Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 25.08.2023, Az.: 1 A 320/21
Asyl; Freiheitsstrafe; Körperverletzung; Sexuelle Nötigung; Sexueller Missbrauch; Widerruf der Flüchtlingsanerkennung; Widerruf der Flüchtlingseigenschaft wegen einer Straftat
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 25.08.2023
- Aktenzeichen
- 1 A 320/21
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2023, 38561
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGBRAUN:2023:0825.1A320.21.00
Rechtsgrundlagen
- AsylG § 73 Abs. 1 Satz 1
- AufenthG § 60 Abs. 8
- StGB § 177
- VwGO § 52
Amtlicher Leitsatz
Der Kläger, der wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden ist, stellt in dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Im Rahmen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Verurteilung die Annahme rechtfertigt, dass der Kläger tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne der Vorschrift darstellt. Erforderlich ist insoweit, dass eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht. Zu den in die Prognoseentscheidung einzubeziehenden Umständen gehören insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. EuGH, Urt. v. 06.07.2023 C 8/22 -, juris; BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 17/12 -, juris Rn. 11). Die vom Kläger begangenen Straftaten weisen unter Würdigung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls die für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Schwere auf.
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Kläger. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des festzusetzenden Vollstreckungsbetrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
Der Kläger hat die syrische Staats-, arabischer Volks-, und muslimische Religionszugehörigkeit (Sunnit). Er reiste nach eigenen Angaben am 14. November 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein. Am 23. Dezember 2015 stellte er einen Asylantrag. Auf die persönliche Anhörung wurde verzichtet, stattdessen füllte der Kläger einen Fragebogen aus. Mit Bescheid vom 20. Januar 2016 wurde dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Mit Schreiben vom 29. Januar 2018 bat die Beklagte um Auskünfte, da sie die Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufs-/ Rücknahmeverfahrens prüft. Am 15. Juni 2018 wurde dem Kläger ein Hausverbot für das Jobcenter des Landkreises G. ausgesprochen, nachdem er zuvor aggressiv gegenüber einem Mitarbeiter aufgetreten war (Bl. 52 Ausländerakte (AA)). Am 1. August 2018 wurde Herr H. I. als Betreuer für den Kläger bestellt.
Am 5. Februar 2020 fand das Gespräch zur Prüfung, ob ein Widerrufs-/Rücknahmeverfahren einzuleiten ist, mit dem Kläger in der JVA J. statt. Das Gespräch wurde durchgeführt von dem Anhörer Herrn K. und dem Sprachmittler mit der Nummer L. (M. M.). Auf die Frage, warum er derzeit eine Haftstrafe absitze antwortete der Kläger, dass seine Freundin ihn angezeigt habe, Sie hätten sich geschlagen und seine Freundin hätte behauptet, dass er sie vergewaltigt habe, was nicht stimme. Nachdem seine Freundin den Vorwurf der Vergewaltigung zurückgenommen habe, sei seine Haftstrafe von 3 auf 1 Jahr abgesenkt worden.
Mit Urteil des Landgerichts vom N.. Mai 2020 wurde der Kläger wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung verurteilt. Am 30. Dezember 2020 wurde sodann ein Widerrufsverfahren eingeleitet. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass aufgrund der Straffälligkeit des Ausländers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vorlägen und auf seine Verurteilung wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung Bezug genommen. Zudem liege eine Wiederholungsgefahr vor. Der zum Ausdruck gekommene bisherige problematische Umgang des Klägers mit der hier geltenden Rechtsordnung sowie die kriminelle Energie und das Gewicht der bei einem Rückfall bedrohten Rechtsgüter rechtfertigten für sich bereits die Annahme, dass beim Kläger von einer hinreichend konkreten Wiederholungsgefahr auszugehen sei. Dies gelte insbesondere, da gerade bei Sexualstraftätern eine sehr hohe Rückfallwahrscheinlichkeit gegeben sei (vgl. VG München, Urt. v. 14.01.2010 - M 4 K 09.50134, Seite 11). Bekräftigt werde diese Annahme zudem vor dem Hintergrund, dass der Ausländer bereits vor dieser Verurteilung strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Aus dem Bundeszentralregisterauszug lasse sich entnehmen, dass er wegen Beleidigung vom Amtsgericht O. (Az.: P.) am 13. März 2018 zu einer Geldstrafe von 45 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt worden sei. Im Urteil des Landgerichts Q. wird die Feststellung des Strafbefehls wie folgt zitiert: "Am 04.02.2018 gegen 11:00 Uhr sprachen Sie die an Ihnen vorbeilaufende Zeugin [...] an und fragten sie, ob Sie mit ihr reden könnten. Auf die dies bejahende Reaktion der Zeugin sagten Sei dann zu ihr: "Eigentlich will ich Sex haben und gebe dir 100 Euro." Hierdurch setzten Sie die Zeugin in ihrer Ehre herab, was Sie nach dem objektiven Sinn Ihrer Äußerung zumindest billigend in Kauf nahmen," Ferner sei der Kläger am 20.02.2019 vom Amtsgericht G. (Az.: R.) wegen Beleidigung zu seiner Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je 15,00 € verurteilt worden. Hierzu wird im Urteil des Landgerichts Q. die Feststellung des Strafbefehls wie folgt zitiert: "Sie sprachen die Zeugin [...] auf dem Gehweg in der Hildesheimer Straße unvermittelt an und fragten, ob sie kurz Zeit habe. Anschließend äußerte Sie gegenüber der Zeugin "Ich möchte Sex mir dir", wobei Sie auf die Zeugin zu kamen. Durch diese Äußerung setzten Sie die Zeugin in ihrer Ehre herab, was Sie zumindest billigend in Kauf nahmen." Vorgenannte Vorstrafen zeigten, dass der Kläger - wie im Urteil des Landgerichts Q. ausgeführt wird - die Ehre von Frauen nicht respektieren würde, sondern sein Verhalten steigerte und durch seine sexuelle Handlung die körperliche Integrität verletzt habe. Zudem zeige sich der Kläger nicht einsichtig. Selbst bei dem am 5. Februar 2020 geführten Gespräch zur Prüfung, ob ein Widerrufs/Rücknahmeverfahren einzuleiten sei, habe der Kläger die dem Urteil des AG G. zugrundeliegende Tat bestritten. Das ausgeübte Ermessen falle zu Ungunsten des Ausländers aus und stehe einem Widerruf nicht entgegen. Das öffentliche Interesse am Widerruf der Flüchtlingseigenschaft überwiege wegen der Schwere der von dem Kläger begangenen Straftat und der Wiederholungsgefahr. Das schutzwürdige Vertrauen des Klägers auf den Fortbestand der begünstigenden Entscheidung trete demgegenüber zurück. Zudem sei vorliegend auch der Ausschlusstatbestand gem. § 60 Abs. 8 Satz 1, 2. Alt. AufenthG erfüllt. Danach entfällt der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Antragsteller aus schwerwiegenden Gründen eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist.
Der Kläger erhielt mit Schreiben vom 4. Januar 2021 Gelegenheit zur Stellungnahme. Sein Betreuer, Herr H. I. (Bl. 50 BA Widerrufsverfahren), teilte daraufhin für den Kläger mit, dass die Rückkehr nach Syrien für den Kläger eine Gefahr für Leib und Leben bedeuten würde und bittet darum, keinen Gebrauch von dem Widerruf der Flüchtlingseigenschaft zu machen, um irreversible Nachteile für den Kläger zu vermeiden.
Mit Bescheid vom 5. Februar 2021 hat die Beklagte die mit Bescheid vom 20. Januar 2016 (Az.: S.) zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen (Ziffer 1) und den subsidiären Schutzstatus nicht zuerkannt (Ziffer 2). Außerdem hat sie festgestellt, dass ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Syrien vorliegt (Ziffer 3). Der Widerruf wurde damit begründet, dass Ausschlusstatbestände gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG vorlägen und Bezug auf die Urteile des Amtsgerichts G. vom 27.11.2019 (Az.: T.) und des Landgerichts Q. (Az.: U. vom 18.05.2020 genommen. Die Art der Straftat und die Höhe des Strafmaßes erfülle die in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG geforderten Voraussetzungen. Zudem liege eine Wiederholungsgefahr vor. Dafür sprächen die weiteren Verurteilungen sowie seine Uneinsichtigkeit. Im Rahmen der Stellungnahme seien keine persönlichen Belange vorgetragen worden. Darüber hinaus falle das notwendige Ermessen zu Ungunsten des Ausländers aus und stehe einem Widerruf nicht entgegen. Nach Aktenlage überwiege das öffentliche Interesse am Widerruf der Flüchtlingseigenschaft. Ziel der mit dem Gesetz zur erleichterten Ausweisung von straffälligen Ausländern und zum erweiterten Ausschluss der Flüchtlingsanerkennung vom 11.03.2016 u.a. in § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG geschaffenen Neuregelung sei es, Schutzsuchenden, die gravierende Straftaten begehen, die rechtliche Anerkennung als Flüchtling konsequenter als bisher versagen zu können. Denn, so die Gesetzesbegründung, wenn Ausländer, die in Deutschland im Rahmen von Asylverfahren Schutz suchen und Straftaten von erheblichem Ausmaß begehen, könne dies den gesellschaftlichen Frieden in Deutschland und die Akzeptanz für die Aufnahme von Schutzbedürftigen gefährden (vgl. BT-Drs. 18/7537). Im Rahmen der Abwägung rechtfertige insbesondere die Art der vom Ausländer begangenen Straftaten, das öffentliche Interesse höher zu gewichten, als seine persönlichen Belange. Zudem werde den persönlichen Belangen des Klägers dadurch Rechnung getragen, dass ein Abschiebungsverbot festgestellt werde.
Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes lägen nicht vor, da schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen würden, dass der Kläger eine schwere Straftat begangen habe und damit der Ausschlusstatbestand gem. § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erfüllt sei. Für die Beurteilung der Schwere einer Straftat im Sinne des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG könnten dabei eine Vielzahl von Kriterien herangezogen werden. Diese seien unter anderem die Art der Straftat, verursachte Schäden, individuelle Strafzumessungsfaktoren, gesetzlich vorgesehene Strafrahmen und die Berücksichtigung der Frage, ob die fragliche Straftat in den anderen Rechtsordnungen ebenfalls überwiegend als schwere Straftat angesehen wird (vgl. EuGH, Urt. v. 13.09.2018, C- 369/17). Bei den Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung, die der Kläger nach rechtkräftigem Urteil begangen habe, handele es sich um schwere Straftaten. Die Bewertung der vom Ausländer begangenen Tat als schwere Straftat werde zudem deutlich vor dem Hintergrund der Neuregelung des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, wonach ein Ausweisungsinteresse besonders schwer wiegt, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 StGB ist. Diese Wertung des Gesetzgebers verdeutliche zusätzlich, dass die vom Ausländer begangene - und gerichtlich entsprechend geahndete - Tat eine schwere Straftat im Sinne von § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG darstelle. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Syrien lägen vor.
Gegen den Widerrufsbescheid, der dem Betreuer des Klägers ausweislich der Postzustellurkunde am 11. Februar 2021 zugestellt worden ist, hat der Kläger am 25. Februar 2021 Klage erhoben. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass das gesamte Widerrufsverfahren an formellen Fehlern leide. Entgegen des Vorbringens der Beklagten, das Widerspruchsverfahren sei mit der Verfügung vom 30. Dezember 2020 eingeleitet worden, enthalte die Akte der Beklagten ein Schreiben vom 29. Januar 2018, mit dem die Ausländerbehörde des Landkreises G. angeschrieben und über die Prüfung der Voraussetzungen für die Einleitung eines Widerrufsverfahrens in Kenntnis gesetzt wurde. Die dreijährige Frist habe jedoch mit dem Ablauf des 3. Februar 2019 geendet. Bis dahin habe die Beklagte das Verfahren jedoch nicht weiterbetrieben. Ein Widerruf gemäß § 73 Abs. 2a, Satz 1 AsylG sei somit nicht mehr möglich gewesen. Die Rechtswidrigkeit des Bescheides ergebe sich bereits daraus, dass der Name des bei der Anhörung anwesenden Sprachmittlers nicht in der Niederschrift enthalten ist, sondern lediglich eine Kennziffer. Für die Anhörung hätten die Voraussetzungen des § 24 AsylG gegolten. Mit den Vorschriften des § 24 Abs. 1 S. 1 und 3 AsylG werde die allgemein anwendbare Bestimmung des Art. 41 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) einfachgesetzlich konkretisiert. Nach Art. 41 Abs. 2 GRCh umfasse das in Art. 41 Abs. 1 GRCh garantierte Recht auf eine gute Verwaltung insbesondere gemäß Art. 41 Abs. 2 a GRCh das Recht jeder Person, gehört zu werden, bevor ihr gegenüber eine für sie nachteilige individuelle Maßnahme getroffen werde. Das Recht auf Gehör garantiere jeder Person die Möglichkeit, im Verwaltungsverfahren sachdienlich und wirksam ihren Standpunkt vorzutragen und dass die Verwaltung mit aller gebotenen Sorgfalt ihre Erklärungen zur Kenntnis nehme, indem sie sorgfältig und unparteiisch alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls untersuche, bevor eine nachteilige Entscheidung ergehe. Es gelte als selbstverständlich, dass vor Gericht die ausreichende Verständnis- und Artikulationsmöglichkeit für alle Beteiligten zu den Essentialien eines rechtsstaatlichen fairen und den Anspruch auf rechtliches Gehör achtenden Verfahrens gehöre (vgl. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 bzw. Art. 103 Abs. 1 GG), weil sie anderenfalls zum Objekt dieses Verfahrens gemacht würden und nicht in dem gebotenen Maße effektiv auf das Verfahren Einfluss nehmen könnten. Dies gelte nach rechtsstaatlichen Grundsätzen auch für das Verwaltungsverfahren. Im Asylverfahren habe die Tätigkeit des Übersetzers bzw. Dolmetschers eine herausragende Funktion. Setze das Bundesamt einen nicht geeigneten Dolmetscher oder Übersetzer ein, werde daher das Recht auf Gehör verletzt. Es sei nicht erkennbar, welche Person bei der Anhörung des Klägers am 5. Februar 2020 als Sprachmittler eingesetzt worden sei. Deshalb könne nicht festgestellt werden, dass die Beklagte ihre Verpflichtung aus § 17 Abs. 1 AsylG beachtet habe und es sei somit eine Verletzung von § 24 Abs. 1 S. 3 AsylG anzunehmen, was zur Rechtswidrigkeit des aufgrund der zumindest rechtsfehlerhaft erfolgten Anhörung führen würde. Zudem habe die Beklagte bei der Anhörung Fragen gestellt, damit sich der Kläger in dem laufenden Strafverfahren selbst belaste. Der Kläger sei gefragt worden, aus welchem Grund er derzeit eine Haftstrafe absitzen würde, obwohl der Beklagten bewusst gewesen sei, dass er sich in Untersuchungshaft befinde. Weiterhin habe die Beklagte das ihr von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen fehlerhaft ausgeübt. Für die Anwendung des § 60 Abs. 8, Satz 3 AufenthG würden andere Voraussetzungen gelten, als die auf Seite 3 des Bescheides genannten Voraussetzungen für die Anwendung des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Aus den beiden ersten Einträgen des BZR würden sich zwei Verurteilungen, die nicht einschlägig wären, um daraus eine Wiederholungsgefahr abgeleitet zu können. Dies ergebe sich bereits aus der genannten Paragraphenkette; die Beleidigung im Sinne des § 185 StGB gehöre nicht zum 13. Abschnitt - Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung. Es werde ausdrücklich in Abrede gestellt, dass bei Sexualstraftaten eine sehr hohe Rückfallwahrscheinlichkeit gegeben sei. Die Gefahrenprognose erfordere eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger nach der Verbüßung der sehr langen Freiheitsstrafe, insbesondere im Hinblick darauf, dass diese meist nach 2/3 zur Bewährung unter Bewährungsaufsicht, ggf. unter Auflagen, ausgesetzt werden können, rückfällig werden könne. Die Beklagte spreche dem Kläger schon jetzt jegliche positive Sozialprognose ab. Soweit der Kläger vermeintlich die Tat in der Anhörung vom 5. Februar 2020 bestritten habe, gelte zu berücksichtigen, dass das Urteil noch nicht rechtskräftig gewesen sei. Die persönlichen Belange des Klägers seien entgegen der Ansicht der Beklagten durch die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nicht hinreichend gewahrt.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 5. Februar 2021, zugegangen am 11. Februar 2021, zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten im Sinne des Art. 16 a Abs. 1 GG anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen;
hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, ihm den subsidiären Schutz zuzuerkennen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid und trägt ergänzend vor, dass der Name des Sprachmittlers in der Anhörung am 5. Februar 2020 M. M. (Vor- und Zuname sind gleich), geboren am V.. Juni 1993, laute. Die Benennung erfolge bei berechtigtem Interesse unter Berücksichtigung des Datenschutzes anhand der Dolmetschernummer (hier: L.). Es liege kein Fristversäumnis vor. Gemäß § 73 Abs. 7 AsylG ende die Frist nach Abs. 3a S. 1 für die Entscheidung des Bundesamtes über die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, die im Jahre 2016 unanfechtbar geworden sind, am 31. Dezember 2020. Lägen die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme vor, teile das Bundesamt dieses Ergebnis der Ausländerbehörde bis zum 31. Januar des Folgejahres mit (§ 73 Abs. 7 S. 2 i.V.m. § 73 Abs. 2a S. 2 AsylG). Mit Verfügung vom 30. Dezember 2020 sei entschieden worden, dass ein Widerrufsverfahren einzuleiten sei. Darüber sei die Ausländerbehörde am 30. Dezember 2020 in Kenntnis gesetzt worden. Bei dem Gespräch mit dem Kläger am 5. Februar 2020 habe es sich um eine Anhörung i. S. d. § 25 AsylG gehandelt. Rechtliche Grundlage finde das Gespräch in § 73 Abs. 3a S.2 i.V.m. § 15 Abs. 2 Nr. 1 AsylG. Ein solches Gespräch sei angezeigt gewesen, da das Anerkennungsverfahren des Klägers im schriftlichen Verfahren ohne Anhörung entschieden worden sei. Ziel der Befragung sei gewesen, den individuellen Sachverhalt, der zur Ausreise geführt habe, zu erfragen und die Identität und Herkunft des Ausländers zu klären. Der Ablauf und die Bedeutung des Gesprächs seien dem Kläger ausweislich der vorliegenden Niederschrift erläutert worden. Nach Einleitung des Widerrufsverfahrens sei dem Kläger mit Schreiben vom 5. Januar 2021 hinsichtlich des beabsichtigten Widerrufs rechtliches Gehör gewährt worden. Hinsichtlich der seitens des Klägers bemängelten Ermessensausübung seien keine Aspekte vorgetragen worden, die sich zu Gunsten des Klägers auswirken könnten und in Abweichung von der Feststellung im streitgegenständlichen Bescheid eine andere Beurteilung zu lassen könnten.
Mit Beschluss vom 28. Juli 2023 ist der Rechtsstreit der Berichterstatterin als Einzelrichterin zur Entscheidung übertragen worden. Der Kläger ist in der mündlichen Verhandlung des Gerichts informatorisch befragt worden. Insoweit wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte, den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten sowie die Ausländerakte des Klägers Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus hat das Bundesamt zu Recht abgelehnt.
Das Verwaltungsgerichts Braunschweig ist örtlich Zuständigkeit. § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ist nicht einschlägig sein, da zum maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung keine Verpflichtung für den Kläger bestand, im Bezirk des Verwaltungsgerichts Braunschweig seinen Wohnsitz zu nehmen. Vorliegend ergibt sich die Zuständigkeit aus § 52 Nr. 3 Satz 2 VwGO. Danach ist, wenn der Verwaltungsakt von einer Behörde, deren Zuständigkeit sich auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke erstreckt, oder von einer gemeinsamen Behörde mehrerer oder aller Länder erlassen worden ist, das Verwaltungsgericht zuständig, in dessen Bezirk der Beschwerte seinen Sitz oder Wohnsitz hat. Die Zuständigkeit der Beklagten als Bundesoberbehörde erstreckt sich auf mehrere Verwaltungsgerichtsbezirke, vgl. § 5 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Zum maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung hatte der Kläger seinen Wohnsitz in G., befand sich jedoch in Haft, wobei die Haftanstalt sich ebenfalls im Bezirk des Verwaltungsgerichts Braunschweig befand. Nach § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17 Abs. 1 Satz 1 GVG haben nach Rechtshängigkeit eintretende Änderungen keinen Einfluss auf die Zuständigkeit des Gerichts. Hiervon ist auch die örtliche Zuständigkeit erfasst. Der Umzug des Klägers erfolgte erst im Jahr 2023, mithin später als die durch Klageerhebung am 25. Februar 2021 eigetretene Rechtshängigkeit der Klage (vgl. §§ 90 Abs. 1, 81 Abs. 1 VwGO).
Der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Februar 2021 ist formell rechtmäßig. Nach der zum Zeitpunkt der Entscheidung maßgeblichen Rechtslage ist der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft nicht fristgebunden. Im Übrigen ist davon auszugehen, dass der Bescheid, mit welchem dem Kläger am 20. Januar 2016 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, im Jahr 2016 unanfechtbar geworden ist und somit gemäß § 73 Abs. 7 Satz 1 a.F. die in § 7 Abs. 2a Satz 1 a.F. bestimmte Frist für die Entscheidung über einen Widerruf am 31. Dezember 2020 geendet hat. Am 30. Dezember 2020 wurde sodann ein Widerrufsverfahren eingeleitet und die Ausländerbehörde wurde mit Schreiben vom selben Tage darüber informiert. Die persönliche Anhörung am 5. Februar 2020 ist ordnungsgemäß erfolgt. Soweit sich aus der Niederschrift lediglich die Nummer des Sprachmittlers ergibt, führt dies nicht zur formellen Rechtswidrigkeit. Die Beklagte gibt in den Niederschriften regelmäßig die Nummer des Dolmetschers an und nennt bei berechtigtem Interesse unter Berücksichtigung des Datenschutzes - wie auch hier - den Namen des Dolmetschers. Der Kläger hat in der Anhörung angegeben, den Dolmetscher gut verstehen zu können und, dass es keine Verständigungsschwierigkeiten gegeben habe, sodass eine Verletzung rechtlichen Gehörs nicht ersichtlich ist.
Der Widerruf der Flüchtlingseigenschaft ist auch materiell rechtmäßig. Gemäß § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Anerkennung als Asylberechtigter oder die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen beim Kläger nicht mehr vor, weil nachträglich Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 4 AsylG i. V. m. § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingetreten sind. Gemäß § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 der Vorschrift ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Gemäß § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG kann von der Anwendung des Absatzes 1 der Vorschrift abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuchs ist.
Zusätzlich zu der Verurteilung muss von dem Ausländer im Zeitpunkt der Entscheidung eine konkrete, ernsthaft drohende Gefahr für die Allgemeinheit ausgehen, die eine Wiederholung der schwerwiegenden Straftaten nahelegt, derentwillen der Ausländer verurteilt worden ist (BVerwG, Urt. v. 05.05.1998 - 1 C 17-97 -, NVwZ 1999, 425; Koch, in: Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: Juli 2020, § 60 AufenthG, Rn. 54). Die Gefahr ist im Rahmen einer Prognose zu beurteilen und muss Rechtsgüter gefährden, die dem Flüchtlingsschutz des Ausländers vorgehen und höhere als dieser zu gewichten sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.01.1989 - 1 C 46/86 -, juris; Koch, in: Kluth/ Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: Juli 2020, § 60 AufenthG, Rn. 54). Im Rahmen der Bewertung müssen zu Gunsten des Ausländers sprechende Umstände, wie eine Strafaussetzung auf Bewährung oder eine positive Sozialisation nach Vollzug einer Freiheitsstrafe, Berücksichtigung finden (BVerwG, Urt. v. 16.11.2000 - 9 C 6/00 -, juris).
Ausgehend von den dargelegten Maßstäben hat der Kläger keinen Anspruch auf Aufhebung des Widerrufsbescheids und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Hierbei ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich.
Das Gericht geht nicht von einer Vorlagepflicht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV aus. Gegen die Entscheidung des erkennenden Gerichts ist die Berufung zum Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht statthaft. Zudem bestehen entgegen der Auffassung des Klägers keine Bedenken hinsichtlich der Europarechtskonformität des § 73 Abs. 5 AsylG. In der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/4327, S. 40f.) heißt es zu dem neugefassten § 73 Abs. 5 AsylG:
"§ 73 Absatz 5 AsylG-E setzt Artikel 14 Absatz 3 Buchstabe a, Absätze 4 bis 6 und Artikel 19 Absatz 2 und Absatz 3 Buchstabe a der Richtlinie 2011/95/EU um. Die Regelung entspricht, obwohl sie als "Ist"-Vorschrift gefasst ist, der "Kann"-Regelungen der Artikel 14 Absatz 4 und Artikel 19 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU, nach denen unionsrechtlich ein Ermessen hinsichtlich der Aberkennung des Schutzstatus besteht. Artikel 14 Absatz 4 Buchstabe b der Richtlinie 2011/95/EU wird jedoch durch § 3 Absatz 4 zweite Alternative AsylG in Verbindung mit § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG umgesetzt. § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG ist eine "Kann"-Regelung; § 3 Absatz 4 zweite Alternative AsylG, der auf § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG verweist, jedoch nicht. Sofern im Rahmen der Prüfung von § 60 Absatz 8 Satz 3 AufenthG ein Ermessen dahingehend ausgeübt wird, dass von einem Verbot der Abschiebung abgesehen wird, weil der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, liegt laut § 3 Absatz 4 zweite Alternative AsylG ein Ausschlussgrund vor. Demnach ist die An- bzw. Zuerkennung in diesen Fällen zu widerrufen oder zurückzunehmen. Das gleich gilt für die "Kann"-Regelung in Artikel 19 Absatz 2 der Richtlinie 2011/95/EU."
Die Qualifikations-Richtlinie (2011/95/EU) kennt einen Ausschlussgrund der schweren Straftat im Aufnahmeland. Nach der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 20/4327, S. 40f.) wurde mit § 73 Abs. 5 AsylG Art. 14 Abs. 3 a), Absätze 4 bis 6 und Artikel 19 Absatz 2 und Absatz 3 a) der Qualifikations-Richtlinie umgesetzt. Art. 14 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU lautet:
"Die Mitgliedstaaten können einem Flüchtling die ihm von einer Regierungs- oder Verwaltungsbehörde, einem Gericht oder einer gerichtsähnlichen Behörde zuerkannte Rechtsstellung aberkennen, diese beenden oder ihre Verlängerung ablehnen, wenn
a) es stichhaltige Gründe für die Annahme gibt, dass er eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält;
b) er eine Gefahr für die Allgemeinheit dieses Mitgliedstaats darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde."
Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 und 3 AufenthG liegen hier vor. Denn gemäß § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entfällt der Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, wenn der Ausländer aus schwerwiegenden Gründen als eine Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland anzusehen ist oder eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen eines Verbrechens oder besonders schweren Vergehens rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren verurteilt worden ist. Das Gleiche gilt, wenn der Ausländer die Voraussetzungen des § 3 Abs. 2 des AsylG erfüllt. Von der Anwendung des Absatzes 1 kann abgesehen werden, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit bedeutet, weil er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die sexuelle Selbstbestimmung, das Eigentum oder wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden ist, sofern die Straftat mit Gewalt, unter Anwendung von Drohung mit Gefahr für Leib oder Leben oder mit List begangen worden ist oder eine Straftat nach § 177 des Strafgesetzbuches ist. § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG entspricht dabei Art. 14 Abs. 4 a) der Qualifikationsrichtlinie, indem als Gründe für die Annahme, dass der Ausländer eine Gefahr für die Sicherheit des Mitgliedstaates darstellt, in dem er sich aufhält, eine rechtskräftige Verurteilung wegen eines Verbrechens oder eines besonders schweren Vergehens zu einer Freiheitsstrafe von mehr als 3 Jahren nennt. Mit § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG hat der Gesetzgeber den Art. 14 Abs. 4 b) der Qualifikationsrichtlinie umgesetzt, wonach die Anerkennung als Flüchtling aberkannt werden kann, wenn der Ausländer eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaates darstellt, weil er wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden ist.
Der Kläger ist mit Urteil vom Landgericht Q. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden. Neben der rechtskräftigen Verurteilung wegen eines Verbrechens zu einer Freiheitsstrafe von mindestens drei Jahren (§ 60 Abs. 8 Satz Satz 3 AufenthG) wurde der Kläger auch wegen eines besonders schweren Straftat (§ 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG, Art. 14 Abs. 4 b) der Qualifikationsrichtlinie) verurteilt. Er wurde gemäß § 177 Abs. 1 StGB wegen sexueller Nötigung verurteilt. Zudem handelt es sich bei der abgeurteilten Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB um eine Straftat gegen die körperliche Unversehrtheit, die mit Gewalt begangen worden ist. Der Begriff der "Gewalt" kann teleologisch alle Vorgänge erfassen, bei denen illegitimer Zwang physisch oder psychisch ausgeübt wurde (Dollinger, in: Bergmann/Dienelt - Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 60 AufenthG, Rn. 62).
Der Kläger stellt in dem maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts weiterhin eine Gefahr für die Allgemeinheit dar. Ist ein Flüchtling rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe im Sinne von § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG verurteilt worden, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zu prüfen, ob die Verurteilung die Annahme rechtfertigt, dass er tatsächlich eine Gefahr für die Allgemeinheit im Sinne der Vorschrift darstellt. Erforderlich ist insoweit, dass eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten ernsthaft droht. Zu den in die Prognoseentscheidung einzubeziehenden Umständen gehören insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung und das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts ebenso wie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt (vgl. EuGH, Urt. v. 06.07.2023 - C - 8/22 -, juris; BVerwG, Urt. v. 31.01.2013 - 10 C 17/12 -, juris Rn. 11).
Nach diesen Maßgaben ist von einer weiterhin bestehenden Wiederholungsgefahr auszugehen. Auch wenn es sich um die erste Haftstrafe des Klägers handelte, bringen die Höhe der Strafe und der Umstand, dass sie nicht zur Bewährung ausgesetzt wurde, die Gefährlichkeit des Klägers zum Ausdruck und rechtfertigen die Einschätzung des Bundesamts, dass eine positive Prognose nicht in Betracht komme. Die Tat vom W.. Juni 2019 ist dadurch geprägt, dass der Kläger die sexuellen Handlungen an dem Opfer mit mehrfacher Anwendung physischer Gewalt (er hat sie ins Gebüsch gezerrt, sie zu Boden gestoßen, sich auf sie gelegt und dadurch am Boden festgehalten, er hat ihre Hände fixiert und ihren Mund zugehalten) und gegen den erkennbaren Willen der sich wehrenden und um Hilfe rufenden Opfers vorgenommen hat (vgl. Strafurteil vom 18.05.2020, S. 31). Dass das Opfer zur Tatzeit erst 13 Jahre alt und somit noch ein Kind war, hat der Kläger aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes erkannt und billigend in Kauf genommen. Zudem ist zu berücksichtigen, dass der Kläger eine Vergewaltigung beabsichtigte. Er hatte das ihm unbekannte Mädchen bereits zu Boden geworfen, lag auf ihr und der Griff in ihren Intimbereich diente unmittelbar seiner sexuellen Befriedigung sowie der Vorbereitung des Eindringens (vgl. Strafurteil vom 18.05.2020, S. 31).
Das Landgericht Q. hat zugunsten des Klägers berücksichtigt, dass der Übergriff nur eine kurze Zeit dauerte, von vergleichsweise geringer Intensität war und die körperlichen Verletzungen gering waren. Gravierendere sexuelle Handlungen konnten nur durch das Eingreifen eines Zeugen, der den Kläger von dem Opfer herunterzog, verhindert werden. Zudem leidet das Opfer seit der Tat an psychischen Beeinträchtigungen (Angst vor Fremden, Angst draußen), die für den Kläger bei der Tatbegehung auch vorhersehbar war. Das Opfer war überdurchschnittlich stark traumatisiert und hat eine Psychotherapie begonnen (vgl. Strafurteil vom 18.05.2020, S. 33). Dies ist dem Kläger ebenso zuzurechnen, wie die Tatsache, dass er sich die Vorverurteilungen nicht hat als Warnung dienen lassen. Der Kläger ist bereits zuvor mit zwei ähnlich gelagerten Taten strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er wurde wegen Beleidigung zu zwei Geldstrafen verurteilt, nachdem er zwei fremden Frauen angesprochen und Ihnen gegenüber seinen Wunsch geäußert hatte, mit ihnen Geschlechtsverkehr zu haben. Zusammengenommen zeigen die Straftaten, dass der Kläger die Rechte von Frauen nicht respektiert. Im Gegenteil hat er sein Verhalten gesteigert und mit der Tat am W.. Juni 2019 sogar durch sexualbezogene Handlungen die körperliche Integrität verletzt. Die Taten weisen eine schnelle Rückfallgeschwindigkeit auf. Bei Sexualstraftätern ist grundsätzlich von einer Rückfallwahrscheinlichkeit von ca. 20 % auszugehen (vgl. Polizei und Justiz gehen gemeinsam konsequent gegen rückfallgefährdete Sexualstraftäter in NRW vor.; abgerufen am: 24.08.2023; MoneDiss121206.pdf (uni-tuebingen.de).; abgerufen am: 24.08.2023; Bay. VGH, Urt. v. 14.01.2010 - M 4 K 09.50134 -, BeckRS 2010, 149091).
Vor dem Hintergrund der betroffenen besonders hohen Schutzgüter der körperlichen Unversehrtheit (von Kindern) sowie der sexuellen Selbstbestimmung, kann eine positive Prognose nicht gestellt werden.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht vor dem Hintergrund der psychischen Beeinträchtigungen des Klägers. Der Kläger leidet unter einer kombinierten Persönlichkeitsstörung (ICD-10: F 61) mit schizoiden und dissozialen Anteilen, die sich unter anderem in unverkennbaren Simulationstendenzen (ICD-10: F 68.1) äußert. Darunter ist das absichtliche Vortäuschen von Krankheitssymptomen zu verstehen. Seit April 2018 hat er sich mehrfach in verschiedenen psychiatrischen Krankenhäusern befunden, wobei die kurzzeitigen stationären Aufenthalte jeweils wegen disziplinarischer Verstöße, u. a. übergriffiges Verhalten, sowie seiner fehlenden Mitwirkungsbereitschaft beendet worden sind. Anhaltspunkte für die Störung der Sexualpräferenz ergaben sich nicht. Mangels einer durchgeführten Therapie ist davon auszugehen, dass keine Veränderung der grundlegenden Verhaltensdispositionen und der Persönlichkeitsstruktur stattgefunden hat. Empathie mit dem bzw. den Opfern ist bei dem Kläger nicht zu erkennen. Im Rahmen einer kognitiven Verhaltenstherapie wären neben dem Krankheitsbild des Klägers auch Elemente der Sexualität sowie das Frauenbild des Klägers zu thematisieren gewesen. Eine fachlich unterstützte Auseinandersetzung mit seinen Taten hat bisher nicht stattgefunden. Es ist daher davon auszugehen, dass der Kläger die Tat nicht aufgearbeitet hat. Bei dem Kläger mangelt es zudem an einer hinreichenden Einsicht. Im Rahmen der Berufungsverhandlung hat der Kläger die Tat bestritten, zum Teil widersprüchliche Aussagen gemacht und die Zeugen des Lügens bezichtigt (vgl. Strafurteil vom 18.05.2020, S. 13). In der mündlichen Verhandlung hat sich der Kläger dahingehend eingelassen, dass er nicht wisse, was er getan habe. Obwohl dies auf seine psychische Erkrankung zurückgeführt werden könnte, ergibt sich daraus, dass eine Auseinandersetzung mit der Tat nicht stattgefunden hat. Die Deutschkenntnisse des Klägers sind als gering einzuschätzen, was ihm eine Eingliederung in die Gesellschaft erschwert. An der schulischen Maßnahme "Deutsch- und Integrationskurs" in der JVA nahm der Kläger lediglich acht Tage lang teil. In der mündlichen Verhandlung hat der Bruder des Klägers angegeben, dass der Kläger auf der Warteliste für einen Deutschkurs stehe und eine Psychotherapie aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse des Klägers nicht möglich sei. Ohne eine Therapie kann weder an den psychologischen Beeinträchtigungen des Klägers gearbeitet werden noch eine Auseinandersetzung mit der Tat und seinem Verhalten gegenüber Frauen stattfinden, so dass dies zu seinen Ungunsten zu berücksichtigen ist.
Der Haftverlauf des Klägers gestaltete sich überwiegend beanstandungsfrei. Es kam lediglich zu einer Disziplinierung. Nachdem der Kläger einen Mithäftling bedroht hatte, wurde eine Freizeitsperre verhängt. Der Kläger ging seiner zugewiesenen Beschäftigung regelmäßig nach, an den schulischen Maßnahmen nahm er lediglich acht Tage lang teil. Während seines Aufenthalts in Niedersachsen nahm der Kläger die Termine zu Gesprächen mit seinem Bewährungshelfer regelmäßig wahr. Zugunsten des Klägers ist zu berücksichtigen, dass er derzeit regelmäßige Unterstützung seines Bruders erhält. Zu seinen weitergehenden familiären Beziehungen machte der Kläger unterschiedlichen Angaben. Er steht für die Bereiche Vermögenssachen, Wohnung, Post, Aufenthalt und Vertretung bei Behörden Angelegenheiten unter gesetzlicher Betreuung. Obwohl der Kläger in Syrien die Schule nach 12 Jahren mit einem dem Abitur entsprechenden Abschluss abgeschlossen und vier Jahre Ingenieurwesen studiert hat, ist es ihm in Deutschland nicht gelungen, die deutsche Sprache in dem erforderlichen Umfang zu erlernen und eine Beschäftigung auszuüben, nunmehr wurde er als dauerhaft erwerbsunfähig eingestuft.
Die Dauer der Führungsaufsicht wurde mit Beschluss des Landgerichts Q. vom 9. September 2022 auf fünf Jahre festgesetzt. Der Kläger wurde der Aufsicht eines Bewährungshelfers unterstellt. Zudem ist er verpflichtet sich regelmäßig persönlich bei seinem Bewährungshelfer sowie bei dem für seinen Wohnort zuständigen Polizeipräsidium zu melden und Änderungen seines Wohnsitzes und seiner etwaigen Arbeitsstelle mitzuteilen. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg gelangt nach Abwägung im Hinblick auf die neuerliche Begehung von Sexualstraftaten zu der Einstufung des Klägers in die Gefahrenkategorie 2 (hohes Gefahrenpotential).
Die Beklagte hat auch das ihr nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG eingeräumte Ermessen rechtsfehlerfrei ausgeübt (§ 114 Satz 1 VwGO). Das Bundesamt hat in dem angegriffenen Bescheid Ermessenserwägungen angestellt und dabei sowohl das Individualinteresse des Klägers als auch das zu berücksichtigende Interesse der Allgemeinheit am Ausschluss als schutzunwürdig erkannter straffälliger Ausländer mit Flüchtlingseigenschaft berücksichtigt. Die Entscheidung, dem öffentlichen Interesse den Vorrang einzuräumen und den Widerruf der Flüchtlingseigenschaft auszusprechen, ist rechtlich unter Berücksichtigung von Art und Schwere der begangenen Straftat sowie der verletzten Rechtsgüter und der fortbestehenden Wiederholungsgefahr rechtlich nicht zu beanstanden.
Die Ablehnung der Zuerkennung des subsidiären Schutzes ist rechtmäßig erfolgt. Ein entsprechender Anspruch steht dem Kläger nicht zu (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger ist gemäß § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG vom subsidiären Schutz ausgeschlossen. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer von der Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG ausgeschlossen, wenn schwerwiegende Gründe die Annahme rechtfertigen, dass er eine schwere Straftat begangen hat.
Der Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG geht zurück auf Art. 17 Abs. 1 Buchst. b Richtlinie 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie), die selbst keine Konkretisierung des Begriffs der schweren Straftat enthält. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Zusammenhang mit dem in § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG enthaltenen Begriff der schweren nichtpolitischen Straftat aus, dass es sich um ein Kapitalverbrechen oder eine sonstige Straftat handeln müsse, die in den meisten Rechtsordnungen als besonders schwerwiegend qualifiziert sei und entsprechend strafrechtlich verfolgt wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.2.2010 - 10 C 7/09 -, juris, Rn. 47).
Bei der Beurteilung, ob eine schwere Straftat vorliegt, ist eine vollständige Prüfung sämtlicher besonderer Umstände des jeweiligen Einzelfalls vorzunehmen (vgl. EuGH, Urt. v. 13.9.2018 - C-369/17 -, juris). Eine schwere Straftat kann insbesondere angenommen werden, wenn ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 AufenthG vorliegt (vgl. VG Berlin, Urt. v. 27.8.2021 - 20 K 515/17 A -, juris; VG Augsburg, Urt. v. 20.5.2020 - Au 4 K 20.30222 -, juris; VG Trier, Urt. v. 16.1.2020 - 10 K 1424/19.TR -, juris; VG München, Beschl. v. 2.9.2019 - M 22 S 19.32826 -, juris).
Die vom Kläger begangenen Straftaten weisen unter Würdigung der besonderen Umstände des konkreten Einzelfalls die für den Ausschlussgrund des § 4 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AsylG erforderliche Schwere auf. Der Kläger ist mit Urteil vom Landgericht Q. wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 3 Jahren und 4 Monaten verurteilt worden. Sexueller Missbrauch von Kindern wird auch in anderen Rechtsordnungen überwiegend als schwere Straftat angesehen. In Österreich ist die Strafbarkeit in §§ 206 ff. des österreichischen Strafgesetzbuches geregelt, in der Schweiz richtet sich die Strafbarkeit nach Art. 187 des schweizerischen Strafgesetzbuches. Zu seinen Lasten ist dabei der überfallartige Charakter zu berücksichtigen sowie die Tatsache, dass er tateinheitlich die Straftatbestände des sexuellen Missbrauchs von Kindern und der Körperverletzung verwirklicht hat. Das 13-jährige Opfer wurde durch die Tat psychisch überdurchschnittlich stark traumatisiert und hat das Sicherheitsgefühl in der Öffentlichkeit bei Begegnungen mit Fremden verloren. Dies war für den Kläger voraussehbar. Zu gravierenderen sexuellen Handlungen ist es letztlich nur durch das Eingreifen eines Zeugen nicht gekommen. Der Kläger ist bereits zuvor mit zwei ähnlich gelagerten Taten strafrechtlich in Erscheinung getreten. Er wurde wegen Beleidigung zu zwei Geldstrafen verurteilt, nachdem er zwei fremde Frauen angesprochen und Ihnen gegenüber seinen Wunsch geäußert hatte, mit ihnen Geschlechtsverkehr zu haben. Die Straftaten begründen gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a Buchst. b und c AufenthG auch ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse.
Die Feststellung eines Abschiebungsverbotes hinsichtlich Syrien trägt den Belangen des Klägers, auch vor dem Hintergrund seiner psychischen Beeinträchtigungen, ausreichend Rechnung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.