Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 22.10.2021, Az.: 7 A 2701/21

Beißen; Feststellung; Gefahrenvorsorge; Gefährlich; Hund; Prüfungspflicht; Prüfungsumfang; Rehabilitation; Verdacht; Wesenstest

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
22.10.2021
Aktenzeichen
7 A 2701/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2021, 71027
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Anforderungen an die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes

Fortführung VG Oldenburg (Oldenburg), Beschluss vom 3. August 2020 - 7 B 1671/20 -, juris

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil
vorläufig vollstreckbar.

Der Streitwert wird auf 5000,- Euro festgesetzt.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen den Bescheid des Beklagten vom 20. Juli 2021, mit dem dieser nach einem Beißvorfall vom 18. Juni 2021 festgestellt hat, dass es sich bei dem von den Klägern gehaltenen Labrador-Rüden Balou um einen gefährlichen Hund im Sinne des § 7 NHundG handelt.

Die Kläger haben am 30. Juli 2021 Klage erhoben, zu deren Begründung sie sich im Wesentlichen darauf stützen, dass der im Zuge des eingeleiteten Erlaubnisverfahrens einzuholende Wesenstests ergeben werde, dass der Hund nicht gefährlich sei, wonach auch diese Einstufung wegfalle.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid des Beklagten vom 20. Juli 2021 aufzuheben.

Der Beklagte tritt der Klage bezugnehmend auf die Gründe des angegriffenen Bescheides, diese wiederholend, vertiefend und ergänzend, entgegen und beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs des Beklagten Bezug genommen, der Gegenstand der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die das Gericht nach Übertragungsbeschluss der Kammer vom 21.Oktober 2021 durch den Einzelrichter und nach § 101 Abs. 2 VwGO im ausdrücklich erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet, da sich der angegriffene Bescheid des Beklagten und damit insbesondere die Gefährlichkeitsfeststellung als rechtmäßig erweist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.

Der angegriffene Bescheid findet seine Rechtsgrundlage in § 7 NHundG. Nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 NHundG hat die Fachbehörde, wenn sie einen Hinweis darauf erhält, „dass ein Hund, der von einer Hundehalterin oder einem Hundehalter nach § 1 Abs. 2 gehalten wird, eine gesteigerte Aggressivität aufweist, insbesondere 1. Menschen oder Tiere gebissen oder sonst eine über das natürliche Maß hinausgehende Kampfbereitschaft, Angriffslust oder Schärfe gezeigt hat, … den Hinweis zu prüfen.“ Die Gefährlichkeit eines Hundes ergibt sich aus einer über das artgerechte Potential von Hunden hinausgehenden, nämlich gesteigerten Aggressivität eines Hundes, was auch schon der Wortlaut von § 7 Abs. 1 Satz 1 einleitender Satzteil NHundG zeigt, wo es ausdrücklich „gesteigerte Aggressivität“ heißt. Insofern liegen in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 und 2 NHundG mit der einleitenden Wortwahl „insbesondere“ gesetzliche Regelbeispiele vor. Dabei geht der Gesetzgeber mit Regelbeispiel Nr. 1, 1. Fall, davon aus, dass eine das artgerechte Potential übersteigende Aggressivität vorliegt, wenn der Hund einen Menschen oder ein Tier gebissen hat. Ergibt die von der Behörde einzuleitende Prüfung danach Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass ein Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential vorliegt und in diesem Sinne von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, stellt sie die Gefährlichkeit dieses Hundes fest, § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG, ohne dass das Gesetz auf Rechtsfolgenseite weitere Anforderungen für diese Feststellung voraussetzt oder etwa ein Ermessen eröffnet. Auch braucht es nicht weiterer Prüfung des Hundes durch Veterinäre. Ergibt die Prüfung also nach Satz 1 Tatsachen, die den Verdacht rechtfertigen, dass von dem Hund eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht, so stellt die Fachbehörde fest, dass der Hund gefährlich ist (§ 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG). So liegt der Fall, denn Balou hat einen Menschen gebissen. Die Tatumstände und zutreffende rechtliche Würdigung ergeben sich hier aus den Feststellungen und Gründen im angegriffenen Bescheid iVm. der Klageerwiderung vom 1. September 2021 sowie insbesondere auch den dort zutreffend vorgenommenen rechtlichen Erwägungen, § 117 Abs. 5 VwGO. Ergänzend und vertiefend hält das Gericht das Folgende fest.

Für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes ist insbesondere in der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 31. August 2012 - 11 ME 221/12 - und Beschluss vom 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -, jew. juris < und www.rechtsprechung.niedersachsen.de >, mwN. aus der Senatsrechtsprechung) geklärt und ausreichend, dass aufgrund von Tatsachen der Verdacht der Gefährlichkeit dieses Hundes besteht, und dass schon bei einem bloßen Verdacht der Gefährlichkeit der betreffende Hund wie ein tatsächlich gefährlicher Hund zu behandeln ist (Nds. OVG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 11 ME 92/05 -, juris, Nds. VBl. 2005, 213). Durch die Regelungen zur Feststellung der Gefährlichkeit hat der Gesetzgeber auf die (damals u.a. durch Medienberichte über Beißvorfälle beeinflusste) geänderte Wahrnehmung der durch Hunde gegebenen Gefahren in der Bevölkerung reagiert und eine Rechtsgrundlage für Grundrechtseingriffe geschaffen, mit der nicht erst einer auf Tatsachen begründeten Gefahr, sondern bereits einer möglichen Gefahr (Gefahrenverdacht oder Besorgnispotential) begegnet werden soll (Nds. OVG, Beschl. v. 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -, NdsVBl. 2012, 190, juris, Rn. 7). Mit dieser Regelung im NHundG ist das Recht der Hundehaltung in Niedersachsen durch eine Absenkung der Gefahrenschwelle von der Gefahrenabwehr zur weiterreichenden Gefahrenvorsorge geschärft. Ziel des § 7 NHundG ist also (auch) eine Vorsorge gegen möglicherweise erst drohende Schäden. Nach der § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 und Alt. 2 NHundG zu entnehmenden und verfassungsrechtlich nicht zu beanstandenden Wertung des Gesetzgebers wird grundsätzlich bereits die Bissigkeit eines Hundes als Regelbeispiel eines nicht mehr artgerechten Verhaltens eines als gewöhnliches Haustier gehaltenen Hundes und damit als Gefahr für die öffentliche Sicherheit eingestuft. Damit bedarf nicht diese Annahme, sondern bedürfen Ausnahmen von diesem Grundsatz besonderer Begründung (Nds. OVG, Beschl. v. 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -, juris, Rn. 7). Wie für die Einleitung der Gefährlichkeitsprüfung reicht es auch für die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes aus, dass der betroffene Hund (einen Menschen, aber auch) ein anderes (Haus-)Tier, insbesondere einen anderen Hund, nicht nur ganz geringfügig verletzt hat. Hierfür genügt grundsätzlich jede Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit des anderen Tieres, unabhängig von deren Schwere; außer Betracht bleiben nur ganz geringfügige Verletzungen wie etwa einzelne ausgerissene Haare oder sehr kleine oberflächliche Kratzer (Nds. OVG, Beschluss vom 3. September 2008 - 11 LA 3/08 -; Beschluss vom 13. Dezember 2006 - 11 ME 350/06 -, mwN.). Aus Entstehungsgeschichte, Systematik und Sinn und Zweck des NHundG folgt danach, dass unter diesen Voraussetzungen nicht die Annahme der Gefährlichkeit, sondern Ausnahmen von diesem Grundsatz besonderer Begründung bedürfen. Solche Ausnahmen kommen „bei einem erlaubten Beißen im Rahmen des bestimmungsgemäßen Gebrauchs etwa eines Dienst-, Wach- oder Jagdhundes“ oder „bei der Verletzung eines anderen (Haus-)Tieres durch ein eindeutig artgerechtes Abwehrverhalten“ oder „ggf. auch beim Beißen oder Töten von Mäusen oder Insekten“ in Betracht (Nds. OVG, Beschluss vom 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -, juris), vgl. dazu bereits die Begründung des Gesetzentwurfes zum NHundG a.F., LT-Drs. 14/3715, S. 10. Im Übrigen soll jedoch gerade durch die Formulierung der Regelbeispiele in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Alt. 1 und Alt. 2 NHundG weiterhin die Amtsermittlungspflicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG begrenzt werden (so ausdrücklich der schriftliche Bericht zum NHundG a.F., LT-Drs. 14/4006, S. 4. a.E.; siehe auch Nds. OVG, Beschl. v. 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -, juris, Rn. 7). Daraus folgt zugleich, dass Bedenken gegen eine ggf. "überschießende" Kontrolle eines als gefährlich eingestuften Hundes nicht auf der Tatbestandsseite, d.h. durch höhere Anforderungen an die Feststellung der Gefährlichkeit, sondern auf der Rechtsfolgenseite, d.h. bei den in § 14 NHundG geregelten Einschränkungen für das Führen eines gefährlichen Hundes Rechnung zu tragen ist (Nds. OVG, Beschl. v. 18.1 2012 - 11 ME 423/11 -, a.a.O., juris, Rn. 8). So hat der Gesetzgeber die Möglichkeit geschaffen, vom Leinenzwang ganz oder teilweise abzusehen (s. § 14 Abs. 3 S. 2 NHundG), was insbesondere dann in Betracht zu ziehen ist, wenn der Wesenstest keinerlei Hinweise auf eine tatsächliche Gefährlichkeit eines Hundes ergibt (Nds. OVG, Beschluss vom 18. Januar 2012 - 11 ME 423/11 -). Danach bestimmt sich auch die Reichweite der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle der behördlichen Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes, weshalb eine Beweisaufnahme auch bei widerstreitenden Zeugenaussagen nicht geboten erscheint, wenn die Tatsache der Verletzung eines anderen Tieres als solche feststeht (Nds. OVG, Beschluss vom 31. August 2012 - 11 ME 221/12 -; Beschluss vom 27. Juli 2010 - 11 PA 265/10 -; Beschluss vom 12. Mai 2005 - 11 ME 92/05 -). Keine Bedeutung kommt dabei im Rahmen der Prüfung der Gefährlichkeit des betroffenen Hundes grundsätzlich dem Verhalten des anderen Tieres/Hundes und etwaigen Verletzungen des betroffenen Hundes selbst zu (Nds. OVG, Beschluss vom 27. Juli 2010 - 11 PA 265/10 -).

Ausgehend von diesen Grundsätzen ist die von dem Beklagten getroffene Feststellung, dass es sich bei dem Hund der Kläger um einen gefährlichen Hund im Sinne von § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG handelt, zu Recht ergangen. Das Angriff- und Beißverhalten von Balou kann nach Auswertung der vorliegenden Unterlangen insgesamt nur als gefährlich eingestuft werden. Diese Feststellungen haben die Kläger im Kern auch nicht weiter angegriffen, zumal es sich hier schon um den zweiten Beißvorfall handeln dürfte (s. Bl. 7, 8 VV).

Mit Blick auf das Vorbringen der Kläger, der Wesenstest werde die Ungefährlichkeit von Balou ergeben, hält das Gericht noch ergänzend, teilweise wiederholend, Folgendes fest. Während für die Feststellung der Gefährlichkeit ausreichend ist, wenn aufgrund von Tatsachen der Verdacht der Gefährlichkeit eines Hundes besteht, ist erst im Erlaubnisverfahren und dort im Rahmen des Wesenstests nach § 13 NHundG zu überprüfen, ob der Hund die Fähigkeit zu sozialverträglichem Verhalten besitzt (§ 13 Abs. 1 S. 1 NHundG). Erst der Nachweis (ebenda) dieser Sozialverträglichkeit im Rahmen des Wesenstests eröffnet die Möglichkeit, die Erlaubnis zu erhalten, den weiterhin als gefährlich eingestuften Hund überhaupt führen zu dürfen. Der „bestandene“ Wesenstest ist insoweit Voraussetzung gemäß §§ 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Nr. 2 NHundG. Die insofern festgestellte Sozialverträglichkeit gilt hierfür, wirkt aber nicht zurück auf die Gefährlichkeitsfeststellung nach § 7 NHundG. Daher auch bedarf es für die Feststellung der Gefährlichkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 2 NHundG nicht einer abschließenden Prüfung, ob das von dem Hund bei dem Beißvorfall gezeigte Verhalten eine gesteigerte Aggressivität oder eine über das natürliche Maß hinausgehende Angriffslust aufweist (Nds. OVG, Beschlüsse v. 30. Juni 2015 - 11 LA 250/14 -, juris, Rn. 5 f., und v. 3. März 2015 - 11 LA 172/14 -, juris, Rn. 10 f.). Der Wesenstest nach § 13 NHundG ist gemäß § 10 Abs. 1 Nr. 2 NHundG der Feststellung der Gefährlichkeit des Hundes zudem zeitlich nachgelagert und stellt eine Voraussetzung für die Erlaubnis zum Halten des bereits als gefährlich eingestuften Hundes dar, ist mithin nicht bereits Gegenstand der näheren Überprüfung des Sachverhalts nach § 7 Abs. 1 Satz 1 NHundG, die zu der Feststellung der Gefährlichkeit führen kann (Nds. OVG, Beschlüsse v. 30. Juni 2015 - 11 LA 250/14 -, juris, Rn. 5, und v. 3. März 2015 - 11 LA 172/14 -, juris, Rn. 11). Dementsprechend vermag das positive Ergebnis eines nach dem Beißvorfall erstellten Gutachtens eines Tierarztes nichts an der auf dem Gefahrenverdacht beruhenden Feststellung der Gefährlichkeit zu ändern. Daher können die Kläger auch nicht mit ihrem Einwand aus dem Schriftsatz vom 15. Oktober 2021 gehört werden,

„dass die Feststellung der Gefährlichkeit eines Hundes kein Umstand ist, der das Tier auf seine Lebenszeit begleiten muss. Es ist deshalb zulässig, den Wegfall des Attributs „gefährlich“ durch einen bestandenen Wesenstest nachzuweisen.“

Ihnen ist insoweit zuzugeben, dass es vereinzelt rechtspolitische Bestrebungen geben dürfte, die „Rehabilitation“ eines als gefährlich eingestuften Hundes zu ermöglichen, und dieses offenbar sogar noch möglichst während des Laufes der aktuellen Niedersächsischen Legislaturperiode (siehe z.B. Bericht des NDR, ohne Fundstellen-Nachweis, und dazu evtl. ergänzend Zeitungsartikel der Hannoverischen Allgemeinen Zeitung vom 5. Juli 2021 zum Wesenstest). So heißt es in der Zeitungsmeldung einer Zeitungsmeldung der Nordwest-Zeitung NWZ vom 9. Oktober 2021 wörtlich:

„... aus Sicht des CDU-Fraktionschef wichtig, das Katastrophenschutzgesetz anzupassen. Dabei ... Auch das Jagdgesetz und das Gesetz zum Halten von Hunden will die Koalition noch anpacken. Dabei sollen Regeln aufgestellt werden, damit Hunde, die auffällig geworden sind, wieder „rehabilitiert“ werden können.“

Allerdings ergibt sich dies sodann aus der Antwort der Landesregierung auf die dringliche Anfrage der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen nach Gesetzesvorhaben vom 14. Oktober 2021 nicht [siehe Nds. Landtag, Plenarprotokoll 18/119 (Vorläufiger Bericht) vom 14. Oktober 2021].

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 167 Abs. 2 VwGO.

Die Festsetzung des Streitwertes folgt aus § 52 GKG iVm. Nr. 35.2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).