Verwaltungsgericht Braunschweig
v. 15.01.2002, Az.: 4 A 318/00
Antragstellung; Kenntnis; Krankenhilfe; Notlage; Sozialhilfe; Sozialhilfeträger; Sozialleistungsträger; Träger der Sozialhilfe; Zurechnung
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 15.01.2002
- Aktenzeichen
- 4 A 318/00
- Entscheidungsform
- Gerichtsbescheid
- Referenz
- WKRS 2002, 43790
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 37 Abs 2 S 2 BSHG
- § 37 Abs 2 S 1 BSHG
- § 5 Abs 1 BSHG
- § 5 Abs 2 BSHG
- § 16 Abs 2 S 2 SGB 1
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Die Kenntnis einer Notlage durch einen anderen Sozialleistungsträger ist dem Träger der Sozialhilfe zuzurechnen. Die Rechtsprechung zur analogen Anwendung vom § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I im Sozialhilferecht gilt auch nach Einfügung des ab dem 1.08.1996 geltenden § 5 Abs. 2 BSHG fort.
Tenor:
Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15.12.1998 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 11.09.2000 verpflichtet, dem Kläger Krankenhilfe durch Übernahme der Restkosten der am 5.11.1998 abgeschlossenen Zahnersatzbehandlung in Höhe von 2.048,37 DM (1.047,31 €) zu gewähren.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Der Gerichtsbescheid ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann eine vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht zuvor der Kläger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Übernahme der Restkosten einer Zahnersatzbehandlung.
Der Kläger bezieht keine laufende Hilfe zum Lebensunterhalt, erfüllt aufgrund seiner Einkommensverhältnisse jedoch die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Krankenhilfe. Er ist bei der DAK Braunschweig krankenversichert.
Der Kläger reichte bezüglich seiner im Jahr 1998 durchgeführten Zahnersatzbehandlung bei der DAK einen Heil- und Kostenplan für den Oberkiefer vom 5.03.1998 und für den Unterkiefer vom 16.07.1998 ein. Daraufhin bewilligte die DAK dem Kläger durch Schreiben vom 6.03.1998 einen "doppelten Festzuschuss" für den Oberkiefer in Höhe von 2.664,-- DM und durch Schreiben vom 6.08.1998 für den Unterkiefer in Höhe von 2.510,-- DM. Nach endgültiger Einfügung des Zahnersatz am 5.11.1998 stellte der behandelnde Zahnarzt durch Rechnungen vom 5.11.1998 dem Kläger für den Unterkiefer 4.517,53 DM und für den Oberkiefer 3.602,84 DM in Rechnungen. Nach Einreichung dieser Rechnungen bei der DAK erhöhte diese durch Schreiben vom 17.11.1998 ihren Zuschuss auf zusammen 6.072,-- DM, so dass ein ungedeckter Rest von 2.048,37 DM verblieb.
Bereits mit Schreiben vom 16.11.1998 beantragte der Kläger bei der Beklagte die Übernahme der zu diesem Zeitpunkt noch ungedeckten Restkosten in Höhe von 2.946,37 DM. Dieser Antrag wurde durch Bescheid vom 15.12.1998 mit der Begründung abgelehnt, dass Krankenhilfe nach § 37 Abs. 2 BSHG den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen solle und deshalb darüber hinausgehende Restkosten grundsätzlich nicht übernommen werden könnten. Der hiergegen eingelegte Widerspruch, durch den der Kläger nur noch die Restkosten in Höhe von 2.048,37 DM verfolgt, wurde durch den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 11.09.2000 zurückgewiesen; zur Begründung wird nur noch darauf verwiesen, dass einem Anspruch § 5 BSHG entgegenstünde, weil bei Antragstellung durch Schreiben vom 16.11.1998 der Zahnersatz bereits eingegliedert gewesen sei und eine nachträgliche Sozialhilfegewährung nicht in Betracht komme.
Hiergegen hat der Kläger am 25.09.2000 den Verwaltungsrechtsweg beschritten. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, dass § 37 Abs. 2 BSHG nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einer Übernahme der durch Krankenkassenleistungen nicht gedeckten Restkosten einer Zahnersatzbehandlung nicht entgegenstünde und es auch nicht um die Problematik eines "Vergangenen Bedarfs" ginge, weil er bereits zuvor die Kostenvoranschläge bei der Krankenkasse eingereicht habe.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 15.12.1998 und ihres Widerspruchsbescheides vom 11.09.2000 zu verpflichten, die Restkosten der Zahnersatzbehandlung zu übernehmen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung führt sie im Wesentlichen aus, dass dem Kläger aufgrund der ihm durch Schreiben der DAK vom 6.03.1998 und 6.08.1998 mitgeteilten Festzuschüsse und der diesen Schreiben als Anlage beigefügten Heil- und Kostenpläne vor Durchführung der Zahnersatzbehandlung ersichtlich gewesen sein muss, dass die Krankenkasse nicht die vollen Kosten übernehmen wird. Trotzdem habe sich der Kläger erst nach Eingliederung des Zahnersatzes und Erhalt der Arztrechnungen an die Beklagte gewandt, so dass der Tatbestand des vergangenen Bedarfs erfüllt sei.
Auf Nachfrage des erkennenden Gerichts hat die DAK am 3.07.2001 mitgeteilt, dass die Kostenansätze des Zahnarztes in den zwei Rechnungen vom 5.11.1998 sachgerecht und kostenangemessen berechnet worden seien.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Das erkennende Gericht ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen des § 84 Abs. 1 VwGO für eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid vorliegen. Die Beteiligten hatten Gelegenheit, sich zu dieser Form der Entscheidung zu äußern.
Die zulässige Klage ist auch begründet.
Der Anspruch des Klägers auf Übernahme der (bisher) nicht gedeckten Restkosten für die bei ihm inzwischen durchgeführte Zahnersatzbehandlung ergibt sich aus § 37 Abs. 1 und 2 BSHG. Zum Anwendungsbereich dieser Vorschrift hat das Bundesverwaltungsgericht ausgeführt: § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG steht der Übernahme (restlicher) Kosten des Zahnersatzes durch den Träger der Sozialhilfe nicht entgegen. Wenn es in dieser Regelung heißt, dass Leistungen der Krankenhilfe in der Regel den Leistungen entsprechen sollen, die nach den Vorschriften über die gesetzliche Krankenversicherung gewährt werden, so bedeutet dies nur, dass der Sozialhilfeträger darauf beschränkt ist, das als Bedarf an Krankenhilfe anzuerkennen, was nach dem Leistungsrahmen der gesetzlichen Krankenversicherung in diesem Versicherungszweig seiner Art nach und hinsichtlich der näheren Leistungsmodalitäten als Bedarf anerkannt werden kann. Eine Begrenzung des Leistungsumfangs auch dahin, dass Sozialhilfe nur in der Höhe gewährt werden kann, in der Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung in Betracht kommen, ist § 37 Abs. 2 Satz 2 BSHG dagegen nicht zu entnehmen. Während in der gesetzlichen Krankenversicherung Teilleistungen und damit ein dem Versicherten verbleibender Eigenanteil gerechtfertigt sein mögen, ist im Sozialhilferecht die Hilfeleistung so zu bemessen, dass der Hilfebedürftige seinen notwendigen Bedarf tatsächlich in vollem Umfang befriedigen kann. Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung, durch die dieser Bedarf nicht in voller Höhe gedeckt wird, können deshalb zwar - im Hinblick auf den Vorrang dieser Leistungen (§ 2 BSHG) - zur Kürzung, nicht aber zum gänzlichen Wegfall der Sozialhilfe führen (BVerwG, Urt. v. 17.06.1993 - 5 C 11.91 - BVerwGE 92, 336 = NDV 1993, 480 = FEVS 44, 265; Urt. v. 30.09.1993 - 5 C 49.91 - BvwerGE 94, 211 = NDV 1994, 150).
Das erkennende Gericht hat keine Zweifel, dass es sich bei den in den Rechnungen vom 5.11.1998 abgerechneten Leistungen um erforderliche Leistungen im Sinne des § 37 Abs. 2 Satz 1 BSHG handelt. So hat die DAK ausdrücklich bescheinigt, dass die Kostenansätze des behandelnden Zahnarztes sachgerecht und kostenangemessen gewesen sind. Dem ist die Beklagte in ihrem Schriftsatz vom 14.09.2001 nicht substantiiert entgegen getreten.
Der Anspruch auf Krankenhilfe scheitert auch nicht an § 5 Abs. 1 BSHG. In § 5 BSHG ist festgelegt, dass Sozialhilfe lediglich dazu dient, eine gegenwärtige Notlage zu beheben, nicht aber für vergangene Zeitabschnitte Hilfe zu gewähren. Nach § 5 Abs. 1 BSHG setzt die Sozialhilfe ein, sobald dem Sozialhilfeträger bekannt wird, dass die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen. Diese vom Gesetz gezogene zeitliche Grenze des Sozialhilfeanspruchs schließt es grundsätzlich aus, einen vor dem Zeitpunkt des Bekanntwerdens entstandenen Bedarf sozialhilferechtlich zu berücksichtigen; Sozialhilfe kann nicht zur Behebung einer Notlage beansprucht werden, die im Zeitpunkt der beanspruchten Hilfeleistung nicht mehr besteht. Ausnahmen vom Erfordernis eines tatsächlich fortbestehenden Bedarfs kommen um der Effektivität der gesetzlichen Gewährung des Rechtsanspruches des Bürgers auf Fürsorgeleistungen willen in Betracht, so auch bei einer zwischenzeitlichen Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, wenn es dem Hilfesuchenden nicht zuzumuten war, die Entscheidung des Sozialhilfeträgers abzuwarten (BVerwG, Urt.v. 30.04.1992 - 5 C 12.87- BVerwGE 90, 154, 156).
Bis Mai 1995 war anerkannt (BVerwGE 66, 335; 69, 5), dass die nach § 5 BSHG erforderliche Kenntnis des Sozialhilfeträgers nicht durch eine entsprechende Kenntnis eines anderen Sozialleistungsträgers ersetzt werden kann. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Bundesverwaltungsgericht nämlich entschieden, dass § 16 SGB I im Recht der Sozialhilfe keine Anwendung findet. Seit dem Urteil vom 18.5.1995 (BVerwGE 98, 248 ff.) wendet das Bundesverwaltungsgericht jedoch § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auch im Sozialhilferecht entsprechend an. Nach § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I gilt ein Antrag auch als zu dem Zeitpunkt gestellt, in dem er bei einem unzuständige Leistungsträger, bei einer für die Sozialleistung nicht zuständigen Gemeinde oder bei einer amtlichen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland im Ausland gestellt wird. Diese Regelung wendet das Bundesverwaltungsgericht entsprechend auch auf die Situation des Bekanntwerdens im Sinne des § 5 Abs. 1 BSHG an. Diese Rechtsprechung hat das Nds. Oberverwaltungsgericht übernommen (vgl. Urt. vom 24.4.1997 - 12 L 7330/95 -). Durch Gesetz vom 23.7.1996 (BGBl. I S. 1088) ist sodann mit Wirkung ab dem 1.08.1996 § 5 Abs. 2 BSHG eingeführt worden. Somit stellte sich die Frage, ob nach dieser Gesetzesänderung die bisherige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Anwendung des § 16 Abs. 1 SGB I weitergilt. Der 4. Senat des Nds. Oberverwaltungsgerichts (Urt.v. 19.1.1999 - 4 L 2970/99 -) hat sich für eine Weitergeltung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ausgesprochen und dabei insbesondere die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 13/3904 S. 44) gewürdigt. Dieser Ansicht hat sich inzwischen auch der 12. Senat des Nds. Oberverwaltungsgericht angeschlossen (vgl. B. v. 21.10.99 - 12 L 3780/99 -). Bezüglich der Entscheidung des 4. Senates war eine Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesverwaltungsgericht anhängig (5 C 41.99), es ist jedoch nicht zu einer Sachentscheidung gekommen, da sich dieses Verfahren in der Hauptsache erledigt hatte. So bleibt abzuwarten, ob und wann das Bundesverwaltungsgericht Gelegenheit erhält, sich selbst zu dieser Problematik zu äußern. Das erkennende Gericht schließt sich der überzeugenden Rechtsprechung beider für sozialhilferechtliche Fragen zuständigen Senate des Nds. Oberverwaltungsgericht an. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass eine Neufassung des § 5 Abs. 2 BSHG die entsprechende Anwendung des § 16 Abs. 2 Satz 2 SGB I auch deshalb nicht verdrängen kann, weil auch § 16 SGB I gemäß § 37 Satz 2 SGB I vom Vorbehalt abweichender Regelungen ausgenommen ist. Deshalb müsste bei einer entsprechenden Gesetzesänderung auch § 37 Satz 2 SGB I modifiziert werden.
Nach diesen Grundsätzen ist der Beklagten die Kenntnis der DAK zuzurechnen, die diese bereits im März bzw. Juli 1998 erlangt hatte, d.h. deutlich vor der Eingliederung des Zahnersatzes im November 1998. Die nicht erfolgte Weiterleitung des Begehrens des Klägers an die Beklagte, kann nicht zu Lasten des Klägers gehen.
Die Klage hat deshalb in vollem Umfang Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.