Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 02.01.2014, Az.: 2 B 889/13

Abschiebungsanordnung; Dublin-Verfahren; Wahrung der Familieneinheit; Familieneinheit; Interessenabwägung; Neugeborenes; allgemeine Überstellung; inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
02.01.2014
Aktenzeichen
2 B 889/13
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2014, 42501
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Wahrung der Familieneinheit ist die aufschiebende Wirkung der Klage des Vaters eines im Bundesgebiet Neugeborenen bis zur Gewährleistung einer gemeinsamen Überstellung der Familie in den zuständigen Mitgliedsstaat anzuordnen.

Gründe

Gemäß § 34a Abs. 1 AsylVfG in der hier anzuwendenden Fassung des Art. 1 Nr. 27 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) vom 28. August 2013 (BGBl. I Nr. 54 vom 5. September 2013, S. 3474), die nach Art. 7 Satz 2 dieses Gesetzes am Tag nach der Verkündung - somit dem 6. September 2013 - in Kraft getreten ist, ordnet das Bundesamt, sofern ein Ausländer in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, die Abschiebung in diesen Staat an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Dies gilt auch, wenn der Ausländer den Asylantrag in einem anderen auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Union oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat gestellt oder vor der Entscheidung des Bundesamtes zurückgenommen hat. Einer vorherigen Androhung und Fristsetzung bedarf es nicht. Nach Absatz 2 der geänderten Fassung des § 34a AsylVfG sind Anträge nach § 80 Absatz 5 der Verwaltungsgerichtsordnung gegen die Abschiebungsanordnung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. Die Abschiebung ist bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung nicht zulässig.

Das Bundesamt hat vorliegend mit Bescheid vom 16. Oktober 2013, der dem Antragsteller ausweislich der zur Akte des Bundesamtes befindlichen Postzustellungsurkunde am 18. Oktober 2013 zugestellt wurde, entschieden, dass der von dem Antragsteller in Deutschland am 28. Januar 2013 gestellte (weitere) Asylantrag unzulässig ist (Ziffer 1.); zugleich hat das Bundesamt die Abschiebung des Antragstellers nach Polen angeordnet (Ziffer 2.). Hiergegen wendet sich der Antragsteller mit seiner in der Hauptsache - 2 A 888/13 - anhängigen Klage, die am 24. Oktober 2013 beim erkennenden Gericht eingegangen ist. Zeitgleich - damit fristgerecht - hat er um Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage nachgesucht. Die Klage ist somit innerhalb der 2-wöchigen Frist des § 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylVfG erhoben worden; ob eine Verkürzung der Klagefrist auf eine Woche gem. § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG seit Inkrafttreten der Änderung des § 34a Abs. 2 AsylVfG mit Wirkung vom 6. September 2013 erfolgt ist, kann die erkennende Kammer im vorliegenden Verfahren offen lassen. Das Bundesamt gibt seinen Außenstellen für die Rechtsbehelfsbelehrung ersichtlich eine zweiwöchige Klagefrist vor (vgl. Rundschreiben des Bundesamtes an alle Innenministerien der Bundesländer vom 17. Juli 2013 - 430-93604-01/13-05 - zur Änderung der Verfahrenspraxis des Bundesamtes im Rahmen des Dublinverfahrens im Hinblick auf § 34a AsylVfG n.F.); die Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides verhält sich dementsprechend. Wäre dagegen eine einwöchige Klagefrist zugrunde zu legen, was nach dem Wortlaut des § 74 Abs. 1 Halbs. 2 AsylVfG jedenfalls nicht von vorn herein auszuschließen ist, wäre diese vorliegend auch gewahrt worden.

Das erkennende Gericht folgt der bislang zu § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, dass die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage nicht erst bei ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes erfolgen darf, wie dies in den Fällen der Ablehnung eines Asylantrages als unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG vom Gesetzgeber vorgegeben ist. Das VG Trier hat hierzu in seinem Beschluss vom 18. September 2013 - 5 L 1234/13.TR -, zit. nach juris, eingehend dargelegt, dass eine derartige Einschränkung der gerichtlichen Entscheidungsbefugnis in Anlehnung an § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG gerade nicht dem Willen des Gesetzgebers entsprach; eine entsprechende Initiative zur Ergänzung des § 34a Abs. 2 AsylVfG n.F. fand im Bundesrat keine Mehrheit (a.a.O., Rn. 7 ff.). Dementsprechend ist vorliegend eine reine Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse des Antragstellers vorzunehmen, die sich maßgeblich - aber nicht ausschließlich - an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache orientiert, soweit diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zugunsten des Antragstellers aus, denn die Abschiebungsanordnung des Bundesamtes begegnet rechtlichen Bedenken, weil bei dieser Entscheidung die Niederkunft der noch minderjährigen Ehefrau des Antragstellers, Frau D. E., nicht zureichend in den Blick genommen wurde.

Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsanordnung gem. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG hängt unter anderem davon ab, ob die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden Gründen rechtlich oder tatsächlich möglich ist. Eine Abschiebungsanordnung darf erst ergehen, sobald feststeht, dass die Abschiebung bzw. Überstellung durchgeführt werden kann. Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht - 13. Senat - hat hierzu in seinem Beschluss vom 2. Mai 2012 - 13 MC 22/12 -, InfAuslR 2012 S. 298 ff., zit. nach juris Rn. 27, Folgendes ausgeführt:

„Bei Fällen, in denen der Asylbewerber in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) abgeschoben werden soll, hat das Bundesamt vor Erlass einer Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG auch zu prüfen, ob Abschiebungshindernisse bzw. -verbote oder Duldungsgründe vorliegen. Anders als bei der Entscheidung über Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3, 5 und 7 AufenthG im Zusammenhang mit dem Erlass einer Abschiebungsandrohung (vgl. dazu BVerwG, Urteile vom 25. November 1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383, und vom 11. November 1997 - 9 C 13.96 - BVerwGE 105, 322) ist es nicht auf die Prüfung von sogenannten "zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernissen" beschränkt. § 34a AsylVfG bestimmt ausdrücklich, dass das Bundesamt die Abschiebung anordnet „sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann“. Die Abschiebungsanordnung darf als Festsetzung eines Zwangsmittels erst dann ergehen, wenn alle Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Abschiebung nach § 26a oder § 27a AsylVfG i.V.m. § 34a AsylVfG erfüllt sind. Das bedeutet, dass das Bundesamt vor Erlass der Abschiebungsanordnung gegebenenfalls sowohl "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse" als auch der Abschiebung entgegenstehende "inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse" zu berücksichtigen hat. Es ist in diesem Zusammenhang unter anderem verpflichtet zu prüfen, ob die Abschiebung in den Dritt- bzw. Mitgliedstaat aus subjektiven, in der Person des Ausländers liegenden und damit vom System der normativen Vergewisserung nicht erfassten Gründen - wenn auch nur vorübergehend - rechtlich oder tatsächlich unmöglich ist (vgl. OVG NRW, Beschl. v. 30. August 2011 - 18 B 1060/11-, Juris; VGH BW, Beschl. v. 31. Mai 2011 - A 11 S 1523/11 -, InfAuslR 2011, 310; Hamb. OVG, Beschl. v. 3. Dezember 2010 - 4 Bs 223/10 -, Juris; OVG MV, Beschl. v. 29. November 2004 - 2 M 299/04 -; Funke-Kaiser in GK-AsylVfG, a.a.O., § 34a, Rdnr. 15; Hailbronner, AuslR, § 34a AsylVfG, Rdnrn. 15 f., 43 ff., Loseblatt, Stand August 2006; jew. m.w.N.).“

Dieser Rechtsprechung hat sich die erkennende Kammer angeschlossen (vgl. Beschlüsse vom 6. November 2013 - 2 B 848/13 -, zit. nach juris Rn. 6; und vom 7. November 2013 - 2 B 783/13 -, zit. nach juris Rn. 8). Das Nds. OVG hat in dem vorstehend zitierten Beschluss ausgehend von einer Empfehlung des von der zuständigen Ausländerbehörde eingeschalteten Gesundheitsamtes, wonach die Geburt des Kindes abgewartet und anschließend ein erneuter Überstellungsversuch unternommen werden solle (a.a.O., Rn. 28), ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis für die anstehende Überstellung einer Asylbewerberin angenommen, die von einer Risikoschwangerschaft betroffen war.

Im Ansatz vergleichbar gelagert ist der vorliegend zu entscheidende Sachverhalt. In der Antragsschrift vom 24. Oktober 2013 hat der Antragsteller das Bundesamt darauf hingewiesen, dass seine noch minderjährige Ehefrau, die bisher im Familienverband ihrer Eltern gelebt hat und offenbar über diesen asylverfahrensrechtlich behandelt wurde, wieder schwanger sei und deswegen ein Abschiebungshindernis bestehe. Ergänzend hat er mit Schriftsatz vom 7. November 2013 die Unzumutbarkeit seiner Überstellung nach Polen wegen der damit verbundenen Verletzung des Grundsatzes der Familieneinheit eingewandt. Hierauf ist das Bundesamt im bisherigen Verfahren nicht eingegangen. Mittlerweile hat die Ehefrau des Antragstellers nach den Ermittlungen der Kammer am 26. November 2013 in Bad Herzberg einen Jungen - F. B. - entbunden. Der ausländer- und asylverfahrensrechtliche Status des Neugeborenen ist bislang nicht geklärt. Die zuständige Ausländerbehörde - Landkreis Osterode am Harz - hat dem Bundesamt bislang keine Geburtsanzeige gem. § 14a Abs. 2 AsylVfG übermittelt. Ebenso ist der Kammer bisher nicht bekannt, ob auch die Ehefrau des Antragstellers Asylbewerberin ist und für sie Polen als zuständiger Mitgliedsstaat nach der sog. Dublin-II-Verordnung bestimmt wurde.

Deshalb werden das Bundesamt und die zuständige Ausländerbehörde zunächst den ausländerrechtlichen bzw. asylverfahrensrechtlichen Status des Neugeborenen und seiner Mutter zu klären haben, ehe eine Überstellung dieser Mitglieder der Kernfamilie zusammen mit dem Antragsteller nach Polen erfolgen kann. Gegebenenfalls wird das Bundesamt eine Überstellung des Antragstellers und des Neugeborenen zusammen mit dem Familienverband der noch minderjährigen Mutter organisieren müssen. Das Bundesamt wird hierzu unter anderem die wohl beabsichtigte Anzeige der Ausländerbehörde gem. § 14a Abs. 2 AsylVfG zu bearbeiten und daran anschließend den polnischen Stellen aufgrund Art. 4 Abs. 3 Satz 2 der vorliegend noch anzuwendenden Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl. EU L 50 vom 25. Februar 2003, S. 1) - sog. Dublin-II-Verordnung -, geändert durch VO (EG) 1103/2008 vom 22. Oktober 2008 (ABl. EU L 304 vom 14. November 2008, S. 80), die Geburt des Neugeborenen zu melden haben (vgl. dazu Filzwieser/Sprung, Dublin II-Verordnung, 3. Aufl., K 9 zu Art. 4), um eine gemeinsame Überstellung des Antragstellers nach Polen zusammen mit dem Neugeborenen und seiner Mutter (ggf. zusammen mit deren Familie) zur Wahrung der Familieneinheit zu ermöglichen. Der Grundsatz der Familieneinheit ist ein tragendes Prinzip der Zuständigkeitsbestimmung nach der Dublin-II-Verordnung, vgl. Art. 6 bis 8, 14 und 15 Abs. 1 und 2 EGV 343/2003, der ggf. eine Selbsteintrittspflicht der Antragsgegnerin zur Folge haben kann (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 4. Juli 2012 - 2 LB 163/10 -, InfAuslR 2012 S. 383 ff., zit. nach juris Rn. 42). Die Trennung des Neugeborenen von seinem Vater ist unzumutbar; die Überstellung des Antragstellers nach Polen somit rechtlich unmöglich i.S.d. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (vgl. VG München, Beschluss vom 26. März 2013 - M 1 S 13.30170 -, zit. nach juris Rn. 17; VG Aachen, Beschluss vom 15. April 2013 - 2 L 145/13.A -, zit. nach juris Rn. 17).

Da derzeit nicht absehbar ist, innerhalb welchen Zeitraumes die vorstehend beschriebenen Schritte umgesetzt werden, sieht die Kammer von einer befristeten Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.  

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gem. § 83b AsylVfG nicht erhoben.