Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 03.05.2024, Az.: 3 A 219/24

Aufklärungsprozess; Gesundheitsbeeinträchtigungen; Länderübergreifende Verteilung UMA; UMA; rechtliche Vertretung; vorläufige Inobhutnahme; Vormundsbestellung; länderübergreifende Verteilung einer UMA gemäß § 42b SGB VIII; prozessuale Kostenlast des Jugendamtes wegen Verschuldens

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
03.05.2024
Aktenzeichen
3 A 219/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 14919
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0503.3A219.24.00

Amtlicher Leitsatz

Ein Jugendhilfeträger handelt schuldhaft im Sinne des § 155 Abs. 4 VwGO, wenn es das einer Anmeldung einer UMA zur länderübergreifenden Umverteilung vorgelagerte Abschätzungsverfahren nach § 42a Abs. 2 SGB VIII intransparent gestaltet und dabei insbesondere ihm zur Kenntnis gelangten Anhaltspunkten für vorliegende psychische Beeinträchtigungen der UMA nicht weiter nachgeht. Ebenfalls schuldhaft im Sinne des § 155 Abs. 4 VwGO ist es, wenn der Jugendhilfeträger das Anmeldeverfahren trotz eines erkennbar entgegenstehenden Willens der UMA betreibt, ohne parallel dafür Sorge zu tragen, dass das zuständige Familiengericht für die UMA eine rechtliche Vertretung (Vormund) bestellt, die die Belange der UMA neutral und unvoreingenommen in den Abschätzungsprozess einbringen und ggf. damit die Durchführung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens verhindern kann.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt.

Die Beigeladene zu 1. trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2., die nicht erstattungsfähig sind.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Das Verfahren ist gemäß § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen, denn die Klage ist mit Erklärung vom 02.05.2024 zurückgenommen worden.

Die Kostenentscheidung folgt abweichend von § 155 Abs. 2 VwGO aus § 155 Abs. 4 VwGO. Hiernach können Kosten, die durch das Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. Die Norm ist - mit Ausnahme des § 161 Abs. 3 VwGO - lex specialis gegenüber allen anderen Kostenregelungen (vgl. Olbertz in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 36. EL Februar 2019, § 155, Rn. 24). Einem Beigeladenen können hiernach auch Kosten auferlegt werden, obwohl er keinen Antrag gestellt hat (Bader in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, Verwaltungsgerichtsordnung, 8. Auflage 2021, Rn. 15, m. w. N.; OVG NRW, Beschluss vom 20.11.2001 - 13 B 1116/01 - NVwZ-RR 2002, 702, beck-online; Werner in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 155, Rn. 77).

Die Beigeladene zu 1. hat die Erhebung der Klage und damit die Entstehung der damit verbundenen Kosten maßgeblich dadurch schuldhaft verursacht, dass sie vorprozessual in einem für die Klägerin nicht ausreichend transparenten Verfahren deren Anmeldung zur länderübergreifenden Verteilung vorgenommen und der Klägerin keine ausreichende Möglichkeit eingeräumt hatte, ihre Interessen und Bedürfnisse darzulegen. Intransparent war und ist bis zur Beendigung des Verfahrens insbesondere der interne "Aufklärungsprozess" der Beigeladenen zu 1. in Bezug auf die gesundheitliche Verfassung der Klägerin in psychischer Hinsicht und die damit verbundene Frage, ob sich daraus Gründe ergeben könnten, die gegen eine länderübergreifende Umverteilung sprechen. Dahingehenden gewichtigen Hinweisen aus der ersten Kontaktphase zwischen der Klägerin und der Beigeladenen zu 1., die ihr Anlass zu einer weiteren Aufklärung geboten hätten, ist die Beigeladene zu 1. behördenintern im weiteren Verlauf der Entscheidungsvorbereitung offenkundig nicht nachgegangen, sondern hat sich auf eine weitere Aufklärung allein hinsichtlich der körperlichen Verfassung der Klägerin beschränkt.

Im Übrigen erachtet es der Berichterstatter als - zumindest mitkausal - schuldhaftes Verhalten im Sinne des § 155 Abs. 4 VwGO, dass die Beigeladene zu 1. der Klägerin keine ausreichende rechtliche Vertretung hat zukommen lassen, um ihre Interessen in dem nach der vorläufigen Inobhutnahme gemäß § 42a SGB VIII eingeleiteten Abschätzungsverfahren zu wahren. Insbesondere hat die Beigeladene zu 1. es versäumt, unverzüglich die Bestellung eines Vormunds für die Klägerin bei dem dafür zuständigen Familiengericht anzuregen. Auch wenn eine dahingehende Pflicht nicht unmittelbar in § 42a SGB VIII konkret gesetzlich verankert ist und das Jugendamt der Beigeladenen zu 1. gemäß § 42a Abs. 3 SGB VIII selbst ein rechtliches Notvertretungsrecht für die Klägerin bzw. eine dahingehende Pflicht hatte, zeigt die Regelung in § 88a Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, die die örtliche Zuständigkeit einer bestellten Amtsvormundschaft oder -pflegschaft in der Phase der vorläufigen Inobhutnahme regelt, dass nach der gesetzgeberischen Intention eine solche Bestellung gerade auch in der Phase der vorläufigen Inobhutnahme regelhaft erfolgen soll. Eine solche Vorgehensweise dürfte im Übrigen auch nach der UN-KRK, die in Deutschland im Rang eines Bundesgesetzes unmittelbar anwendbares Recht ist, namentlich in Anwendung des Art. 12 Abs. 2 UN-KRK, geboten sein und sich zudem auch aus Art. 24 Abs. 1 UAbs. 1 Satz 1 RL 2013/33/EU ergeben (vgl. zur defizitären Umsetzung dieser Norm im Rahmen des § 42a SGB VIII und der daraus resultierenden unmittelbaren Anwendung der Richtlinie: VGH BW, Beschluss vom 09.04.2024 - 12 S 77/24 -, juris). Dass dasjenige Jugendamt, das eine vorläufig in Obhut genommene minderjährige Person zur länderübergreifenden Verteilung anmelden will, nicht zugleich gemäß § 42a Abs. 3 SGB VIII sich selbst gegenüber ggf. entgegenstehende Belange dieser Person neutral, objektiv und mit der erforderlichen Nachdrücklichkeit berücksaichtigt, liegt, wie sich gerade - zum wiederholten Male - am Beispiel der Beigeladenen zu 1. zeigt, auf der Hand.

Gerichtskosten werden nach § 188 Satz 2 VwGO nicht erhoben.

Gründe, die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen zu 2. für erstattungsfähig zu erklären, liegen nicht vor.

Dieser Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 92 Abs. 3 Satz 2, § 158 Abs. 2 VwGO).