Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 05.07.2011, Az.: 1 K 136/10

Auslegung einer Erklärung im Zweifel zu Gunsten des Steuerpflichtigen als Einspruch

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
05.07.2011
Aktenzeichen
1 K 136/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 30799
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2011:0705.1K136.10.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 19.08.2013 - AZ: X R 44/11

Fundstelle

  • StBW 2012, 9

Einkommensteuer 2007

Auslegung einer Erklärung im Zweifel zu Gunsten des Steuerpflichtigen als Einspruch

Nichtzulassungsbeschwerde - BFH-Az.: X B 114/11

Tatbestand

1

Streitig ist, ob die Kläger lediglich Einspruch gegen den Solidaritätszuschlag 2007 oder auch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 eingelegt haben.

2

Am 30. April 2009 erließ der Beklagte einen Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag. Darin war der Beklagte den Angaben der Kläger in ihrer Einkommensteuererklärung gefolgt.

3

Am 12. Mai 2009 ging beim Beklagten ein Schreiben des steuerlichen Beraters der Kläger mit folgendem Inhalt ein:

" St.-Nr.: ........ -

Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom 30.04.2009

Sehr geehrte Damen und Herren,

gegen den Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom 30. April 2009 legen wir Einspruch ein.

Der Einspruch richtet sich gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags. Der Bund der Steuerzahler hat beim Niedersächsischen Finanzgericht Klage gegen die Erhebung des Solidaritätszuschlags eingereicht, Aktenzeichen 7 K 143/08. Das Musterverfahren bezieht sich auf den Veranlagungszeitraum 2007.

Wir erklären uns damit einverstanden, dass das Rechtsbehelfsverfahren ruht bis zur höchstrichterlichen Klärung dieser Rechtsfrage."

4

Am 30. November 2009 reichte der steuerliche Berater ein weiteres Schreiben ein, in dem er ausführte, der Einspruch werde dahingehend weiter begründet, dass der Kläger sich im Dezember 2007 für die Investition in eine Photovoltaikanlage entschieden und am 11. Dezember 2007 einen entsprechenden Auftrag erteilt habe. Die Lieferung der Photovoltaikanlage sei im April 2008 erfolgt. Für diese nehme der Kläger den Investitionsabzugsbetrag gemäß § 7g Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) in Anspruch. Dem Schreiben war eine Anlage GSE sowie die Ermittlung der Einkünfte aus Gewerbebetrieb 2007 beigefügt. Hierin machte der Kläger einen Verlust aus Gewerbebetrieb in Höhe von ./. ........ EUR geltend.

5

Mit Bescheid vom 7. Mai 2007 verwarf der Beklagte den Einspruch der Kläger gegen den Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2007 vom 30.11.2009 als unzulässig.

6

Er führte aus, der Einspruch der Kläger vom 12. Mai 2007 sei als ausschließlicher Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags auszulegen und nicht als Einspruch gegen die Festsetzung der Einkommensteuer. Zwar hätten sich die Kläger formell gegen die Festsetzung der Einkommensteuer, Kirchensteuer und des Solidaritätszuschlags gewandt, materiell jedoch lediglich die Festsetzung des Solidaritätszuschlags beanstandet. Insoweit fehle es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des wirklich Gewollten in der Rechtsbehelfsschrift. Daher sei der wirkliche Wille der Kläger durch Auslegung der Erklärung zu ermitteln. Unter der Maßgabe, dass derjenige Verwaltungsakt angefochten werde, der angefochten werden müsse, um zu dem erkennbar erstrebten Erfolg zu kommen, ergebe sich aus der Zielrichtung des Schreibens vom 12. Mai 2009 eindeutig die ausschließliche Anfechtung der Festsetzung des Solidaritätszuschlags für 2007. Das Schreiben vom 30. November 2009 stelle daher einen erstmaligen Einspruch gegen den Bescheid über die Festsetzung der Einkommensteuer 2007 dar, der jedoch nicht fristgerecht innerhalb der einmonatigen Rechtsbehelfsfrist eingelegt worden und damit nach § 358 Satz 2 Abgabenordnung (AO) unzulässig sei.

7

Im vorliegenden Klageverfahren widersprechen die Kläger der vom Beklagten vorgenommenen Auslegung des Einspruchs. Sie hätten mit Schreiben vom 12. Mai 2009 Einspruch gegen alle mit diesem Bescheid festgesetzten Steuern eingelegt, sich aber zunächst darauf beschränkt, Gründe zur unzutreffenden Festsetzung des Solidaritätszuschlags vorzutragen, um ein Ruhen des Verfahrens gegen Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag zu erreichen. Sie hätten nicht beabsichtigt, den Einspruch auf den Solidaritätszuschlag zu beschränken. Anderenfalls hätten sie bereits lediglich Einspruch gegen den Bescheid für 2007 über den Solidaritätszuschlag eingelegt.

8

Da sie mit dem Schreiben vom 12. Mai 2009 auch fristgerecht gegen den Einkommen-steuerbescheid 2007 Einspruch eingelegt hätten, hätten sie diesen - wie geschehen - später begründen können.

9

Die Kläger beantragen,

den Einspruchsbescheid vom 7. Mai 2010 aufzuheben.

10

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

11

Er nimmt Bezug auf seine Einspruchsentscheidung und führt ergänzend aus, im Schreiben vom 12. Mai 2009 hätten die Kläger keine Beschwer durch die Einkommensteuerfestsetzung dargelegt, sondern ausschließlich ausgeführt, dass sich der Einspruch gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags richte. Die Kläger hätten in diesem Schreiben nicht zu erkennen gegeben, dass sie die Festsetzung der Einkommensteuer hätten anfechten wollen. Erstmals mit Schreiben vom 30. November 2009 hätten sie sich konkret gegen die Festsetzung der Einkommensteuer gewandt. Die Einkommensteuerfestsetzung sei jedoch zu diesem Zeitpunkt bereits bestandskräftig gewesen, sodass das Schreiben vom 30. November 2009 als unzulässiger - weil verspäteter - Einspruch zurückzuweisen gewesen sei.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet.

13

Der Beklagte hat das Schreiben vom 30. November 2009 zu Unrecht als erstmaligen Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 gewertet und diesen Einspruch als unzulässig abgewiesen.

14

Das Schreiben der Kläger vom 12. Mai 2009 ist dahingehend auszulegen, dass die Kläger (auch) Einspruch gegen den Einkommensteuerbescheid 2007 eingelegt haben.

15

Außerprozessuale Verfahrenserklärungen sind entsprechend § 133 Bürgerliches Gesetzbuch auszulegen. Der Auslegung steht nicht entgegen, dass das Schreiben vom steuerlichen Berater der Kläger verfasst worden ist. Auch Schreiben fachkundiger Bevollmächtigter sind der Auslegung zugänglich, soweit sie nicht eindeutig formuliert sind (vgl. BFH-Urteile vom 27. Mai 2004 IV R 48/02, BFHE 206, 211, [BFH 27.05.2004 - IV R 48/02] BStBl II 2004, 964 und vom 26. Oktober 2004 IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325). Entscheidend ist, wie das Finanzamt als Erklärungsempfänger den objektiven Erklärungswert des Schreibens verstehen musste (vgl. BFH-Urteile vom 28. Januar 1988 IV R 12/86, BFHE 152, 476, BStBl II 1988, 530 und vom 26. Oktober 2004 IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325). Dabei ist nach der ständigen Rechtsprechung des BFH bei auslegungsfähigen Rechtsbehelfen grundsätzlich davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Rechtsbehelf einlegen will, der seinem materiell-rechtlichen Begehren am ehesten zum Erfolg verhilft (BFH-Urteile vom 31. Oktober 2000 VIII R 47/98, BFH/NV 2001, 589 und vom 26. Oktober 2004 IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325; BFH-Beschluss vom 1. Juli 2003 IX B 208/02, BFH/NV 2003, 1534). Die unrichtige oder fehlende Bezeichnung als Einspruch allein schadet nicht (§ 357 Abs. 1 Satz 4 AO). Lässt daher die Äußerung des Bevollmächtigten eines Steuerpflichtigen ungewiss, ob er einen Einspruch einlegen will, so ist im Allgemeinen die Erklärung als Einspruch zu betrachten, um zugunsten des Steuerpflichtigen den Eintritt der formellen und materiellen Bestandskraft aufzuhalten (vgl. BFH-Urteile vom 27. Februar 2003 V R 87/01, BFHE 201, 416, [BFH 27.02.2003 - V R 87/01] BStBl II 2003, 505 und vom 26. Oktober 2004 IX R 23/04, BFH/NV 2005, 325). Dies gebietet auch das verfassungsrechtlich durch Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes (GG) gewährleistete Gebot des effektiven Rechtsschutzes (vgl. z.B. Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts --BVerfG-- vom 31. Juli 2001 1 BvR 1061/00, Deutsches Verwaltungsblatt 2001, 1747, m.w.N.; vom 2. September 2002 1 BvR 476/01, BStBl II 2002, 835 und das BFH-Urteil vom 24. August 2004 VIII R 7/04, BFH/NV 2005, 11, sowie den BFH-Beschluss vom 6. Juli 2005 XI B 45/03, BFH/NV 2005, 2029).

16

Vorliegend ist das Schreiben vom 12. Mai 2009 nicht eindeutig formuliert und damit auslegungsbedürftig. Zwar richtet sich der Einspruch - ausdrücklich - "gegen den Bescheid für 2007 über Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag vom 30.04.2009", aufgrund der Tatsache, dass es sich um einen Sammelbescheid handelt und im Folgenden lediglich Ausführungen zum Solidaritätszuschlag gemacht werden, ist jedoch von einer Auslegungsbedürftigkeit auszugehen (vgl. BFH-Urteil vom 8. Mai 2008 VI R 12/05, BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116).

17

Unter Zugrundelegung der o.g. Maßgaben, hätte der Beklagte das Schreiben vom 12. Mai 2009 dahingehend verstehen müssen, dass die Kläger Einspruch gegen alle drei Steuerfeststetzungen, nämlich Einkommensteuer, Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag, eingelegt haben. Dies ergibt sich daraus, dass sie dies im Einleitungssatz wörtlich so geschrieben haben. Diese Formulierung diente nicht lediglich der Identifizierung des Schriftstückes, denn dieses war bereits zuvor im "Betreff" genau bezeichnet. Misst man dem Einleitungssatz jedoch eine über die reine Identifizierung hinausgehende Bedeutung zu, muss der tatsächliche Wortlaut Berücksichtigung finden. Nach diesem haben die Kläger Einspruch (auch) gegen den Einkommensteuerbescheid eingelegt. Dem steht nicht entgegen, dass die Kläger in der Einspruchsschrift nur ihren Rechtsbehelf gegen die Festsetzung des Solidaritätszuschlags, nicht aber den gegen die Einkommensteuerfestsetzung begründen. Eine Begründung des Einspruchs ist nicht erforderlich (§ 357 Abs. 3 AO). Der Einspruchsschrift ist auch nicht zu entnehmen, dass nur die Festsetzung des Solidaritätszuschlags angegriffen werden soll.

18

Der Einspruchsbescheid vom 07.05.2010 war daher aufzuheben.

19

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

20

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung.