebiet entsprechenden Beweis von Amts wegen durch Einholung des Sachverständigengutachtens des Prof. Dr. med. Dr. Dipl.-Ing T. erhoben. Dieses Sachverständigengutachten hat die Frage des MOH im vorliegenden Verfahren erschöpfend beantwortet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat kein Anlass bestanden, die Revision zuzulassen.