Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 05.07.2000, Az.: 6 B 342/00
Diabetes mellitus; Fahrerlaubnisentziehung; HbAC1-Wert; Stoffwechsellage
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 05.07.2000
- Aktenzeichen
- 6 B 342/00
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2000, 41245
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 3 StVG
- § 11 FeV
- § 14 FeV
- § 13 FeV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Sofortige Entziehung der Fahrerlaubnis wegen behandlungsbedürftiger Diabetes und noch nicht ausgeglichener Stoffwechsellage nach eingeleiteter Behandlung.
Tenor:
Der Antrag des Antragstellers auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung des Antragsgegners vom 08. Juni 2000 wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Verfahren 6 B 342/00 auf 8.000,-- DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der ... geborene Antragsteller erhielt erstmals im Jahre 1970 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3, die ihm durch Urteil des Amtsgerichts Hannover vom 07. Mai 1971 wegen Trunkenheit am Steuer wieder entzogen wurde. Im Juni 1986 wurde dem Antragsteller eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 neuerteilt, die im Januar 1987 auf die Klasse 2 erweitert wurde. Auf einen Antrag des Antragstellers vom 14. Januar 1999 wurde die Fahrerlaubnis der Klassen 2 und 3 u.a. auf die neuen Fahrerlaubnisklasse CE und BE umgestellt. Im Rahmen des Verwaltungsverfahrens hatte sich der Antragsteller im Hinblick auf eine bei ihm durchgeführte Bypassoperation an der linken Halsschlagader sowie wegen des Verdachts auf Diabetes Mellitus fachärztlichen Untersuchungen durch einen Arzt für Kardiologie sowie für innere Krankheiten zu unterziehen. In dem kardiologischen Gutachten vom 09. Februar 1999 wurde festgestellt, dass infolge der Bypassoperation und des Aortenaneurysmas eine Einschränkung der Fahreignung nicht gegeben sei. Das internistische Gutachten vom 15. Februar 1999 kam zu dem Ergebnis, dass bei dem Antragsteller ein leicht erhöhter präklinischer Diabetes Mellitus vorliege, der noch nicht medikamentös zu behandeln sei; allerdings müsse von dem Antragsteller die erforderliche Diät eingehalten werden. Eine Einschränkung der Fahreignung bestehe derzeit nicht.
Mit Verfügung vom 16. Februar 2000 veranlasste der Antragsgegner eine Kontrolluntersuchung zu den gesundheitlichen Voraussetzungen für die Fahreignung und gab dem Antragsteller auf, im Hinblick auf den bei ihm festgestellten erhöhten Blutdruck und den Diabetes Mellitus das Gutachten eines Arztes für innere Medizin mit verkehrsmedizinischer Qualifikation beizubringen. In dem Gutachten des TÜV Nord vom 10. Mai 2000 kamen die Sachverständigen zu dem Ergebnis, dass in Bezug auf den Blutdruck des Antragstellers derzeit keine die Fahreignung einschränkenden Befunde hätten festgestellt werden können. In Bezug auf den Diabetes Mellitus hätten die Laborwerte einen leicht erhöhten Blutzucker von 124 mg/dl sowie einen leicht erhöhten HbA1C-Wert von 6,9 v.H. ergeben. Das aufgrund dieser erhöhten Werte im April 2000 ärztlich verordnete Medikament Metformin könne das Reaktionsvermögen beeinträchtigen. Mit der Medikamenteneinnahme habe sich der HbA1C-Wert von 6,9 auf 6,6 v.H. verringert. Während dieser Phase der Neueinstellung des Diabetes Mellitus seien bis zum Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage (frühestens nach drei Monaten) gemäß dem Gutachten "Krankheit und Kraftverkehr" sowie nach Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung die Voraussetzungen zum Führen eines Kraftfahrzeugs nicht gegeben. Im Hinblick darauf, dass der Untersuchte ein Jahr ohne ärztliche Kontrolluntersuchungen habe verstreichen lassen, müsse an dieser Beurteilung festgehalten werden. Zu einer erneuten Begutachtung seien der Nachweis über eine Diabetesschulung, ein Blutzuckertagebuch mit den Ergebnissen selbstgemessener Blutzuckerwerte sowie ein ärztlicher Bericht mit den Ergebnissen von Blutzucker- und HbA1C-Werten mit Angaben zur Häufigkeit von Über- und Unterzuckerungen (mit und ohne Bewusstseinsverlust) vorzulegen.
Unter dem 16. Mai 2000 kündigte der Antragsgegner dem Antragsteller seine Absicht an, die Fahrerlaubnis unter Anordnung der sofortigen Vollziehung zu entziehen. Hierauf teilte der Antragsteller mit Schreiben vom 20. Mai 2000 mit: Er sei krank geschrieben und werde dem Antragsgegner die ärztlichen Untersuchungsbefunde übersenden. Sobald seine Fahreignung wieder gegeben sei, werde er die Tätigkeit als Kraftfahrer wieder aufnehmen. Er gehe davon aus, dass eine Entziehung der Fahrerlaubnis nicht erfolgen werde.
Mit Verfügung vom 08. Juni 2000 entzog der Antragsgegner dem Antragsteller unter Anordnung der sofortigen Entziehung die Fahrerlaubnis der Klassen C, CE, C1, C1E, B, BE, M, L und T. Hiergegen erhob der Antragsteller am 12. Juni 2000 Widerspruch mit der Begründung, dass seine Blutzuckerwerte im Toleranzbereich lägen und er außerdem seine Ernährungsweise umgestellt habe. Zu einer erneuten Untersuchung sei er jederzeit bereit. Durch seinen Prozessbevollmächtigten legte der Antragsteller außerdem ein ärztliches Attest seines Hausarztes M. aus Goslar vom 15. Juni 2000 über die medizinische Einstellung des Diabetes Mellitus vor. Darin führt der Hausarzt u.a. aus, dass die Blutzucker- und HbAC1-Werte ärztlicherseits gut eingestellt seien und die gemessenen HbAC1-Werte zwischen 6,0 und 6,6 mg/dl lägen.
Am 16. Juni 2000 erhob der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Klage (6 A 341/00) und suchte außerdem um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nach (6 B 342/00). Zur Begründung machte er geltend:
Die Entziehung der Fahrerlaubnis sei nicht gerechtfertigt. Er führe mit einem transportablen Blutdruckmessgerät regelmäßige Blutdruckkontrollen durch und halte sie in einer Tabelle fest. Wegen des Diabetes Mellitus sei nach dem Gutachten des TÜV Nord vom 10. Mai 2000 lediglich für die Dauer von drei Monaten die Fahreignung in Frage gestellt worden. Nach einer Mitteilung seines Hausarztes würden jetzt die Normwertgrenzen nicht mehr überschritten. Diese Mitteilung liege sowohl dem TÜV Nord als auch dem Antragsgegner vor. Die Maßnahme des Antragsgegners sei im Hinblick auf diese Sachlage unangemessen. Er sei auf die Fahrerlaubnis angewiesen und habe wegen der Fahrerlaubnisentziehung bereits eine Kündigung seines Arbeitgebers erhalten.
Der Antragsteller beantragt,
1. ihm für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt H. zu bewilligen,
2. die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs gegen die Fahrerlaubnisentziehungsverfügung des Antragsgegners vom 08. Juni 2000 wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen.
Er entgegnet:
Dem Antragsteller habe die Fahrerlaubnis entzogen werden müssen, da er aufgrund seines Diabetes Mellitus zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet sei. Die Phase der Neueinstellung der Diabetesbehandlung, die noch nicht abgeschlossen sei, dauere mindestens drei Monate. Die Entziehung der Fahrerlaubnis hätte vom Antragsteller vermieden werden können, wenn er sich nach dem Untersuchungsergebnis des Jahres 1999 der danach notwendigen Behandlung unterzogen hätte. Ihm sei Gelegenheit gegeben worden, sich im Verlauf des Widerspruchsverfahrens erneut begutachten zu lassen. Die am 27. Juni 2000 beim TÜV Nord durchgeführte Nachuntersuchung habe ergeben, dass der HbAC1-Wert erneut erhöht sei. Nach einer Mitteilung des TÜV Nord sei dieser Wert auf 6,7 v.H. (Normbereich bis 6,1 v.H.) angestiegen. Dieser Mitteilung sei außerdem zu entnehmen, dass sich der Antragsteller in Kürze wegen des Diabetes Mellitus einer Rehabilitationsmaßnahme in Fallingbostel unterziehen werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren hat keinen Erfolg (§§ 166 VwGO, 114 ZPO). Diesem Begehren kann schon deshalb nicht entsprochen werden, weil die nur wenige Tage nach Zustellung der angefochtenen Verfügung und vor Abschluss des Widerspruchsverfahrens erhobene Klage unzulässig ist (§ 68 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht insoweit auf den §§ 166 VwGO, 118 Abs. 1 Satz 4 ZPO und 1 Abs. 1b GKG.
2. Der nach § 80 Abs. 5 VwGO statthafte Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht begründet.
Der Antragsgegner hat die sofortige Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung in formell ordnungsgemäßer Weise angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und in ausreichender Weise schriftlich begründet, warum das besondere Interesse an dem Sofortvollzug als gegeben erachtet wird (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO).
Auch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung des gegen den Bescheid erhobenen Rechtsbehelfs wiederherzustellen. Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine derartige Vollziehungsanordnung setzt zu ihrer Rechtswirksamkeit voraus, dass ohne sie das öffentliche Interesse in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, so dass demgegenüber die privaten Interessen des von der Vollziehungsanordnung Betroffenen zurücktreten.
Ein überwiegendes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung, mit der die Fahrerlaubnis nach § 3 Abs. 1 StVG entzogen worden ist, ist regelmäßig anzunehmen, wenn sich die an der Fahreignung des Betroffenen bestehenden Zweifel so weit verdichtet haben, dass die ernste Besorgnis gerechtfertigt erscheint, er werde andere Verkehrsteilnehmer in ihrer körperlichen Unversehrtheit oder in ihrem Vermögen ernstlich gefährden, wenn er bis zur endgültigen gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Entziehungsverfügung weiterhin am motorisierten Straßenverkehr teilnimmt (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rn 1273 m.w.N.). Eine solche Gefahr für die Allgemeinheit ist insbesondere dann anzunehmen, wenn besondere Umstände eine Gefährlichkeit gegenwärtig begründen, die im Wege der Abwägung zu Lasten der Allgemeinheit und damit im öffentlichen Interesse nicht hingenommen werden kann.
Es ist im Interesse der Sicherheit des Straßenverkehrs zur Zeit nicht zu verantworten, dass der Antragsteller als Inhaber einer Fahrerlaubnis der ihm entzogenen Klassen weiterhin am öffentlichen Straßenverkehr teilnimmt. In dem Gutachten des TÜV Nord vom 10. Mai 2000 sowie in dem ergänzenden Untersuchungsbericht vom 27. Juni 2000 werden aufgrund der diesen Untersuchungen zugrunde liegenden Befunde erhebliche Bedenken gegen die Eignung des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen der genannten Klassen erhoben. Diese Bedenken sind zur Zeit nicht ausgeräumt, so dass einstweilen die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung noch weiter gelten muss. Sowohl nach dem Gutachten "Krankheit und Kraftverkehr" des Gemeinsamen Beirats für Verkehrsmedizin (Heft 73 der Schriftenreihe des Bundesministeriums für Verkehr, August 1996, Seite 17 f.) als auch nach Anlage 4 zu den §§ 11, 13 und 14 FeV (Nr. 5.2) ist ein Diabeteskranker zum Führen von Kraftfahrzeugen aller Klassen ungeeignet, wenn er nach einer Stoffwechsel-Dekompensation erstmals oder überhaupt neu auf eine Behandlung eingestellt wird. Dieser Eignungsmangel ist für die Dauer der Einstellungsphase bis zum Erreichen einer ausgeglichenen Stoffwechsellage anzunehmen. Im Hinblick darauf, dass beim Antragsteller noch am 27. Juni 2000 ein erhöhter HbA1C-Wert festgestellt worden ist und er sich wegen des Diabetes Mellitus einer Rehabilitationsmaßnahme zu unterziehen hat, ist eine ausgeglichene Stoffwechsellage des Antragstellers nicht gesichert. Es ist deshalb weiterhin von einer mangelnden Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen auszugehen, so dass der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen ist.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des Wertes, der in einem Verfahren zur Hauptsache anzunehmen wäre (Klasse CE = 8.000,-- DM; Klasse BE = 4.000,-- DM; berufliche Nutzung = 4.000,-- DM; davon 50 v.H.).