Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 18.06.1996, Az.: 11 L 7675/95

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
18.06.1996
Aktenzeichen
11 L 7675/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 13221
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1996:0618.11L7675.95.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover 30.09.1992 - 10 A 151/91
nachfolgend
BVerwG - 09.09.1997 - AZ: BVerwG 9 C 43/96
OVG Niedersachsen - 29.06.1998 - AZ: 11 L 5510/97

Tenor:

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer Hannover - vom 30. September 1992 wird zurückgewiesen.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt die Kosten des Berufungsverfahrens einschließlich der vor dem Bundesverwaltungsgericht in dem Verfahren 9 C 4.95 entstandenen Kosten. Insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Die Revision wird zugelassen.

Gründe

1

I.

Der Kläger begehrt seine Anerkennung als Asylberechtigter.

2

Der 1975 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger syrisch-orthodoxer Glaubenszugehörigkeit. Seine Eltern stammen aus dem Dorf ... (Bezirk ...), also aus dem Gebiet des Tur Abdin im Südosten der Türkei. Die vier älteren Geschwister des Klägers wurden dort ebenfalls geboren. Die Familie lebte von der Landwirtschaft. 1974 zog zunächst der Vater, 1975 die restliche Familie nach Istanbul um. Dort wurden der Kläger und ein weiterer Bruder geboren.

3

Anfang Juli 1985 reiste der Kläger mit seiner Familie in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte - ebenso wie die übrigen Familienmitglieder - die Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung wurde im wesentlichen ausgeführt: Bereits im Dorf Enhil seien seine Eltern von Moslems bedrängt worden. Die Moslems hätten Vieh gestohlen und die Ernte verwüstet. Immer wieder hätte es Überfälle gegeben. Um diesen Drangsalierungen zu entkommen, hätten sich seine Eltern 1974/75 entschieden, nach Istanbul umzusiedeln. Dort habe sein Vater nach einiger Zeit eine Stellung als Hausmeister bekommen. Dafür hätten sie in dem entsprechenden Haus frei wohnen dürfen. Daneben habe sein Vater noch bei Gebäudereinigungsfirmen gearbeitet. Nachdem ihre christliche Glaubenszugehörigkeit bekanntgeworden sei, seien sie häufiger angegriffen worden. Man habe sie aufgefordert, sich den moslemischen Gepflogenheiten zu beugen oder die Türkei zu verlassen. 1983 hätten ihn moslemische Kinder verletzt. Seine älteste Schwester habe von Moslems entführt werden sollen. Fensterscheiben und Türen ihrer Wohnung seien teilweise beschädigt worden. Sein Vater habe sich mehr zur neuapostolischen Kirche hingezogen gefühlt und deswegen in Istanbul teilweise auf den Straßen gepredigt. Auch deswegen seien sie von Moslems angegriffen worden. Sie hätten die Polizei bzw. den örtlichen Gemeindevorsteher eingeschaltet, jedoch jeweils ohne Erfolg. Wegen all dieser Vorkommnisse habe sich sein Vater entschlossen, zusammen mit der Familie die Türkei zu verlassen.

4

Mit Bescheid vom 4. Juni 1986 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge das Asylbegehren des Klägers und der übrigen Familienmitglieder ab.

5

Der Kläger hat daraufhin - ebenso wie die anderen Familienangehörigen - Klage erhoben und u.a. vorgetragen, die Ausreise aus Instanbul sei letztlich nur eine Fortsetzung der bereits 1974/75 begonnenen Flucht aus dem Tur Abdin vor Verfolgung; auch Istanbul habe sich jedoch nicht als sicherer Zufluchtsort erwiesen. Er selbst befürchte zudem bei einer Rückkehr politische Verfolgung im Rahmen des von ihm noch abzuleistenden Wehrdienstes.

6

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

7

unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 4. Juni 1986 die Beklagte zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen.

8

Die Beklagte hat beantragt,

9

die Klage abzuweisen.

10

Das Verwaltungsgericht hat mit Urteil vom 30. September 1992 unter entsprechender Aufhebung des angefochtenen Bescheides die Beklagte verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen sowie festzustellen, daß die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG in seiner Person vorliegen. Es hat für den Kläger im Hinblick auf den von ihm bei einer hypothetischen Rückkehr in die Türkei noch abzuleistenden Wehrdienst die Gefahr einer politischen Verfolgung angenommen. Das Asylbegehren der übrigen Familienmitglieder hat das Verwaltungsgericht dagegen abgelehnt; denn sie hätten in Istanbul frei von politischer Verfolgung gelebt und dort auch ein zumindest bescheidenes Auskommen erreichen können. Dieser Teil der Entscheidung ist zwischenzeitlich rechtskräftig geworden.

11

Gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts, dem Kläger Asyl und Abschiebungsschutz zuzubilligen, richtet sich die vom Senat zugelassene Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten.

12

Der Bundesbeauftragte ist der Auffassung, daß die dem Kläger bevorstehende Wehrdienstleistung nicht die Gefahr einer politischen Verfolgung begründe.

13

Mit Urteil vom 24. Februar 1994 wies der Senat die Berufung des Bundesbeauftragten mit der Begründung zurück, unter Änderung der bisherigen Senatsrechtsprechung (vgl. etwa Urt. v. 29. 10. 1991 - 11 L 5773/91 -) sei zwischenzeitlich von einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen in ihrem angestammten Herkunftsgebiet, im Tur Abdin, auszugehen. Da nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts für die Zukunftsprognose das jeweilige Staatsgebiet in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen sei, gewinne diese nur regional drohende politische Gruppenverfolgung auch für den Kläger an Bedeutung, obgleich er selber nicht im Tur Abdin gelebt habe. Eine inländische Fluchtalternative sei nicht gegeben, insbesondere drohe dem Kläger auch bei einer Rückkehr nach Instanbul dort ein Leben unterhalb des wirtschaftlichen Existenzminimums. Andere Orte kämen als inländische Fluchtalternative schon deswegen nicht in Betracht, weil dort das religiöse Existenzminimum nicht gewahrt werde.

14

In dem hiergegen vom Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten eingeleiteten Revisionsverfahren hat das Bundesverwaltungsgericht das Urteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an den Senat zurückverwiesen (BVerwG, Urt. v. 29. August 1995 - 9 C 4.95). Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt: Eine inländische Fluchtalternative außerhalb Istanbuls habe nicht allein mit der Begründung verneint werden können, dort gebe es keine kirchliche Betreuung.

15

Die Vertreterin des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten beantragt,

16

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

17

Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

19

Der Senat hat den Kläger in den mündlichen Verhandlungen vom 24. Februar 1994 und 18. Juni 1996 angehört. Wegen der Ergebnisse der Anhörungen wird auf die Sitzungsniederschriften verwiesen.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.

21

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus den Anlagen zu den Schreiben des Senats vom 22. April und 4. Juni 1996 sowie aus dem Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 18. Juni 1996.

22

II.

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen. Darüber hinaus hat der Kläger auch Anspruch auf die Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG.

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A) Gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. Juni 1993 (BGBl. I S. 1002) genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Sie werden nach Maßgabe der §§ 1 ff. AsylVfG in der Fassung der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361) als Asylberechtigte anerkannt. Das Individualgrundrecht auf Asyl kann in Anspruch nehmen, wer politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315; Beschl. der 1. Kammer des 2. Senats vom 22. 12. 1993 - 2 BvR 950/93 -). Die in diesem Sinne gezielt zugefügte Rechtsverletzung muß von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so daß der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielt zugefügten Rechtsverletzung fehlt es allerdings bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatland zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen. Das Asylrecht soll nämlich nicht jedem, der in seiner Heimat in materieller Not leben muß, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/96 -, BVerfGE 80, 315; 20. 5. 1992 - 2 BvR 205/92 -, InfAuslR 1992, 283).

24

Bei der Prüfung der Frage, ob sich ein Flüchtling in diesem Sinne in einer ausweglosen Lage befindet, vor der ihm das Asylrecht Schutz gewähren soll, sind alle Umstände in den Blick zu nehmen, die objektiv geeignet sind, bei ihm begründete Furcht vor (drohender) Verfolgung hervorzurufen.

25

Asylerhebliche Bedeutung haben neben unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen des Staates auch Verfolgungsmaßnahmen Dritter, sofern sie dem Staat zuzurechnen sind. Verfolgungen durch Dritte sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt, wobei die Intensität dieses Schutzes dem Grad der Bedrängnis und der Schwere der Übergriffe entsprechen muß.

26

Dabei kann staatliche Schutzbereitschaft nicht schon deshalb angenommen werden, weil die zum Handeln verpflichteten Organe erklären, ihren diesbezüglichen Verpflichtungen genügen zu wollen. Erforderlich ist vielmehr, daß die staatliche Schutzbereitschaft konkret belegbar ist (BVerfG, Beschl. v. 28. 6. 1991 - 2 BvR 583/84 -, InfAuslR 1992, 53 m.w.N.). Allerdings ist es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren. Daher ist entscheidend, ob der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz gewährt (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 375 ff. [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90]). Andererseits endet die asylrechtliche Verantwortlichkeit des Staates dann, wenn die Schutzgewährung seine Kräfte im konkreten Fall übersteigt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85 -, 515/89, 1827/89 -, InfAuslR 1991, 200), BVerwG. Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 375 ff. [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90]).

27

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich nicht nur aus gegen ihn selbst, sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, so daß seine bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutsverletzungen als eher zufällig anzusehen ist (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85, 515/89, 1827/89 -, InfAuslR 1991, 200). Sieht der Verfolger von individuellen Merkmalen gänzlich ab, weil seine Verfolgung der durch das asylerhebliche Merkmal gekennzeichneten Gruppe als solcher und damit grundsätzlich allen Gruppenmitgliedern gilt, so kann eine solche Gruppengerichtetheit der Verfolgung dazu führen, daß jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muß. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt allerdings eine bestimmte "Verfolgungsdichte" voraus: Gruppenmitglieder müssen Rechtsgutsbeeinträchtigungen erfahren, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst jederzeit ein Opfer der Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Eine derartige Verfolgungsdichte erreichen bei mittelbar staatlicher Verfolgung pogromähnliche Ausschreitungen fanatisierter Volksmassen, ferner jedes sonstige von privaten Dritten getragene Verfolgungsgeschehen, bei dem die die Angehörigen der Gruppe treffenden Verfolgungsschläge so dicht und eng gestreut fallen, daß bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied das Erleiden von Verfolgungsmaßnahmen in eigener Person beachtlich wahrscheinlich ist (so BVerwG, Beschl. v. 24. 9. 1992 - 9 B 130.92 -, NVwZ 1993, 192 = InfAuslR 1993, 31; Urt. v. 19. 4. 1994 - 9 C 462.93 -, InfAuslR 1994, 325; BVerwG, Urt. v. 30. 4. 1996 - 9 C 170.95 -). Bei der unmittelbar staatlichen Gruppenverfolgung gilt hinsichtlich der erforderlichen "Verfolgungsdichte" im Grundsatz nichts anderes; der Feststellung dicht und eng gestreuter Verfolgungsschläge bedarf es jedoch nicht, wenn hinreichend sichere Anhaltspunkte für ein staatliches Verfolgungsprogramm vorliegen, dessen Umsetzung bereits eingeleitet ist oder alsbald bevorsteht (BVerwG, Urt. v. 5. 7. 1994 - 9 C 158.94 -, DVBl. 1994, 1409 = InfAuslR 1994, 423; Urt. v. 30. 4. 1996 - 9 C 170.95 -).

28

Die unmittelbare Betroffenheit des einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung sind allerdings nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gekennzeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung, denn diese tritt in der Realität in vielfältigen Formen auf (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85/515/89, 1827/89 -, InfAuslR 1991, 200; BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - BVerwG 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 375 ff. [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90] = DVBl. 1991, 1089: Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit).

29

Schließlich genießt nicht nur derjenige Asylrecht, der seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Asylberechtigt ist vielmehr auch der Asylsuchende, der seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen hat, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen, z.B. aufgrund von Vorgängen und Ereignissen in seinem Heimatland, die unabhängig von seiner Person nach seiner Ausreise eingetreten sind (sog. objektive Nachfluchtgründe, vgl. dazu BVerfG. Beschl. v. 26. 11. 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, 64 ff) [BVerfG 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85], mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 375 ff. [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90]; BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315). Ob eine Verfolgungsgefahr für die absehbare Zukunft besteht, ist aufgrund einer Prognose zu beurteilen, die - ausgehend von den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) - die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Asylbewerbers in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat. Dabei ist für die Zukunftsprognose das jeweilige Staatsgebiet in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen. Unerheblich ist, ob der Landesteil, in dem die politische Verfolgung droht, die Heimatregion des Betreffenden ist oder falls nicht, ob es aus sonstigen Gründen wahrscheinlich ist, daß der Betreffende sich im Fall einer Rückkehr gerade in diese Region begibt (BVerwG, Urt. v. 16. 2. 1993 - 9 C 31.92 -, NVwZ 1993, 791; v. 13. 5. 1993 - 9 C 59.92 -, InfAuslR 1993, 354).

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Voraussetzung für eine vom Staat ausgehende oder ihm zurechenbare Verfolgung ist seine effektive Gebietsgewalt im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit. Hieran kann es fehlen, wenn der Staat in dem betreffenden Gebiet in einen offenen Bürgerkrieg oder in einen sog. Guerilla-Bürgerkrieg verwickelt wird und deswegen auf absehbare Zeit außerstande ist, Leben, Freiheit und Eigentum seiner Bürger verläßlich zu schützen. Seine Maßnahmen verlieren dann insoweit den Charakter asylrechtlich erheblicher Verfolgung, selbst wenn sie im Einzelfall völkerrechtswidrig sind. Allerdings ist auch in derartigen besonderen Lagen politische Verfolgung dann gegeben, wenn die Aktionen der staatlichen Sicherheitskräfte in dem soeben bezeichneten Sinne über Maßnahmen zur Bekämpfung des Bürgerkriegsgegners im Interesse der Wiederherstellung der staatlichen Friedensordnung hinausgehen (BVerfG, Beschlüsse der 1. Kammer des 2. Senats vom 9. 12. 1993 - 2 BvR 1916/93 -, DVBl. 1994, 203 und - 2 BvR 1638/93 -, InfAuslR 1994, 105, BVerwG, Urt. v. 30. 4. 1996 - 9 C 170.95 -).

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Selbst wenn nach den obigen Kriterien eine politische Verfolgung zu bejahen ist, besteht kein Asylanspruch, wenn der Asylsuchende Schutz vor politischer Verfolgung in anderen Regionen des eigenen Landes finden kann (inländische Fluchtalternative). Des Schutzes im Ausland bedarf ein Asylbewerber nämlich dann nicht, wenn er lediglich in einem Landesteil (unmittelbarer oder mittelbarer) staatlicher Verfolgung ausgesetzt ist, er aber auf verfolgungsfreie Teile seines Heimatstaates verwiesen werden kann. Ist der Asylsuchende von unmittelbarer staatlicher Verfolgung betroffen, so ist das Bestehen einer inländischen Fluchtalternative jedoch nur dann zu prüfen, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, daß der Verfolgerstaat "mehrgesichtig" ist, er also Personen, die er in einem Landesteil selbst aktiv verfolgt, in einem anderen Landesteil unbehelligt läßt (BVerwG, Urt. v. 10. 5. 1994 - 9 C 434.93 -, DVBl. 1994, 1407 = NVwZ 1994, 1123; BVerfG, Beschl. v. 10. 11. 1989 - 2 BvR 403, 1501/84 -, BVerfGE 81, 58/65). Eine derartige inländische Fluchtalternative besteht in anderen Landesteilen dann, wenn der Betroffene dort vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und wenn ihm dort keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existentielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschlüsse v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 691/86 -, BVerfGE 80, 315 -343 f.-; und vom 10. 11. 1989 - 2 BvR 403, 1501/84 -, BVerfGE 81, 58 -65 f.-; BVerwG, Urteile vom 14. 12. 1993 - 9 C 45.92 -, DVBl. 1994, 524, vom 13. 5. 1993 - 9 C 59.92 -, NVwZ 1993, 1210 sowie vom 16. 2. 1993 - 9 C 31.92 -, NVwZ 1993, 791 jeweils m.w.N.).

32

B) Gemessen an diesen Grundsätzen steht dem Kläger ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter zu.

33

1) Der Kläger ist zur Überzeugung des Senats Angehöriger der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft. Seine Familie stammt aus dem im Südosten der Türkei gelegenen traditionellen Siedlungsgebiet Tur Abdin ("Berg der Knechte Gottes") der syrisch-orthodoxen Christen. Schon bei Stellung des Asylantrages haben sich seine Eltern auf ihre Glaubenszugehörigkeit und auf die darauf resultierende Verfolgung berufen. Sie haben dabei ein Schicksal beschrieben, das für die Situation der syrisch-orthodoxen Christen in ihren angestammten Siedlungsgebieten im Südosten kennzeichnend ist. Die christliche Glaubenszugehörigkeit ergibt sich schließlich aus der entsprechenden Eintragung in dem Nüfus des Klägers. Aufgrund des Ergebnisses der Anhörung in den mündlichen Verhandlungen vom 24. Februar 1994 und 18. Juni 1996 ist der Senat zudem davon überzeugt, daß er seinen Glauben heute noch praktiziert.

34

2.) Wie der Senat im Urteil vom 29. 10. 1991 (11 L 5773/91) unter Auswertung der bis dahin vorliegenden Erkenntnismittel entschieden hat, waren die syrisch-orthodoxen Christen bis zu jenem Zeitpunkt weder einer unmittelbar noch einer mittelbar staatlichen gruppengerichteten Verfolgung ausgesetzt. Daran wird unter Hinweis auf die Gründe der genannten Entscheidung festgehalten. Deshalb kann nicht angenommen werden, daß der Kläger bereits bei seiner Ausreise im Juli 1985 einer staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt war. Es liegt auch keine individuelle Vorverfolgung vor. Von den Drangsalierungen im Tur Abdin war der Kläger nicht betroffen, da er erst 1975 in Istanbul geboren wurde. Im übrigen besteht aufgrund der großen Zeitspanne von zehn Jahren zwischen dem Wegzug seiner Eltern und älteren Geschwister aus dem Tur Abdin (1974/75) und der Flucht (Juli 1985) auch kein kausaler Zusammenhang mehr. Die vom Kläger für Istanbul geschilderten Übergriffe erreichen nicht die für die Zuerkennung von Asyl erhebliche Intensität.

35

3) Der Senat ist jedoch nach Auswertung des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials der Überzeugung, daß dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der syrisch-orthodoxen Christen sind seit etwa Frühjahr 1993 im Südosten der Türkei einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Religion ausgesetzt (a). Hierauf kann sich auch der Kläger berufen, obgleich er in Istanbul geboren und aufgewachsen ist (b). Eine inländische Fluchtalternative besteht nicht (c).

36

a) (1) Die Situation der Christen in der Türkei stellt sich zusammenfassend wie folgt dar:

37

Die Christen in der Türkei sind mit ungefähr 80.000 bis 100.000 Gläubigen bei einer Gesamtbevölkerung von rd. 55 Mio Einwohnern (wovon ca. 99 % dem moslemischen Glauben angehören) eine kleine Minderheit (vgl. Oehring, Stellungnahme v. 25. 3. 1991 an VG Bremen; AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993). Die Zahl der derzeit in Istanbul lebenden syrisch-orthodoxen Christen wird mit 8.000 bis 15.000 angegeben (AA, Lagebericht v. 29. 4. 1994, 17. 1. 1995, 7. 12. 1995, 17. 4. 1996) bzw. mit 8.000 bis 10.000 (ai v. 3. 5. 1994). Zum Teil werden auch nur 4.000 syrisch-orthodoxe Christen (einschließlich Chaldäer) genannt (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe) bzw. 5.000 (FAZ v. 7. 6. 1994). Die im Südosten der Türkei, vor allem in dem Hauptansiedlungsgebiet "Tur Abdin" verbliebenen Christen werden mit 1.000 bis 1.500 angegeben (AA. Lagebericht v. 7. 12. 1995, 17. 4. 1996; Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe).

38

Das Hauptsiedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen liegt im zum Teil unwegsamen Bergland mit dem Zentrum Midyat im Südosten der Türkei. Er umfaßt ein Gebiet, das von Mardin im Westen bis nach Cizre im Osten und im Tigris im Norden bis zur türkisch-syrischen Grenze im Süden reicht (Oehring, In Antiochia, ..., Oktober 1988). Die Wurzeln dieser christlichen Minderheit gehen bis in die vorchristliche Vergangenheit zurück (Anschütz, Die syrischen Christen vom Tur Abdin 1985, S. 14 ff.; FAZ v. 4. 12. 1990).

39

Im Laufe der Jahrhunderte war die syrisch-orthodoxe Kirche vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Innerkirchliche Auseinandersetzungen führten zur Abspaltung von Rom. Gleichwohl entfaltete die syrisch-orthodoxe Kirche teilweise im Gebiet des Tur Abdin ein blühendes Leben. Es gab eine Vielzahl von Klöstern, deren Mönche Träger einer umfassenden Kultur waren (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979; FAZ v. 27. 7. 1993). Etwa um 640 n. Chr. gelangte das Gebiet um den Tur Abdin unter die Herrschaft islamischer Araber (EKD, St. v. 19. 4. 1988). Im 14. Jahrhundert wurde das Land durch die Eroberungszüge mongolischer Herrscher erschüttert (FAZ v. 27. 7. 1993). Das Gebiet stand nunmehr unter der Herrschaft der ebenfalls dem Islam zugewandten osmanischen Sultane. Schon seit etwa 900 n. Chr. war der Tur Abdin darüber hinaus unter den Druck kurdischer Stämme geraten, die von dem kurdischen Bergland in der heutigen Osttürkei und dem Irak aus ständig weiter nach Westen zogen (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979). Insbesondere die christliche Bevölkerung im Tur Abdin lebte damals in relativem Wohlstand (vgl. Carragher, St. v. 15. 10. 1980 an Bay.VGH; Wießner, St. v. 14. 10. 1986 an VG Hamburg). Die nomadischen bzw. halbnomadischen Kurden, die über keinerlei Eigentum verfügten, bedrängten die wirtschaftlich und sozial bessergestellten christlichen und nicht nomadisierenden kurdischen Siedler. Etwa um 1900 versuchten die Armenier (armenische Christen), die damals weite Teile der heutigen Osttürkei bewohnten, ihr Streben nach einer selbständigen Nation mit eigenem Staatsgebiet in die Tat umzusetzen. Diesen Bestrebungen begegnete die türkische Staatsmacht mit aller Härte (vgl. Wiskandt, Gutachten v. 24. 11. 1981; epd-Dokumentation Nr. 49/79 v. 12. 11. 1979). In diese Auseinandersetzungen gerieten auch syrisch-orthodoxe Christen, weil sie in der Umgebung von armenischen Christen wohnten und zwischen den einzelnen christlichen Glaubensrichtungen nicht unterschieden wurde (weitergehend Yonan, Pogrom, Mai 1979: Alle Christen sollten ausgerottet werden). Der türkische Staat wurde bei diesen Auseinandersetzungen in starkem Maße von Kurden unterstützt. In Reaktion darauf töteten armenische Christen ca. 1918 eine Vielzahl von im Südosten der Türkei lebenden Kurden. Eine große Anzahl von Christen wanderte in der Folgezeit in andere Länder aus. Ein Teil ließ sich - ab etwa 1928 - in Istanbul nieder.

40

Im Friedensvertrag von Lausanne (1923) wurde das historische Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen (Mesopotamien) auf die Staaten Türkei, Libanon, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Nicht-moslemische Minderheiten erhielten zwar gewisse Rechte. So wurde die ungestörte Religionsausübung ebenso garantiert wie der Zugang zu öffentlichen Ämtern. Der Vertrag gestand eigene Schulen und den Gebrauch der Muttersprache vor Gericht und in den Schulen zu. Diese Rechte galten/gelten in der allgemeinen Handhabung allerdings nur für die klassischen religiösen Minderheiten, nämlich für die Juden, die griechisch-orthodoxen und die armenischen Christen. Die syrisch-orthodoxen Christen fallen - ebenso wie andere noch in der Türkei lebende christliche Gruppierungen - nach derzeitigem Verständnis nicht unter diesen Vertrag (AA, St. v. 21. 4. 1993 an VG Karlsruhe; Lagebericht vom 7. 4. 1995, 17. 4. 1996).

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Etwa 1923 gründete Kemal Atatürk den türkischen Nationalstaat. Seine Politik war auf eine Europäisierung gerichtet, insbesondere auf eine weitgehende Trennung von Religion und Staat. Islamischer Religionsunterricht wurde verboten, die Einheit des türkischen Volkes betont und die Existenz von Minderheiten nicht zur Kenntnis genommen (vgl. Carragher, St. v. 15. 10. 1980).

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Im Rahmen der ab 1959 einsetzenden "Gastarbeiterwelle" wanderten viele Christen aus dem Tur Abdin aus (Wießner, St. v. 14. 10. 1986 an VG Hamburg). Das christliche Bevölkerungselement wurde dadurch geschwächt. Die Abwehrkraft der verbliebenen Christen gegen nachrückende (kurdische) Muslime wurde immer schwächer. Verstärkte Spannungen entstanden durch die Zunahme der islamischen Bewegung. Seit 1950 wurden erneut Moscheen gebaut, gab es wieder Religionsunterricht an den Schulen (Oehring, St. v. 15. 1. 1988 an VGH Bad.-Württ.; Binswanger, St. v. 2. 9. 1988 an VGH Bad.-Württ.).

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Mitte der 60-er Jahre griff die Politisierung und Organisation der Befreiungsbewegung zur Gründung eines kurdischen Staates aus dem Irak auf die Kurden in der Türkei über. Die Türkei sah ihre staatliche Integrität bedroht. Das gesamte südöstliche Gebiet wurde militärisches Sperrgebiet (Yonan, St. v. 7. 4. 1987). Insbesondere vor September 1980 waren im Südosten ganze Landstriche von Aufständischen der kurdischen Nationalbewegung und von Banden besetzt. Nach dem Militärputsch von September 1980 entschärfte sich durch die starke Präsenz der Soldaten vorübergehend die Lage (Wießner, St. v. 19. 10. 1984). Ab Mitte der 80er Jahre verschlechterte sich die Situation erneut, da der Tur Abdin mitten im Zentrum der seit diesem Zeitpunkt verstärkt geführten Auseinandersetzungen der türkischen Streitmacht mit der marxistisch ausgerichteten PKK (Arbeiterpartei Kurdistan) liegt. Die Christen werden in diese, von beiden Seiten mit großer Härte und mit großen Opfern geführten Auseinandersetzung gegen ihren Willen hineingezogen (EKD, St. v. 17. 5. 1993 an VG Karlsruhe). Sie sind weder grundsätzlich gegen die PKK noch gegen den türkischen Staat eingestellt ("Krieg im Tur Abdin", Reisebericht ..., November 1992). Die jeweils andere Seite verdächtigt sie jedoch stets der Zusammenarbeit mit dem Gegner (epd-Dokumentation Nr. 36/91 S. 59 v. 2. 9. 1991; AA, Auskunft v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516-14725). Industriell ist das Gebiet im Südosten mit die rückständigste Region. Die ohnehin vorhandene Abwanderungsbewegung hat sich dadurch weiter verstärkt. Die wirtschaftliche Lage in der Türkei ist durch ein starkes West-Ost-Gefälle geprägt. So beträgt das Brutto-Inlandsprodukt pro Kopf in der Westtürkei rd. 3.000 Dollar, im Osten dagegen nur 300 Dollar. Die Arbeitslosigkeit ist hoch. Eine Arbeitslosenversicherung oder staatliche Sozialhilfe gibt es in der Türkei nicht (AA, Lageberichte v. 7. 12. 1995 u.v. 17. 4. 1996). Aufgrund der aufgezeigten vielfältigen Gründe ist die Zahl der Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche im Südosten der Türkei, die z.B. 1960 noch ca. 90.000 und 1968 noch ca. 21.000 betrug (FAZ v. 27. 7. 1993), mittlerweile auf 1000 bis 1.500 zurückgegangen. Priesternachwuchs gibt es kaum noch. Klöster und Kirchen verfallen. Das wichtigste noch bestehende Kloster ist Mar Gabriel mit dem Metropoliten (Erzbischof) Timothius Samuel Aktal (epd-Dokumentation Nr. 36/91 S. 52 v. 2. 9. 1991).

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Insbesondere aufgrund des ständigen Rückgangs der syrisch-orthodoxen Bevölkerung wird der christlichen Kultur im Tur Abdin keine Überlebenschance mehr eingeräumt (vgl. z.B. Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG, u.v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe, FAZ v. 27. 7. 1993).

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(2) Der Senat kann offen lassen, in welchem Maße die angeführten verschiedenen Ursachen jeweils zur starken Abnahme der syrisch-orthodoxen Bevölkerung im Südosten, insbes. im Tur Abdin beigetragen haben, insbesondere ob und in welchem Umfang die geschilderten Abwanderungen in der Vergangenheit auf einem (eher) freiwilligen Entschluß der Betroffenen beruhten. Denn für die Beurteilung des Asylbegehrens ist allein maßgeblich, wie sich die Situation gegenwärtig darstellt.

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Eine zusammenfassende Würdigung der seit Frühjahr 1993 vorliegenden Erkenntnisquellen führt dazu, von diesem Zeitpunkt an die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei (Notstandsgebiet, angrenzende sensible Regionen, insbesondere aber im Tur Abdin) zu bejahen, denn die Situation für die syrisch-orthodoxe Bevölkerung im Südosten, insbesondere im innerhalb des Notstandsgebietes liegenden (AA, Lagebericht v. 29. 4. 1994) Tur Abdin, hat sich ab Frühjahr 1993 (Aufkündigung des einseitig von der PKK ausgerufenen Waffenstillstandes) erheblich verschärft. Die seitdem dort vorhandene, höchst unsichere Lage wird von verschiedenen moslemischen Gruppierungen dazu ausgenutzt, gegen Christen vorzugehen mit dem Ziel, sie um ihren wirtschaftlichen Besitz zu bringen und letztlich zu vertreiben. Begünstigt wird dieses Verhalten durch die in der Türkei anhaltende verstärkte Besinnung auf islamische und nationale Wertvorstellungen, wie sie z.B. in dem Ergebnis der vorgezogenen Parlamentswahlen vom 24. Dezember 1995 zum Ausdruck kommt, bei denen die islamisch-integristische Wohlfahrtspartei (RP) stärkste Partei wurde (vgl. Oehring, St. v. 26. 2. 1996 an Nds. OVG u. v. 2. 4. 1996 an VG Chemnitz). Die Christen sind die Übergriffen weitgehend schutzlos ausgesetzt, zumal ihre eigene Abwehrkraft durch die starke Abwanderung von Glaubensangehörigen geschwächt ist. Hierzu im einzelnen:

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Die Christen waren schon in der Vergangenheit als Minderheit immer wieder Drangsalierungen ausgesetzt. Es kam zu Überfällen, Mißhandlungen, Folterungen und Tötungen. Es wurde Vieh gestohlen, die Ernte vernichtet, Felder wurden verwüstet, Häuser verbrannt (vgl. hierzu z.B. Urt. d. Sen. v. 29. 10. 1991 - 11 L 5773/91 -). Nach den neueren Erkenntnismitteln haben sich diese Übergriffe jedoch in den letzten Jahren zunehmend verschärft. So wird allein für den Zeitraum von 1990 bis Anfang 1993 von 20 (AA, Auskunft vom 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725)) bzw. von 27 Tötungsdelikten (einschließlich Verschleppungen mit unbekanntem Ausgang) gegenüber Christen (Eilers, Pogrom, April/Mai 1993) berichtet. Andere Beobachter sprechen von "einigen Dutzend" getöteten Christen in den letzten Jahren (FAZ vom 27. 7. 1993). Oehring gibt in seiner Stellungnahme vom 20. 8. 1993 (an VG Münster) die Zahl der im Tur Abdin seit 1990 getöteten Christen mit rund 30 an. Nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker sollen allein im Jahre 1993 27 Christen ermordet worden sein (Badische Neueste Nachrichten vom 24. bis 26. 12. 1993). Die Solidaritätsgruppe Tur Abdin listet in ihrer Dokumentation "Tur Abdin 1993" für den Zeitraum von Juli 1992 - Februar 1994 ca. 22 Vorfälle auf, die auch Christen betrafen. 1994 sollen drei führende Christen ermordet worden sein (SZ v. 24. - 26. 12. 1994). Mit den Gewaltdelikten wird auf eine Entvölkerung des ländlichen Bereichs des Tur Abdin von den syrisch-orthodoxen Christen, die überwiegend von Ackerbau und Viehzucht leben, hingewirkt (vgl. FAZ v. 7. 6. 1994). Für die Übergriffe sind vor allem die Dorfschützer und die hinter ihnen stehenden Großgrundbesitzer (Agas) sowie Angehörige der Hisbollah und der PKK verantwortlich. Der vom türkischen Staat den Großgrundbesitzern durch die Errichtung des Dorfschützersystems eingeräumte Freiraum wird von diesen dazu genutzt, ihren privaten ökonomischen Interessen nachzugehen. Denn die Dorfschützer, die weitreichende Vollmachten genießen, sind in der Regel abhängig von einem Aga, der wiederum vom türkischen Staat häufig als Verbündeter gegen die PKK angesehen wird. Dorfschützer bereichern sich immer wieder an den christlichen Dorfbewohnern durch Erpressung und Diebstahl und eigneten sich deren Landbesitz unrechtmäßig an (ai v. 18. 5. 1993, 3. 5. u. 14. 12. 1994; FAZ v. 27. 7. 1993; Wießner v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG; Eilers, Pogrom April/Mai 93). Zu den Methoden der Hizbollah gehören Drohbriefe, öffentliche Beleidigungen von Geistlichen und Aufrufe an die Christen, das Land zu verlassen, anderenfalls würden sie getötet (vgl. ai v. 18. 5. 1993 u. 3. 5. 1994; Eilers, Pogrom April/Mai 1993), Aziz Said, Vorsitzender des Zentralverbandes der assyrischen Vereinigungen in Deutschland berichtete in der öffentlichen Anhörung des Bundestags-Innenausschusses von Sachverständigen zu dem Thema "Die Situation der Menschenrechte in der Türkei" am 15. 3. 1995 (Stenografische Aufzeichnungen, Seite 127 ff.) unter Benennung mehrerer Einzel fälle davon, die islamisch-fundamentalistischen Kräfte traten offen dafür ein und handelten mit Duldung der türkischen Regierung danach, die Region von Christen zu säubern. Weiter werden allgemein kurdische Nachbarn für die Übergriffe auf Christen verantwortlich gemacht. So werden Christen z.B. von Muslimen wegen angeblicher Unterstützung der PKK bei der Polizei angezeigt, was wiederum zu Razzien und zu Verhaftungen verdächtiger Dorfbewohner führt (ai v. 3. 5. und 14. 12. 1994). Schließlich sind die Christen aufgrund der Lage ihres Siedlungsgebietes zwangsläufig von den gewaltsamen Aktionen der PKK mit betroffen (ai v. 3. 5. u. 14. 12. 1994). Auch Oehring geht davon aus, daß es in zunehmendem Maße zu Übergriffen von Dorfschützern und Angehörigen der Hisbollah auf christliche Dörfer kommt (St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Soweit Oehring in dieser Stellungnahme ausführt, Übergriffe der sonstigen muslimischen Bevölkerung auf die christliche Bevölkerung seien nicht zu erwarten, da die Menschen gegenwärtig zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt seien, wird diese Aussage durch die anderen Stellungnahmen nicht bestätigt. Nach den Feststellungen des Menschenrechtsvereins der Türkei (zitiert nach Oehring, St. v. 31. 1. 1996 an VG Regensburg und 26. 2. 1996 an Nds. OVG) kam es in der letzten Zeit im Südosten vielmehr verstärkt zu Übergriffen gegen syrisch-orthodoxe (u. chaldäische) Christen. Insbesondere die Sicherheitskräfte sollen sich im Südosten "verselbständigt" haben (FR v. 13./14. 1. 1996).

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Den Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes läßt sich ebenfalls deutlich entnehmen, daß sich die Situation ab Frühjahr 1993 wesentlich verschlechtert hat. So führte das Auswärtige Amt für den Zeitraum 1989/90 noch aus, die syrisch-orthodoxe Minderheit in Südostanatolien komme zwar zunehmend unter Druck ihrer islamisch-kurdischen Nachbarn, die türkische Regierung versuche jedoch im Rahmen der personellen und materiellen Möglichkeiten für die Sicherheit der Minderheiten zu sorgen; vereinzelte Übergriffe erreichten keinesfalls die Intensität einer Gruppenverfolgung; zwar werde auch christlichen Bewohnern Südostanatoliens von Nachbarn Vieh gestohlen, die Ernte vernichtet, Geschäfte zerstört, auch würden die Christen selbst körperlich angegriffen; es handele sich dabei jedoch um in der Region übliche Stammesauseinandersetzungen und der türkische Staat versuche durch Einsatz von Sicherheitskräften derartige Verhaltensweisen zu unterbinden (AA, Lagebericht v. 15. 11. 1989; St. vom 12. 3. 1990 an VG Oldenburg). Im Lagebericht vom 16. November 1993 heißt es dagegen, syrisch-orthodoxe Christen würden durch starke Abwanderung mehr und mehr schutzlos; als schwächste soziale Gruppe würden sie Opfer landnehmender, benachbarter moslemischer Kurden; dabei spielten anscheinend einige der rund 40.000 vom Staat besoldeten und bewaffneten zivilen kurdischen Dorfschützer eine unrühmliche Rolle; nach Berichten verschiedener Quellen gingen einige Morde an Christen auf diese Dorfschützer und die hinter ihnen stehenden kurdischen Großgrundbesitzer zurück; für die syrisch-orthodoxen Restgemeinden im Tur Abdin habe sich die Lage seit etwa Mai 1993 noch einmal verschlechtert; da die Sicherheitskräfte, auch wenn sie es wollten, gar nicht mehr in der Lage seien, die durch weitere Abwanderung immer mehr geschwächte syrianische Restgemeinde gegen die immer häufigeren Übergriffe und Drangsalierungen verschiedenster islamischer Bevölkerungsgruppen zu schützen, werde man mittlerweile von einer Verfolgungssituation der syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin sprechen müssen. An dieser negativen Einschätzung hat das AA in seinen folgenden Stellungnahmen festgehalten, wenn es auch nicht mehr ausdrücklich von einer "Verfolgungssituation" gesprochen hat. So hat sich nach dem Lagebericht vom 21. 6. 1993 die Lage nochmals "weiter verschlechtert". Nach den Lageberichten vom 29. 4. 1994, 17. 1., 13. 3. und 30. 6. 1995 ist die syrisch-orthodoxe Gemeinde im Tur Abdin überwiegend zur Auswanderung entschlossen. Auch in den Lageberichten vom 7. 12. 1995 und 17. 4. 1996 wird an dieser pessimistischen Einschätzung festgehalten. Dort heißt es, die Lage der syrisch-orthodoxen Christen habe sich im Tur Abdin in den letzten Jahren zunehmend verschlechtert; die Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften habe in dieser Region zu einer allgemeinen Destabilisierung geführt; in letzter Zeit komme es daher vermehrt zu Übergriffen der mehrheitlich kurdischstämmigen Bevölkerung auf die durch Abwanderung zahlenmäßig stark geschwächte christliche Gemeinschaft; die Kurden versuchten dabei meist, Ländereien oder Häuser der Christen in Besitz zu nehmen und diese vollends aus den betroffenen Dörfern zu vertreiben; die türkischen Sicherheitskräfte sähen sich nicht mehr in der Lage, derartige Verhaltensweisen zu unterbinden; außerdem seien auch christliche Dörfer im Zuge der Umsiedlungsmaßnahmen durch die türkische Armee evakuiert und dem Erdboden gleichgemacht worden. Diesen deutlichen Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes, das aus diplomatischer Rücksichtnahme grundsätzlich eher vorsichtig formuliert, kommt ein erhebliches Gewicht zu.

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(3) Die Übergriffe gegen die Christen im Südosten der Türkei haben ein asylrelevantes Gewicht; denn es geht darum, die Existenzgrundlage der Christen zu vernichten und sie insgesamt aus dem Gebiet zu vertreiben (vgl. Diestelmann v. 14. 9. 1993 an Nds. OVG; ai v. 18. 5. 1993; AA, Auskunft v. 28. 12. 1993, Lagebericht v. 7. 12. 1995 u. 17. 4. 1996).

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(4) Die gegen die Christen gerichteten Maßnahmen knüpfen an ein durch das Asylrecht geschütztes Merkmal an. Sie erfolgen nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit wegen der Zugehörigkeit der Opfer zur christlichen Glaubensgemeinschaft. Dieses bedarf keiner weiteren Erläuterung, soweit Anhänger der islamisch-fundamentalistischen Hisbollah hinter den Übergriffen stehen (vgl. Oehring v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Denn ihr Ziel ist letztlich eine "christenfreie" Südost-Türkei (Eilers, Pogrom, April/Mai 1993). Aber auch die Verfolgungsmaßnahmen der anderen Gruppierungen sind religiös (mit) bedingt. Unerheblich ist, daß bei den Übergriffen auch wirtschaftliche Interessen sowie militärisch-strategische Überlegungen eine Rolle spielen. Denn für die Annahme einer politischen Verfolgung ist nicht erforderlich, daß die Maßnahme ausschließlich an ein asylerhebliches Merkmal anknüpft. Es reicht vielmehr aus, wenn neben anderen auch asylerhebliche Gründe für eine Verfolgung mit ursächlich sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. 7. 1993 - 2 BvR 855/93 -). Davon ist hier auszugehen. Ursächlich für die Übergriffe gegen Christen ist nämlich (auch) das religiöse Überlegenheitsgefühl der Moslems gegenüber den Christen. Das Verhältnis zwischen Moslems und Christen ist bereits im Koran beschrieben. Danach kennt der Islam zwar keinen Zwang zum Glauben, jedoch betrachtet er das Christentum nicht als eine neben sich gleichberechtigte Religion. Der Islam erhebt vielmehr einen Absolutheitsanspruch. Von daher erklärt sich, daß selbst Christen, die als "Besitzer der Schrift" gelten, aus der Sicht der Moslems keine gleichberechtigten Bürger sein können. Maßnahmen von Moslems gegenüber Christen werden von einem quasi verinnerlichten grundsätzlichen Mißtrauen den nicht muslimischen Minderheiten gegenüber bestimmt sowie von einer seit der osmanischen Zeit im türkischen Staat und bei seinen Vertretern verinnerlichten moralischen Disqualifizierung der Nichtmuslime (Wießner, St. vom 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe; zum Verhältnis Moslem ./. Christ vgl. auch Oehring, St. v. 31. 1. 1996 an VG Regensburg). Dieses seit jeher vorhandene Überlegenheitsgefühl der Moslems hat sich in letzter Zeit durch die zunehmende Islamisierung und das angestiegene Nationalgefühl weiter verstärkt. Das hat zur Folge, daß die Hemmschwelle für Eingriffe gegen nichtmuslimische Minderheiten weiter gesunken ist (Wießner, St. v. 8. 9. 1995 an OVG NW). Den Moslems fehlt also bei der Landvertreibung christlicher Eigentümer letztlich das Unrechtsbewußtsein. Sie fühlen sich hierzu kraft ihres eigenen überlegenen Glaubens berechtigt. Damit lassen sie sich aber (auch) von religiösen Überlegungen leiten, was insoweit genügt. Übergriffe auf Christen unterscheiden sich von den immer wieder gewalttätig ausgetragenen Streitigkeiten sonstiger Art der moslemischen Kurden im Südosten untereinander dadurch, daß hier die Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe wegen eines bestimmten Merkmals unterschiedslos ausgegrenzt werden (AA v. 10. 9. 1993 an VG Münster). Soweit das Auswärtige Amt u. a. in den Lageberichten vom 7. 12. 1995 und 17. 4. 1996 generell ausführt, es gebe keine religiöse Verfolgung, wird dieses durch seine Ausführungen speziell zur Lage der Christen relativiert.

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(5) Die geschilderten Übergriffe gegen Christen sind dem türkischen Staat zuzurechnen.

52

Nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnisquellen ist der türkische Staat im Südosten, insbesondere im Tur Abdin nicht bereit, die dort lebenden Christen vor Übergriffen zu schützen. Er nimmt die asylrelevante Verfolgung der syrisch-orthodoxen Christen dort vielmehr im großen und ganzen tatenlos hin und versagt den Betroffenen dadurch den erforderlichen Schutz. So führt Wießner in seinen Stellungnahmen vom 1. 5. und 8. 9. 1995 an OVG NW aus, entweder nähmen staatliche Stellen Anzeigen und Strafanträge von Christen entgegen, gingen diesen aber nicht mit der gebotenen Intensität nach oder sie nähmen Klagen von Christen gar nicht erst an. Der türkische Staat sei weder in der Lage noch willens, gegen Beeinträchtigungen von Christen in der Türkei Schutz zu gewähren. Zwar beziehen sich diese Ausführungen von Wießner auf die Situation in Istanbul, gelten aber - erst recht - für den Südosten. Viele Christen verzichten in Erwartung der Zwecklosigkeit, aber auch wegen der Furcht vor Repressionen, nicht selten darauf, überhaupt Straftaten von Moslems anzuzeigen (ai v. 18. 5. 1993 u. 30. 11. 1995). Auch nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes werden die Übergriffe auf die christliche Minderheit vom türkischen Staat geduldet. Es werde nicht ernsthaft versucht, die verübten Übergriffe zu verfolgen. Es sei vielmehr eine auffällige Zurückhaltung der Sicherheitskräfte festzustellen, die in anderen Provinzen nicht bestehe (AA v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725) und (514-516/14725 b)). Die Motivation für türkische Behörden, zugunsten der syrisch-orthodoxen Christen einzuschreiten, sei gering (AA, St. v. 22. 8. 1994). Im Vergleich zu dem als bestandsbedrohend empfundenen Kurdenkonflikt werde die Lage der religiösen Minderheiten lediglich als ein Randphänomen bewertet. Insbesondere die häufig vorkommenden Drangsalierungen durch die vom türkischen Staat eingesetzten und besoldeten Dorfschützer (vgl. hierzu AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993 u. v. 30. 6. 1995,; Eilers, Pogrom, April/Mai 1993; FAZ v. 27. 7. 1993; Solidaritätsgrruppe Tur Abdin 1993) werden von den türkischen Behörden meist etwaigen Verbindungen der betreffenden Christen zur PKK zugeschrieben mit der Folge, daß Dorfschützer ungestraft bleiben (ai v. 18. 5. 1993; Wießner v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG). Soweit Anhänger der Hisbollah hinter Übergriffen stehen, sind gegen diese in der Vergangenheit zwar offiziell Strafverfahren eingeleitet worden, doch kommen die Ermittlungen angeblich nicht voran. Es wird die Vermutung geäußert, daß eine Aufklärung der Straftaten vom Staat gar nicht gewünscht werde, damit etwaige Querverbindungen zwischen staatlichen Organen und der Hisbollah nicht aufgedeckt würden (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). In letzter Zeit soll der Staat zwar gegen die "Hisbollah" vorgegangen sein und Angehörige dieser Gruppierung sollen bereits vor Gericht stehen (AA, Lageberichte v. 21. 6. 1994 u. 17. 4. 1996). Verurteilungen sind jedoch bislang nicht bekannt geworden. Ein eingesetzter parlamentarischer Untersuchungsausschuß hat seine Arbeit nach anderthalb Jahren ergebnislos beendet. Der Abschlußbericht wurde nicht veröffentlicht. Er soll sich kritisch mit der Aufklärungsarbeit örtlicher Sicherheitskräfte und dem politischen Umfeld befassen (AA, Lagebericht v. 17. 4. 1996). Soweit das Auswärtige Amt in seiner Stellungnahme vom 13. 11. 1995 an das VG Ansbach u. a. ausführt, eine Gruppenverfolgung syrisch-orthodoxer Christen durch die islamischen Nachbarn mit staatlicher Duldung finde nicht statt; sollten sich derartige Vorfälle im Südosten der Türkei ereignen, werde diese von den türkischen Strafverfolgungsbehörden geahndet; soweit möglich, würden die Angehörigen der christlichen Minderheit von den türkischen Sicherheitskräften auch gegen Übergriffe ihrer islamischen Nachbarn geschützt; es dürfte leider den Tatsachen entsprechen, daß auch christlichen Bewohnern Südost-Anatoliens von ihren Nachbarn Vieh gestohlen, ihre Ernte vernichtet werde, ihre Geschäfte zerstört und sie selbst auch körperlich angegriffen würden; es handele sich dabei um in dieser Region übliche Stammesauseinandersetzungen zwischen benachbarten Familien; derartige Handlungen fänden aber keinesfalls mit Billigung oder Duldung des türkischen Staates statt; im übrigen seien hiervon nicht nur Christen betroffen, solche Vorfälle seien auch zwischen verschiedenen islamischen Stämmen an der Tagesordnung läßt sich diese an die Bewertungen für 1989/90 anknüpfende Einschätzung nicht in die übrigen oben wiedergegebenen Einschätzungen des Auswärtigen Amtes für den Zeitraum ab Frühjahr 1993 einbinden. Sie wird auch durch die sonstigen Erkenntnismittel nicht bestätigt, so daß der Senat ihr keine entscheidende Bedeutung beizumessen vermag. Gerade weil der türkische Staat in starkem Maße mit Sicherheitskräften im Südosten der Türkei präsent ist (nach dem EU-Lagebericht v. 7. 4. 1995 befinden sich dort ca. 300.000 Sicherheitskräfte; ebenso NZZ v. 7. 12. 1994), er seit dem Militärputsch vom September 1980 zur Wahrung seiner eigenen Interessen mit erheblichem militärischen und polizeilichen Mitteln gegen andere Störer (z.B. kurdische Separatisten) vorgeht, müßte es ihm - wenn wirklich die Bereitschaft dazu bestünde - auch möglich sein, die äußerst geringe Zahl der noch im Tur Abdin/Südosten verbliebenen Christen vor Angriffen ausreichend zu schützen. Stattdessen bleibt die Minderheit der Christen jedoch weitgehend ungeschützt (vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunktes BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/95 u.a. - InfAuslR 1991, 200). Zwar ist davon auszugehen, daß es im Gebiet der Südosttürkei eine Staatsordnung im mitteleuropäischen Sinne nicht gibt, ein als Korruption zu bezeichnendes Verhalten weithin zu den landesüblichen Verhaltensformen gehört, die kurdischen Großgrundbesitzer im Südosten um ihre feudale Vorherrschaft fürchten, deshalb mit dem türkischen Staat gegen die PKK zusammenarbeiten und ihnen deswegen wiederum vom türkischen Staat ein besonderes Maß an Rücksichtnahme entgegengebracht wird (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG), eine zu intensive Verteidigung von Christen zumindest aus Sicht des türkischen Staates die Gefahr beinhaltet, daß in Reaktion darauf der Kreis der islamischen Fundamentalisten sich (noch mehr) vergrößert und eine nicht mehr unter Kontrolle zu bringende Konfliktsituation entstünde (Wießner St. v. 29. 4. 1994), im Südosten der Türkei Blutrache und Fememorde an der Tagesordnung sind (AA, Lagebericht v. 7. 12. 1995, 17. 4. 1996), die Handlungen vieler Muslime gegenüber nichtmuslimischen Minderheiten von der verinnerlichten Ansicht geprägt werden, nur den Muslimen als Bekennern der wahren Religion könne die moralische Integrität zugesprochen werden (Wießner, St. v. 8. 9. 1995 an OVG NW) und daß wesentliche Kräfte des Staates durch die militärischen Auseinandersetzungen mit der PKK in jenem Gebiet gebunden sind. Auf die Gründe, deretwegen der türkische Staat den syrisch-orthodoxen Christen den gebotenen Schutz gegen die Übergriffe versagt, kommt es für die Zurechnung der Verfolgungsmaßnahmen jedoch nicht an (vgl. BVerwG, Beschl. v. 24. 3. 1995 - 9 B 747.94 - NWVBl. 1995, 381).

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Die Verwicklung des türkischen Staates im Südosten des Landes in Auseinandersetzungen mit der PKK rechtfertigt schließlich nicht die Annahme, daß der Staat sich in der Rolle einer militärisch kämpfenden Bürgerkriegspartei befindet und mangels effektiver Gebietsgewalt im Sinne wirksamer hoheitlicher Überlegenheit als übergreifende effektive Ordnungsmacht in diesem Gebiet nicht mehr besteht, mit der Folge, daß ihm die oben geschilderten Verfolgungen der syrisch-orthodoxen Christen durch Dritte auch nicht zugerechnet werden können. Allerdings spricht das AA im Gegensatz zu den Lageberichten von 1989 und 1990 in seinen Lageberichten von 1994/95/96 mal stärker, mal schwächer von bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen (vgl. z.B. Lagebericht v. 29. 4. 1994, 21. 6. 1994, 17. 1. 1995, 13. 3. 1995, 7. 4. 1995 (EU-Lagebericht), 30. 6. 1995, 7. 12. 1995, 17. 4. 1996). Auch andere Erkenntnismittel sprechen von Bürgerkrieg oder bürgerkriegsähnlichen Umständen (vgl. z.B. edp-Dokumentation v. 2. 9. 1991: "Südosttürkei: In der Region herrscht praktisch Bürgerkrieg"; Nov. 1992 "Krieg im Tür Abdin" Ein Reisebericht...). Gleichwohl ist den Erkenntnismitteln nicht in zureichendem Maße zu entnehmen, daß die Gebietsgewalt des türkischen Staates im Südosten der Türkei ernsthaft in Frage gestellt ist. Dem steht zum einen entgegen, daß die in den Lageberichten des AA z.T. erwähnte Gebietsgewalt der PKK sich lediglich auf einige "bestimmte Bergregionen" beziehen soll. Soweit es im EU-Lagebericht Türkei vom 7. April 1995 generalisierend heißt, im Südosten herrsche "de facto" ein Bürgerkrieg, wird diese Aussage nicht näher untermauert. Zum anderen spricht gegen den Verlust der Gebietsgewalt, daß die türkische Armee nach wie vor ganze Dörfer im Südosten evakuiert (AA v. 4. 3. 1994 an VG Minden; Hahn v. 31. 5. 1994; EU-Lagebericht v. 7. 4. 1995; AA, Lageberichte v. 7. 12. 1995 u.v. 17. 4. 1996).

54

(6) Angesichts der geringen Anzahl der im Tur Abdin (Südosten) verbliebenen syrisch-orthodoxen Christen (ca. 1000 - 1.500, AA, Lageberichte v. 7. 12. 1995 u. 17. 4. 1996) und der damit eingetretenen weitgehenden Entvölkerung des Tur Abdin von Christen (Wießner St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe) ist auch davon auszugehen, daß die die syrisch-orthodoxen Christen dort - insb. von Dorfschützern und Angehörigen der Hisbollah - treffenden Verfolgungsschläge nach ihrer Intensität und Häufigkeit so dicht und eng gestreut fallen, daß bei objektiver Betrachtung für jedes Mitglied dieser Gruppe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Furcht begründet ist, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (vgl. hierzu auch BVerwG, Beschl. v. 22. 5. 1996 - 9 B 136.96 -). Schon die Zahl der glaubhaft geschilderten Vorkommnisse (vgl. z.B. ai v. 18. 5. 1993; FAZ v. 27. 7. 1993; Nov. 1992, "Krieg im Tur Abdin", ein Reisebericht....; Situationsbericht über die Aramäer v. 2. 5. 1993; Solidaritätsgruppe Tur Abdin 1993; SZ v. 24./26. 12. 1994), bei deren Gewichtung zu berücksichtigen ist, daß sich die Beobachter nur über einen kurzen Zeitraum im Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen aufgehalten haben und daher nur über Vorfälle berichten konnten, die während ihrer Aufenthalte geschehen sind oder ihnen geschildert wurden, spricht dagegen, in den asylerheblichen Übergriffen auf Christen nur Einzelfälle zu sehen. Hinzu kommt, daß die Christen in einem Klima ständig steigender Anspannung leben. So verstärkt sich der Druck auf die Christen dadurch, daß zum einen der armenisch-azerbaidschanische Krieg und die Auseinandersetzungen zwischen (christlichen) Serben und Muslimen in Bosnien-Herzegowina als Versuche der Christen zur Ausrottung der Muslime gedeutet werden (Wießner v. 1. 5. u. 8. 9. 1995 an OVG NW.; ai v. 27. 9. u. 20. 10. 1993, 3. 5. u. 14. 12. 1994, 30. 11. 1995) und zum anderen in der Presse immer wieder auf Verbindungen zwischen der PKK und (christlichen) Armeniern hingewiesen wird (AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993; Wießner, St. v. 1. 5. u. 8. 9. 1995 an OVG NW; ai v. 30. 11. 1995), wobei die (muslimische) Öffentlichkeit in der Türkei in der Regel nicht zwischen den einzelnen christlichen Gruppierungen unterscheidet (ai v. 30. 11. 1995; Wießner, St. v. 1. 5. u. 8. 9. 1995 an OVG NW; Oehring, St. v. 17. 6. 1996 vor Nds. OVG). Darüber hinaus hat die in der Türkei zu beobachtende Stärkung des islamischen und nationalen Bewußtseins (vgl. Oehring, St. v. 5. 5. 1995 an OVG NW; 31. 1. 1996 an VG Regensburg u. 26. 2. 1996 an Nds. OVG; Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG; 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe u. 8. 9. 1995 an OVG NW), die immer breitere Bevölkerungskreise (insbesondere der Unter- und Mittelschicht) erfaßt, nicht nur zu einem spürbaren Schwinden der gegenüber Andersgläubigen ohnehin nicht großen Toleranz, sondern auch zum Anwachsen des Fanatismus beigetragen, der sich in erster Linie gegenüber Andersgläubigen entlädt, auch wenn diese - wie die Christen - Inhaber einer sogenannten "Buchreligion" sind. Die innerpolitischen Veränderungen und Spannungen werden insbesondere daran deutlich, daß die nach den Parlamentswahlen vom Dezember 1995 erst nach langen Verhandlungen zustande gekommene Koalition zwischen der Partei des Rechten Weges von Tansu Ciller und der Mutterlandspartei von Mesut Yilmaz mittlerweile zu zerbrechen droht und (erneut) eine Regierungsbeteiligung der (islamischen) Wohlfahrtspartei von Necmettin Erbakan diskutiert wird (FAZ v. 11. 5. 1996; dpa v. 14. 5. 1996; FR v. 23. 5. 1996).

Es ist mithin von einer mittelbaren regionalen Gruppenverfolgung der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei insbesondere in ihrem Hauptsiedlungsgebiet, dem Tur Abdin, auszugehen (ebenso VGH Bad.-Württ., Urt. v. 23. 11. 1995 - A 12 S 3571/94 -; Hess. VGH, Urt. v. 14. 8. 1995 - 12 UE 2496/94 -; OVG NW, Urt. v. 19. 10. 1995 - 2 A 10110/89 -; a. A. OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 4. 12. 1995 - 10 A 11.776/95 OVG -). Umstände, die diese Regelvermutung eigener Verfolgung (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139; Urt. v. 30. 4. 1996 - 9 C 170.95 -) widerlegen könnten, sind nicht ersichtlich.

55

b) Auf diese im Südosten der Türkei seit Frühjahr 1993 bestehende mittelbare Gruppenverfolgung von syrisch-orthodoxen Christen kann sich auch der Kläger als objektiven Nachfluchtgrund berufen, obgleich er erst nach dem Umzug seiner Familie in Istanbul geboren wurde und dort bis zu seiner Ausreise im Juli 1985 gelebt hatte. Der insoweit anderen Ansicht des OVG NW (vgl. z.B. Urt. v. 28. 9. 1994 - 2 A 1411/91.A und vom 22. 6. 1995 - 2 A 3596/91.A -) folgt der Senat nicht. Der letzte Wohnort eines Asylsuchenden vor seiner Ausreise aus dem Heimatstaat, der nicht identisch mit seinem Geburtsort zu sein braucht, hat zwar Bedeutung für die aufgrund einer Rückschau zu beantwortenden Frage, ob er vor seiner Ausreise von politischer Verfolgung betroffen sei. Diese Frage läßt sich nämlich nur anhand der konkreten Verhältnisse des Ortes beantworten, an dem der Asylsuchende vor seiner Ausreise tatsächlich gelebt hat. Ist eine Verfolgungsbetroffenheit dort zu bejahen, kann als inländische Fluchtalternative naturgemäß nur ein außerhalb liegendes Gebiet angesehen werden. Diese Betrachtungsweise ist jedoch dann nicht möglich, wenn der Ausländer seinen Herkunftsstaat verlassen hat und für die Zukunft aufgrund einer Prognose zu beurteilen ist, ob ihm - sofern er wie hier unverfolgt ausgereist ist - wegen Veränderungen im Heimatstaat dort politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Da in diesen Fällen ein Aufenthaltsort im Heimatstaat nicht besteht, fehlt insoweit die lokale Zuordnung der zu prognostizierenden politischen Verfolgung zu einem bestimmten Ort. Nur den Herkunftsort oder einen früheren Aufenthaltsort in Betracht zu ziehen, würde die Basis der Verfolgungsprognose ohne zureichenden Grund verengen. Deshalb ist für die Zukunftsprognose einer politischen Verfolgung das jeweilige Staatsgebiet in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen. Ist dieses - bezogen auf den vom Asylsuchenden geltend gemachten Verfolgungsgrund - nach dem jeweils anzulegenden Wahrscheinlichkeitsmaßstab insgesamt frei von politischer Verfolgung, scheidet ein Asylanspruch auch dann aus, wenn in einem bestimmten Landesteil Bürgerkrieg herrscht oder dort nur ein Leben unterhalb des Existenzminimums möglich ist. Droht jedoch - je nach dem geltend gemachten Verfolgungsgrund - in (irgend-)einem Teil des Staatsgebietes unmittelbare oder vom Staat zu vertretende mittelbare politische Verfolgung (bzw. läßt sie sich bei einem vorverfolgt ausgereisten Ausländer nicht hinreichend sicher ausschließen), so erweist sich der Heimatstaat als ein Verfolgerstaat, wobei es ohne Bedeutung ist, ob die politische Verfolgung in dem Gebiet stattfindet, in dem der Ausländer vor seiner Ausreise gelebt hat oder außerhalb dieses Gebietes und ob der Asylsuchende bei Rückkehr sich überhaupt in diese Region begeben würde (vgl. BVerwG, Urt. v; 16. 2. 1993 - 9 C 31.92 - NVwZ 1993, 791, v. 13. 5. 1993 - 9 C 59.92 - NVwZ 1993, 1210, Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, Stand: 1995, Stichwort: Asylanerkennung, § 13 Rdnr. 20 f). Da der Kläger der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft angehört, würde er der Gruppenverfolgung im Südosten der Türkei unterliegen, wenn man unterstellt, er zöge bei einer Rückkehr dorthin.

56

Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30. April 1996 - 9 C 171.95 - führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. In diesem Urteil hat das Bundesverwaltungsgericht u.a. ausgeführt, stehe fest, daß sich die Gruppenverfolgungsgefahr erst aus zwei oder mehreren Merkmalen und Umständen ergebe, dürfe die Verfolgungsvermutung nicht auf Personen oder Untergruppen erstreckt werden, die nur einen Teil der kumulativen Verfolgungskriterien erfüllten. Die Frage einer "regionalen" Verfolgung (im Unterschied zu einer örtlich begrenzten) durch einen mehrgesichtigen Staat könne sich danach nur für solche Personen stellen, die sämtliche Verfolgungskriterien erfüllten. Angesichts der Vielgestaltigkeit tatsächlicher Erscheinungsformen politischer Einzel- und Gruppenverfolgung komme es darauf an, wer bei realitätsgerechter Ermittlung und Bewertung des gesamten Verfolgungsgeschehens zum Kreis der gefährdeten Personen zu rechnen sei; es sei Aufgabe der Tatsachengerichte, eine solche realitätsgerechte Verfolgungsprognose anzustellen und wertend zu ermitteln, welche Merkmale und Umstände die gefährdete Gruppe kennzeichneten. Der Senat stimmt dem im Ausgangspunkt zu. Da nach der o.a. Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. 2./13. 5. 1993 für die Zukunftsprognose einer politischen Verfolgung das jeweilige Staatsgebiet aber in seiner Gesamtheit in den Blick zu nehmen ist, also gerade nicht (nur) an den letzten Wohn- und Aufenthaltsort des Asylsuchenden vor seiner Ausreise anzuknüpfen ist, sondern hypothetisch unterstellt wird, daß er auch in andere (von Verfolgung betroffene) Gebiete zieht, muß dieser unterstellte Sachverhalt allerdings auch berücksichtigt werden, wenn es um die Frage geht, ob der Asylsuchende alle für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen Merkmale erfüllt. Mit anderen Worten: Die Wohnsitznahme im Südosten muß als gegeben unterstellt werden. Diese Konsequenz wird von dem Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 30. April 1996 - 9 C 171/95 - allerdings nicht gezogen; es führt vielmehr - bezogen auf Kurden - im Ergebnis aus, auch wenn man von einer Gruppenverfolgung (der Kurden) in den Notstandsgebieten ausginge, könnten die außerhalb der Notstandsprovinzen lebenden und beheimateten Kurden in diese Gruppenverfolgung nicht einbezogen werden; denn die (vom Bundesverwaltungsgericht in jenem Verfahren unterstellte) Verfolgung (von Kurden) sei an einen pauschalen Separatismusverdacht geknüpft, der sich nicht gegen alle Angehörigen einer bestimmten Ethnie richte, sondern nur gegen die in dem bestimmten Gebiet lebenden. Zur Gruppe gehöre mithin nur derjenige, der beide Kriterien erfülle.

57

Es kann dahinstehen, ob das Bundesverwaltungsgericht damit zumindest konkludent von seiner o.a. Rechtsprechung aus dem Jahre 1993 abgerückt ist; denn selbst wenn man die Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zugrunde legt und ihnen folgend zwischen regionaler Gruppenverfolgung und örtlich begrenzter Verfolgung unterscheidet, liegt im vorliegenden Fall eine regionale Gruppenverfolgung vor, auf die sich auch der Kläger berufen kann. Die im Südosten/Tur Abdin festzustellende mittelbare Gruppenverfolgung betrifft nämlich erkennbar eine bestimmte Bevölkerungsgruppe allein wegen ihrer Religion. Die Christen werden - wie oben unter B 3 a) ausgeführt - dort allein wegen ihrer von den Moslems als minderwertig angesehenen Religion und daraus folgend auch aus Sicht der Moslems minderwertigeren gesellschaftlichen Stellung angegriffen, drangsaliert und aus dem Gebiet vertrieben. Betrifft die Verfolgung aber erkennbar eine bestimmte Bevölkerungsgruppe allein wegen ihrer Religion, so wird man in der Regel davon ausgehen müssen, daß die Verfolgung zumindest potentiell die gesamte Gruppe erfaßt, der Staat sich also allen Mitgliedern dieser Gruppe gegenüber als Verfolgerstaat zu erkennen gibt (BVerwG, Urt. v. 30. 4. 1996 - 9 C 171.75 -). Daß einzelne Untergruppen dieser Gruppe von dieser Verfolgungssituation ausgenommen sind - z.B. insbesondere die im Westen der Türkei lebenden Christen -, beruht lediglich darauf, daß die Christen im Westen, aber auch z.B. im Hatay, stärker organisiert sind und die Weltöffentlichkeit in diesen Gebieten mehr Anteil am Geschehen nimmt.

58

c) Ist dem Kläger mithin die für den Südosten/Tur Abdin festgestellte mittelbare Gruppenverfolgung zuzurechnen, kann ihm eine Rückkehr nur unter den für eine inländische Fluchtalternative geltenden Voraussetzungen zugemutet werden. Er muß mithin bei Rückkehr hinreichend sicher vor Verfolgung sein (kritisch zu diesem Ansatz Hess. VGH, Urt. v. 26. 7. 1993 - 12 UE 2439/89 - DVbl 1994, 69 u. Urt. v. 14. 8. 1995 - 12 UE 2496/94 -) und es dürfen ihn mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auch keine anderen sonstigen existenzbedrohenden Gefahren erwarten (vgl. BVerwG, Urt. v. 16. 2. 1993 - 9 C 31.92 - NVwZ 1993, 791; v. 13. 5. 1993 - 9 C 59.92 - NVwZ 1993, S. 1210; Marx, Handbuch zur Asyl- und Flüchtlingsanerkennung, Stand: 1995, Stichwort: Asylanerkennung, § 13 Rdnr. 20 f.).

59

Eine inländische Fluchtalternative scheidet danach schon deswegen aus, weil sich der Kläger bei Rückkehr in die Türkei keine wirtschaftliche Existenz aufbauen könnte. Der Senat hat hierzu bezogen auf unmittelbar aus dem Südosten der Türkei stammende syrisch-orthodoxe Christen in seinem Urteil vom 18. Juni 1996 - 11 L 7836/95 - u. a. ausgeführt:

60

"(1) Die Städte im Südosten bzw. im angestammten Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen kommen als inländische Fluchtalternative nicht in Betracht. Dort ist für sie keine hinreichende Sicherheit vor Verfolgung gegeben. Eine hinreichende Sicherheit in diesem Sinne liegt nur vor, wenn überwiegend wahrscheinlich andernorts eine politische Verfolgung ernsthaft nicht zu erwarten wäre, weil dort nur eine entfernte Möglichkeit für eine Verfolgung bestünde. Da sich die Verhältnisse in den Siedlungsgebieten der syrisch-orthodoxen Christen im Südosten der Türkei im wesentlichen gleichen, ist insoweit ein Ausweichen wegen der auch dort herrschenden Gefahr von Übergriffen, ohne daß staatliche Hilfe zu erwarten wäre, nicht zumutbar. Dem Erkenntnismaterial ist nicht zu entnehmen, daß die den syrisch-orthodoxen Christen drohenden Übergriffe sich nur auf einen abgrenzbaren Teil ihres Siedlungsgebietes beschränken (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG).

61

(2) Der Westen der Türkei scheidet - ohne daß auf die Frage nach dem religiösen Existenzminimum näher einzugehen ist - schon deswegen als inländische Fluchtalternative aus, weil nach Auswertung der seit 1993 erstellten Erkenntnismittel bei generalisierender Betrachtung davon auszugehen ist, daß den zuwandernden Christen dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit auf Dauer ein Leben unterhalb des Existenzminimums droht. Die fehlende Möglichkeit, den Lebensunterhalt in menschenwürdigem Umfang auf Dauer zu bestreiten, gehört aber zu denjenigen (sonstigen) Nachteilen, die nach Intensität und Schwere einer asylrelevanten Rechtsgutbeeinträchtigung gleichkommen und die das Bestehen einer Fluchtalternative ausschließen, wenn sie so am Herkunftsort nicht hätten hingenommen werden müssen.

62

Die wirtschaftliche Lage in der Westtürkei und hier insbesondere in Istanbul hat sich für die syrisch-orthodoxen Zuwanderer aus dem Tur Abdin bzw. aus dem Südosten in letzter Zeit erheblich verschlechtert. Während zuziehende syrisch-orthodoxe Christen bis in die 70er Jahre in Istanbul in der Regel keine Schwierigkeiten hatten, ihre Existenz durch unselbständige/selbständige Arbeit sicherzustellen (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Karlsruhe) und auch in den frühen 80er Jahren die Chance, auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, in der Regel für Christen nicht geringer als für Moslems war, auch geschäftliche Kontakte zwischen Moslems und Christen bestanden (vgl. EKD, St. v. 18. 5. 1982 an VG Minden; Akdemir, St. v. 26. 7. 1982 an VG Minden), hat sich die Situation aufgrund der seit Mitte der 80er Jahre einsetzenden allgemeinen Zuwanderungswelle vom Osten in den Westen verschlechtert. Als Folge ist die Arbeitslosigkeit in Istanbul stark gestiegen, wobei ein Rückgang nicht abzusehen ist. Durchschnittlich sind in der Zeit von 1985 bis 1990 knapp 300.000 Einwohner jährlich nach Istanbul gezogen (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Dieser Zuzug hält unvermindert an. Das hat dazu geführt, daß zuziehende Christen sich in der Regel dort weder als Arbeitnehmer noch als Arbeitgeber eine wirtschaftliche Existenz aufbauen können.

63

(a) Die früher gegebene Möglichkeit, bei christlichen Arbeitgebern einen Arbeitsplatz zu finden, ist als erschöpft anzusehen (vgl. Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme... März/Oktober 1993). Zum einen besetzen christliche Arbeitgeber etwaige freiwerdende Arbeitsplätze in erster Linie mit Mitgliedern der eigenen Familie. Zum anderen hat zwischenzeitlich ein Teil der wohlhabenderen christlichen Familien Istanbul verlassen (ai v. 20. 9. 1993 u. 18. 5. 1993), so daß die Zahl der Arbeitsplätze bei christlichen Arbeitgebern insgesamt abgenommen hat. Nach der Darstellung von Said in der öffentlichen Anhörung des Bundestags-Innenausschusses von Sachverständigen zu dem Thema "Die Situation der Menschenrechte in der Türkei" am 15. 3. 1995 (Stenografische Aufzeichnungen S. 128 und 160 ff) sind insbesondere aus dem christlich geprägten Istanbuler Viertel Beyoglu die wohlhabenderen und schon seit Jahrzehnten dort lebenden Christen abgewandert, weil in diesem Stadtviertel bei den Kommunalwahlen zwischenzeitlich ein fundamentalistisch ausgerichteter Bürgermeister gewählt worden sei (vgl. auch FR v. 5. 4. 1994).

64

(b) Es besteht auch keine nennenswerte Möglichkeit, bei moslemischen Arbeitgebern einen Arbeitsplatz (als Arbeitnehmer) zu erhalten.

65

Die aus dem Osten nach Istanbul zuziehenden syrisch-orthodoxen Christen verfügen oft weder über eine Ausbildung noch beherrschen sie die türkische Sprache zureichend. Sie sprechen vielmehr häufig nur ihre Muttersprache, den neuaramäischen Dialekt Toroyo, daneben noch kurdisch als Umgangssprache. Das Fehlen türkischer Sprachkenntnisse stellt aber für Christen ein grundlegendes Hindernis bei der Arbeitssuche dar (Oehring, St. v. 5. 5. 1995; Wießner, St. v. 1. 5. 1995; AA, St. v. 28. 6. 1995, jeweils an OVG NW). Die Betreffenden können auch nicht etwa darauf verwiesen werden, zunächst die türkische Sprache zu erlernen, da sie schon während dieser Zeit von Existenznot betroffen sind.

66

Die Möglichkeit, eine (unselbständige) Arbeit aufzunehmen, stellt sich auch nicht besser dar, wenn der Betreffende über eine (möglicherweise erst während seines Aufenthalts im Bundesgebiet erworbene) Ausbildung verfügt. Die Ausführungen des AA in seiner Auskunft vom 28. 6. 1995 (an OVG NW) das Fehlen türkischer Sprachkenntnisse könne bei einer Tätigkeit für eine ausländische Niederlassung auch durch die Beherrschung von Fremdsprachen (z.B. deutsch) mehr als ausgeglichen werden, sind nicht überzeugend nachzuvollziehen; denn die allgemeine Verständigung im Arbeitsleben eines solchen Unternehmens erfolgt naturgemäß in der Landessprache.

67

Selbst wenn der Betreffende über eine Ausbildung und auch über für die Arbeitsaufnahme erforderliche türkische Sprachkenntnisse verfügen würde, die er sich z.B. während des Wehrdienstes oder der Schulzeit angeeignet hat (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster) stände er - soweit er nicht von Familienangehörigen "aufgefangen" werden kann - dem Problem gegenüber, daß sich aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit (vgl. AA, Lagebericht v. 17. 4. 1996) außer ihm noch etliche - nach türkischen Maßstäben entsprechend qualifizierte - nichtchristliche Stellenbewerber um denselben Arbeitsplatz bewerben würden, so daß er auch bei dieser Konstellation allein aufgrund der großen Zahl der Mitbewerber kaum eine Chance hätte, den Arbeitsplatz zu erhalten (Oehring, St. v. 5. 5. 1995 an OVG NW).

68

Soweit die Christen sich (nur) um eine Arbeit als angelernte Hilfskraft bewerben, scheitert dieses in der Regel ebenfalls an der großen Konkurrenz von Mitbewerbern; denn die in den Westen, insbesondere nach Istanbul, Zuwandernden, insbesondere Kurden, kommen auch in der Mehrheit vom Lande und verfügen ebenfalls über keine Ausbildung. Sie suchen daher in den gleichen Bereichen Arbeit wie die überwiegend auch aus dem ländlichen Bereich stammenden (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe) syrisch-orthodoxen Christen (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster u. v. 5. 5. 1995 an OVG NW). Die wenigen Arbeitsplätze, die von Moslems weitgehend gemieden wurden und deshalb den Christen (und Yeziden) aus dem Südosten zur Verfügung standen wie z.B. die Arbeit in Fellfabriken, sind in Istanbul zum Teil aus Gründen des Umweltschutzes abgebaut worden (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe; Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Karlsruhe; ai v. 20. 10. 1993).

69

Erschwerend kommt allgemein hinzu, daß aus dem bei der Einstellung vorzulegenden Nüfus die Religionszugehörigkeit ersichtlich ist und moslemische Arbeitgeber - aber auch europäische (vgl. Oehring, St. v. 15. Februar 1988 an VG Gelsenkirchen) - es sich im Hinblick auf die zunehmende Islamisierung in der Türkei kaum leisten können, wollen sie nicht Unfrieden unter ihren in der überwiegenden Zahl moslemischen Arbeitnehmern säen, einen Christen als Arbeitnehmer einzustellen (ai v. 31. 3. 1994; Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe).

70

Darüber hinaus kommen die aus dem Tur Abdin/dem Südosten der Türkei abwandernden Christen aus einem mehrheitlich von Kurden bewohnten Gebiet, was - aufgrund des zunehmenden Nationalbewußtseins (vgl. z.B. Oehring, St. v. 5. 5. 1995; Wießner, St. v. 8. 9. 1995, jeweils an OVG NW) - ebenfalls mit Mißtrauen beobachtet wird und eine Arbeitsplatzsuche erschwert (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe u. v. 1. 5. 1995 an OVG NW).

71

Sofern es sich bei dem Arbeitssuchenden um einen aus Europa zurückkehrenden erfolglosen Asylbewerber handelt, wird er schon deswegen kaum eine Arbeitsstelle finden, weil die etwaigen Arbeitgeber fürchten müssen, in eine polizeiliche Überprüfung des Rückkehrers mit einbezogen zu werden (Wießner, St. v. 1. 5. 1995 an OVG NW).

72

Und selbst wenn ein zugewanderter Christ eine Arbeitsstelle als Hilfskraft erhalten sollte, so reicht der dafür gezahlte Lohn regelmäßig zum Überleben nicht aus. Hilfskräfte bekommen noch nicht einmal den staatlich garantierten Mindestlohn, wie er im Regelfall in großen Industriebetrieben gezahlt wird. Schon der staatlich garantierte Mindestlohn liegt jedoch unterhalb des Existenzminimums (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster u. v. 5. 5. 1995 an OVG NW).

73

(c) In der Regel sind auch die Voraussetzungen für die Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit nicht gegeben. Der Bereich des Klein- und Straßenhandels ist für die Christen fast gänzlich versperrt. Zum einen sind die erforderlichen Zulassungen nur über Bestechungen zu erreichen (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe) und es ist nicht davon auszugehen, daß Christen hierbei gegenüber anderen moslemischen Mitbewerbern vorgezogen werden. Zum anderen ist der Handel mafiaähnlich von Straßenbanden organisiert (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG, v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe und 1. 5. 1995 an OVG NW) und liegt überwiegend in der Hand von moslemischen Kurden. Für die Aufnahme einer sonstigen selbständigen Arbeit sind gute türkische Sprachkenntnisse und ein zureichendes Startkapital erforderlich (Oehring, St. v. 5. 5. 1995 an OVG NW). Über beides verfügen syrisch-orthodoxe Christen in der Regel nicht.

74

(d) Die weitgehend übereinstimmende Einschätzung der schlechten Überlebenschancen für neu in den Westen, insbesondere nach Istanbul zugezogene Christen wird auch vom Auswärtigen Amt bestätigt. Während es in seiner Stellungnahme vom 12. März 1990 (an VG Oldenburg) zur wirtschaftlichen Situation lediglich ausführte, die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit sei wegen der schwierigen Wirtschaftslage nicht einfach, heißt es im Lagebericht v. 16. November 1993, daß für viele der weitgehend ungebildeten Zuwanderer und ihrer Familie nur ein Leben am Rande des Existenzminimums gewährleistet sei. Daran anknüpfend wird im Lagebericht vom 21. Juni 1994 festgestellt, daß ein angemessener Lebensunterhalt (bei einer Abwanderung nach Istanbul) in den seltesten Fällen gesichert sei (ebenso Lagebericht vom 17. 1., 13. 3., 30. 6. 1995). Durch diese Wortwahl bringt das Auswärtige Amt - berücksichtigt man die von ihm zu währende diplomatische Rücksichtnahme - nach Überzeugung des Senats hinreichend klar zum Ausdruck, daß auch nach seiner Einschätzung das wirtschaftliche Existenzminimum für die syrisch-orthodoxen Zuwanderer im Westen/in Istanbul nicht (mehr) gewährleistet ist. Dem steht nicht entgegen, daß in den Lageberichten vom 17. 1., 13. 3. und 30. 6. 1995 an anderer Stelle allgemein festgestellt wird, daß es weder "Hungersnot noch eine sonstige generelle Existenzbedrohung" im Westen gebe, die überwiegende Mehrheit der dorthin Ziehenden vielmehr ihr - oft bescheidenes - Auskommen finde, und niemand - bis auf wenige Einzelfälle - Hunger leiden müsse. Denn diese Einschätzungen betreffen nach ihrem Sachzusammenhang die allgemeine Situation in der Türkei, gelten jedoch nicht für die Untergruppe der (syrisch-orthodoxen) Christen, da hierzu in den jeweiligen Lageberichten noch eine spezielle Auskunft erteilt wird.

75

Allerdings wird in den letzten Lageberichten vom 7. 12. 1995 und 17. 4. 1996 nicht (mehr) ausgeführt, daß eine Existenzgründung im Westen unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zunehmend zweifelhaft erscheine. Das Auswärtige Amt weist vielmehr darauf hin, daß sich die wirtschaftliche Lage von umsiedelnden Christen insbesondere in Tourismuszentren im Westen erheblich besser darstellen "könnte"; Zuwanderer, die über ein Mindestmaß an praktischer Berufserfahrung und türkische Sprachkenntnisse verfügten, hätten es grundsätzlich leichter als ungelernte Landarbeiter ohne Sprachkenntnisse; sollten bereits Mitglieder der Familie in Istanbul oder anderen westlichen Städten ansässig sein, würden sie den Neuankömmlingen am Anfang üblicherweise behilflich sein. Gleichwohl läßt sich aus diesen Lageberichten eine bessere wirtschaftliche Lage der Christen nicht ableiten; denn die für eine wirtschaftliche Existenzgründung genannten Bedingungen - türkische Sprachkenntnisse, praktische Berufserfahrung, im Westen der Türkei ansässige Familienmitglieder - liegen in der Regel bei den syrisch-orthodoxen Christen gerade nicht vor. Weil es generell bereits an diesen Prämissen fehlt, kann auch den Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 19. 9. 1994 (an Nds.OVG) und vom 13. 11. 1995 (an VG Ansbach) keine günstigere Prognose entnommen werden.

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(e) Die aus dem ländlichen Bereich des Tur Abdin/des Südostens nach Istanbul zuziehenden Christen können auch nicht mit einer ausreichenden finanziellen Unterstützung der dortigen syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde rechnen. Allerdings bemüht sich der derzeitige syrisch-orthodoxe Metropolit (Erzbischof) Cetin in Istanbul darum, die reichen Gemeindemitglieder zu Spenden zu bewegen. Wenn diese Bemühungen auch nicht völlig erfolglos geblieben sind, so reicht das Spendenaufkommen doch bei weitem nicht aus, das Überleben von neuzugezogenen syrisch-orthodoxen Familien zu sichern (vgl. hierzu Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Die reicheren Mitglieder der Gemeinde zeigen sich vielmehr relativ reserviert gegenüber derartigen Spendenaufrufen. Der Grund hierfür liegt zum einen darin, daß die Strukturen der Gemeinde (wie nahezu bei allen orthodoxen Gemeinden) durch die Existenz von solidarischen "Familienverbänden" bestimmt sind, aber nicht durch "christliche Solidarität" in unserem Verständnis (Wießner, St. v. 1. 5. 1995 an OVG NW). Da auch die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei dem Denken in Großfamilien verhaftet sind, besteht bei der christlichen Gemeinde kein bzw. nur ein gering ausgeprägtes Bewußtsein dafür, den nicht zur eigenen Großfamilie gehörenden Gemeindemitgliedern zu helfen (vgl. Vertreter der EKD am 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig; Weber/Günther/Reuther, November 1989). Zum anderen sind die in den letzten Jahren nach Istanbul neu zugewanderten Christen durch ihre Sitten auffällig, gleichen äußerlich den zugezogenen moslemischen Kurden und stören damit das Image der syrisch-christlichen Gemeinde, deren schon länger in Istanbul ansässige und relativ wohlhabende Mitglieder sich zum großen Teil um die äußerliche Einordnung in die türkische Gesellschaft bemühen (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG). Einen zu großen Zuzug von Zuwanderern aus dem Tur Abdin/Südosten sehen diese alteingesessenen Gemeindemitglieder häufig als eine Gefährdung ihrer Existenz an (Wießner v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe). Sie stehen daher den Zuwanderern skeptisch bis abweisend gegenüber, es sei denn, es handelt sich um vermögende Personen (Wießner, St. v. 1. 5. 1995 an OVG NW). Die in Istanbul bestehenden christlichen Gemeinden haben kein Interesse daran, ihre Situation, die schon schwierig genug ist, durch die ungehemmte Zuwanderung von neuen Gemeindemitgliedern aus dem Südosten der Türkei zusätzlich zu belasten (Wießner, St. v. 29. 4. 1994 an VG Karlsruhe). Insbesondere Rückwanderer aus Europa werden kritisch betrachtet. Die Rückwanderung stößt auf Unverständnis, auch deswegen, weil ein längerer Aufenthalt in Europa zu einer Veränderung der Lebenseinstellung und der Sitten führt und damit ein Element der Unruhe in die traditionellen sozialen Ordnungsmechanismen hineinträgt. Kommen schließlich nur einzelne Personen eines Familienverbandes zurück, während Familienangehörige im Ausland verbleiben, stößt dieses auf vollkommenes Unverständnis. Nach der auch in den christlich-orientalischen Gemeinden vorherrschenden Tradition ist die Familie für die Betreuung und für den Unterhalt aller Angehöriger zuständig. Kehrt nur eine Person zurück, wird dieses von der Mehrzahl der Gemeindemitglieder als eine Art Verstoßung begriffen, als eine nicht zu akzeptierende Auflösung des zu fordernden Zusammenhalts der Familie unter den "sittenzerstörenden Einflüssen der europäischen Kultur".

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Eine derartige Auflösung der Familie wird nicht nur den in Europa verbliebenen Mitgliedern der Familie, sondern auch dem wieder in die Türkei Zurückgekehrten zur Last gelegt, so daß dessen Existenz durch derartige Vorurteile in starkem Maße von Anfang an belastet ist (vgl. Wießner v. 23. 2. 1995 an VG Mainz). Die zunehmende Islamisierung, die Verstärkung der national-türkischen Politik und die politische Propaganda gegen das unter der Bezeichnung "Armenier" zusammengefaßte Christentum haben bei allen christlichen Gemeinden in Istanbul zu einer starken Verunsicherung geführt und den Drang zur Auswanderung verstärkt. Als Folge davon ziehen sich die christlichen Gemeinden weiter zurück und sind auch deswegen kaum bereit, sich neben dieser allgemeinen Bedrängnis noch zusätzlich mit der Existenz von mittellosen Zuwanderern bzw. abgewiesenen Asylbewerbern zu belasten (Wießner v. 1. 5. 1995, 8. 9. 1995, jeweils an OVG NW). Weitere syrisch-orthodoxe Gemeinden, die zu einer finanziellen Unterstützung christlicher Zuwanderer imstande wären, existieren im Westen nicht (vgl. AA, Lagebericht v. 17. 4. 1996).

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(f) Es ist auch nicht davon auszugehen, daß andere christliche Kirchengemeinden im Westen, insbesondere in Istanbul den syrisch-orthodoxen Zuwanderern helfen. Die übrigen christlichen Kirchen in Istanbul sind bereits damit überfordert, Zuwanderern, die der eigenen Kirche angehören, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu verschaffen. Eine früher von der Caritas gewährte Hilfe ist inzwischen eingestellt worden (Oehring v. 31. 10. 1993 an VG Ansbach; Diestelmann v. 14. 9. 1993 an OVG Lüneburg, Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme.... Oktober 1993).

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(g) Ein Anspruch auf staatliche soziale Hilfeleistungen besteht in der Türkei nicht (AA, Lagebericht v. 13. 3. 1995 u. v. 17. 4. 1996).

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(3) In den übrigen Gebieten der Türkei bestehen für die syrisch-orthodoxen Zuwanderer aus dem Südosten/Tur Abdin regelmäßig ebenfalls keine Möglichkeiten, ihre wirtschaftliche Existenz zu sichern. Dort fehlt schon die minimale Unterstützung durch eine syrisch-orthodoxe Gemeinde (AA, Lagebericht v. 7. 12. 1995 u. v. 17. 4. 1996). Die Verhältnisse zur Gründung einer wirtschaftlichen Existenz sind dort somit noch schlechter als in Istanbul (Oehring v. 20. 8. 1993 an VG Ansbach). Die Kläger können auch nicht auf die südtürkische Provinz Hatay verwiesen werden, in der nach den Lageberichten des AA vom 7. 12. 1995 u. 17. 4. 1996 "einige syrisch-orthodoxe Familien in Iskenderun und Antakya" leben sollen; denn wenn schon die zahlenmäßig größte Gemeinde in Istanbul Zuwanderer nicht wirtschaftlich aufnehmen kann, gilt dies erst recht für "einige" syrisch-orthodoxe Familien in der Provinz Hatay."

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Diese Überlegungen gelten grundsätzlich auch für den Kläger.

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(4) Der Kläger fällt auch unter den Personenkreis, der von den verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen betroffen ist. Zwar verfügt er über eine Berufsausbildung als Fliesenleger. Er beherrscht die türkische Sprache aber nur unzureichend. Unabhängig davon steht die große Zahl von moslemischen Mitbewerbern bei einer Rückkehr in die Türkei einer Arbeitsaufnahme (als unselbständiger Arbeitnehmer) entgegen. Die Voraussetzungen für eine existenzsichernde selbständige Tätigkeit (gute Türkischkenntnisse einschließlich Startkapital) liegen nicht vor. Der Kläger hat schließlich glaubhaft versichert, daß er in der Türkei keine Verwandten mehr habe. Es ist auch nicht damit zu rechnen, daß seine - nicht als asylberechtigt anerkannten - Eltern und Geschwister in die Türkei zurückkehren; denn sie fallen unter die Bleiberechtsregelung des Niedersächsischen Innenministeriums vom 27. September 1992 (Nds. MBl. 1992, 1336).

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(5) Die mithin für den Kläger bei einer etwaigen Rückkehr in die Türkei bestehenden existenziellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten bestanden auch sonst so nicht. Dabei kann offen bleiben, ob man zum Vergleich auf seine wirtschaftliche Situation in Istanbul bei seiner Ausreise aus der Türkei abstellt oder auf die wirtschaftliche Situation, die der Kläger bei einer (hypothetischen) Rückkehr in den Südosten der Türkei als das Gebiet, dessen regionale Gruppenverfolgung von Christen ihn zugute kommt, vorfinden wird. In beiden Fällen ist die Lage als wirtschaftlich besser anzusehen. So wurde der Kläger im Zeitpunkt seiner Ausreise noch von seiner Familie "aufgefangen" und zumindest einzelne Familienmitglieder gingen einer wenn auch nur relativ gering entlohnten Arbeit nach. Nunmehr würde der Kläger jedoch allein nach Istanbul zurückkehren, ohne daß ihm unterstützende Verwandte zur Seite stehen. Hinzu kommt, daß sich die wirtschaftliche Situation in der Türkei insgesamt und insb. für die Christen wegen der zunehmenden Arbeitslosigkeit und der sich verstärkenden islamischen und nationalen Tendenzen verschlechtert hat (vgl. hierzu Oehring, St. v. 17. 6. 1996 vor Nds. OVG), so daß für Christen bei generalisierender Betrachtung keine Chance auf einen Arbeitsplatz besteht (vgl. oben B 3 c)). Auch die wirtschaftliche Situation, die der Kläger bei einem (hypothetischen) Zuzug in den Südosten der Türkei vorfinden würde, ist als günstiger anzusehen. Insoweit sind nämlich bei einem Vergleich die verfolgungsbedingten Drangsalierungen im Südosten außer Betracht zu lassen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 22. 5. 1996 - 9 B 136.96 -). Ohne diese verfolgungsbedingten Beeinträchtigungen könnten die Christen aber - wie dem Senat aus einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist - in den ländlichen Bereichen des Südostens der Türkei durch Landwirtschaft, Viehhaltung oder Weinanbau ihr wirtschaftliches Auskommen finden. Dies gilt auch für den Kläger, zumal er bei einem Zuzug insbesondere in den Tur Abdin ohne die verfolgungsbedingten Beeinträchtigungen auf eine hinreichende Unterstützung der dort vorhandenen Gemeindemitglieder bauen könnte.

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C) Da der Kläger gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG als Asylberechtigte anzuerkennen ist, war auch die Feststellung zu treffen, daß ihm Abschiebungsschutz nach § 51 Abs. 1 AuslG zusteht; denn mit der Neubestimmung des Asylantragsbegriffes (§ 7 Abs. 1 AsylVfG) ist der Streitgegenstand in einem vom Bundesamt vor dem 31. Dezember 1990 entschiedenen Asylverfahren, das am 1. Januar 1991 noch bei Gericht anhängig war (so das vorliegende Verfahren), von Gesetzes wegen auf die Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG erweitert worden (BVerwG, Urt. v. 18. 2. 1992 - 9 C 59.91 - DVBl. 1992, 843).

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Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 2 VwGO (vgl. Kopp, Komm. zur VwGO, 10. Aufl., § 154 Abs. 7). Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO.

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Da die Entscheidung maßgeblich von der Frage abhängt, ob auch ein außerhalb des Südostens der Türkei lebender Christ sich auf die für den Südosten anzunehmende mittelbare Gruppenverfolgung der Christen berufen kann und das OVG NW hierzu eine von der Auffassung des Senats abweichende Meinung vertritt, war die Revision gemäß § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zuzulassen.

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Heidelmann

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Vogel

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Richter am Verwaltungsgericht Leiner kann nicht unterschreiben, da seine Abordnung an das Nds. OVG beendet ist

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Heidelmann