Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 16.08.2005, Az.: L 4 KR 197/05 ER
Schäden durch die Unterbrechung der kontinuierlich gebotenen Behandlung als Anordnungsgrund im einstweiligen Rechtsschutzverfahren; Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen; Inanspruchnahme von nicht vertragsgebundenen Zahnärzten in Notfällen; Verzicht auf die Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung im Rahmen eines abgestimmten Verhaltens; Erfüllung der Verbindlichkeit des Versicherten durch die Krankenkasse aus dem mit dem Zahnarzt geschlossenen Dienstvertrag; Schuldübernahme zum Schutz der Versicherten; Anspruch auf vorläufige Freistellung von Kosten für eine "privatärztliche" Behandlung
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 16.08.2005
- Aktenzeichen
- L 4 KR 197/05 ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 19645
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2005:0816.L4KR197.05ER.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Lüneburg - 03.06.2005 - AZ: S 16 KR 93/05 ER
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs. 1 SGB V
- § 76 Abs. 1 S. 1 SGB V
- § 72 Abs. 1 S. 2 SGB V
- § 95b Abs. 1 SGB V
Fundstelle
- MedR 2005, 675-678 (Volltext mit red. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Versicherte können im Rahmen des § 95b SGB V einen ausgeschiedenen Vertragszahnarzt weiterhin als Behandler wählen und die Übernahme der ihren Eigenanteil gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 SGB Vübersteigenden Kosten durch die Krankenkasse beanspruchen.
Tenor:
Der Beschluss des Sozialgerichts Lüneburg vom 3. Juni 2005 in der Fassung des Beschlusses vom 13. Juli 2005 wird aufgehoben. Die Antragsgegnerin wird vorläufig bis zum Ende des Hauptsacheverfahrens verpflichtet, den Antragsteller im Wege der Sachleistung mit einer kieferorthopädischen Behandlung bei Frau Dr. E., nach Maßgabe des am 6. Januar 2004 genehmigten kieferorthopädischen Behandlungsplanes vom 22. Dezember 2003 auf der Grundlage des § 95b Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch, (SGB V) in Verbindung mit § 29 SGB V zu versorgen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers aus beiden Rechtszügen.
Gründe
I.
Streitig ist die Fortsetzung einer kieferorthopädischen Behandlung durch eine Fachzahnärztin für Kieferorthopädie, die auf ihre Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung in einem mit anderen Kieferorthopäden abgestimmten Verfahren verzichtet hat.
Der im August 1993 geborene Antragsteller (im Folgenden: Ast) stellte sich im Jahre 2001 bei der Kieferorthopädin Dr. F. vor, die eine kieferorthopädische Behandlung zwar für erforderlich hielt, aber meinte, der Ast sei zu diesem Zeitpunkt noch für zu jung für die Behandlung. Zwar fand im August 2003 noch ein Beratungstermin bei Frau Dr. F. statt, zu einer Behandlung des Ast kam es jedoch nicht, weil Frau Dr. F. ihre Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung zurückgab.
Der Ast stellte sich sodann im Oktober 2003 der Fachärztin für Kieferorthopädie Dr. G. vor. Sie stellte mit Datum vom 22. Dezember 2003 einen Behandlungsplan auf, den die Antragsgegnerin (im Folgenden: Ag) am 6. Januar 2004 genehmigte. Die Behandlung war auf 12 Quartale angesetzt und sollte 3.597,27 EUR kosten. Im März 2004 erfolgte ein Beratungstermin, und am 8. Juni 2004 wurde bei dem Ast eine Multiband-Apparatur im Ober- und Unterkiefer von Frau Dr. G. eingesetzt.
Zum 1. Oktober 2004 verzichtete Frau Dr. G. auf ihre Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung. Sie machte ausdrücklich deutlich, dass sie in Abstimmung mit den Fachärzten für Kieferorthopädie handele, für die das Niedersächsische Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit als zuständige Aufsichtsbehörde mit Bescheid vom 3. Juni 2004 festgestellt habe, dass es sich bei deren Verzicht auf die Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung um ein abgestimmtes Verhalten gehandelt habe.
Im Oktober 2004 wandte sich die Mutter des Ast an die Ag und teilte mit, dass auch Frau Dr. G. zwischenzeitlich auf ihre Zulassung verzichtet habe. Sie - die Mutter des Ag - habe sich vergeblich bemüht, einen Vertragsbehandler für den Ast zu bekommen. Die Ag teilte mit Schreiben vom 2. November 2004 mit, der Ast möge sich weiter um einen Vertragsbehandler bemühen. Falls dies nicht gelinge, bitte sie um erneute Nachricht.
Mit "Widerspruch" vom 31. März 2005 machten die Prozessbevollmächtigten des Ast geltend, ein anderer Vertragsbehandler sei zur Behandlung des Ast nicht bereit. Da der Ast dringend behandelt werden müsse, sei die Ag verpflichtet, die Weiterbehandlung des Ast durch Frau Dr. G. zu ermöglichen.
Seinen Antrag auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes vom 9. Mai 2005 hat der Ast damit begründet, dass seine kieferorthopädische Behandlung dringend fortgesetzt werden müsse. Er beanspruche die Behandlung durch Frau Dr. G., weil diese die Behandlung bereits begonnen habe und trotz ihres Zulassungsverzichts nach den dafür vorgesehenen gesetzlichen Bestimmungen berechtigt sei, zu Lasten der Ag zu behandeln. Eine Entscheidung sei auch deshalb notwendig, weil Frau Dr. G. im Sommer 2005 eine so genannte Herbstschiene einsetzen müsse. Der Ag beantragte, von den Kosten für die privatärztliche Behandlung durch Frau Dr. G. nach dem Behandlungsplan vom 22. Dezember 2003 freigestellt zu werden.
Das Sozialgericht (SG) Lüneburg hat den Antrag durch Beschluss vom 3. Juni 2005 abgelehnt, weil es an einem Anordnungsgrund fehle. Der Ast habe das vorgesehene Wahlrecht für eine Kostenerstattung nicht ausgeübt. Die Ag habe darüber hinaus die Behandlung durch Frau Dr. G. nicht zu Unrecht abgelehnt. Denn diese sei nach Rückgabe ihrer Zulassung nicht mehr berechtigt, Behandlungen zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung durchzuführen. Auch ein unaufschiebbarer Notfall habe nicht vorgelegen. Der Ast habe nach Rückgabe der Zulassung durch Frau Dr. G. ausreichend Zeit gehabt, sich einen zugelassenen Behandler zu suchen. Die angebotene Behandlung durch Herrn Dr. H. habe er nicht wahrgenommen.
Gegen diesen seinen Bevollmächtigten am 7. Juni 2005 zugestellten Beschluss hat der Ast am 7. Juli 2005 Beschwerde eingelegt. Er macht geltend, dass der Beschluss des SG Lüneburg bereits deshalb fehlerhaft sei, weil in diesem Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund verwechselt worden seien. Eine Verweisung auf eine Behandlung durch Herrn Dr. H. scheide aus. Denn dieser habe eine Behandlung mit der Begründung abgelehnt, dass er eine anderweitig bereits begonnene Behandlung nicht fortsetzen wolle. Der Ast sei bereit gewesen, sich auch vormittags in Behandlung zu begeben. Die Voraussetzungen für den Erlass einer einstweiligen Anordnung lägen vor. Insbesondere seien er - der Ast - und seine Eltern finanziell nicht in der Lage, die Behandlung vorzufinanzieren.
Der Ast hat mit Schriftsatz vom 12. Juli 2005 den Hilfsantrag gestellt festzustellen, dass die Ag die Kosten der Behandlung durch Frau Dr. G. auf der Basis des genehmigten Behandlungsplanes nach der Bestimmung des § 95b Abs. 3 SGB V zu übernehmen habe.
Das SG Lüneburg hat mit seinem Ergänzungsbeschluss vom 13. Juli 2005 den Hilfsantrag aus den Gründen des Beschlusses vom 3. Juni 2005 zurückgewiesen und der Beschwerde im Übrigen mit gleichem Datum nicht abgeholfen. Den Eltern des Ast sei die vorläufige Übernahme der Behandlungskosten zumutbar, weil wegen der langen Behandlungsdauer jeweils nur Teilbeträge fällig würden.
Das SG hat den Vorgang dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen zur Entscheidung vorgelegt.
II.
Die gemäß § 172 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde ist bezogen auf den Hilfsantrag begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.
Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt einen Anordnungsanspruch und einen Anordnungsgrund voraus (vgl. Meyer-Ladewig, SGG, 7. Aufl. 2002, § 86b Rdnr. 27, 29). Ein materieller Anspruch ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur einer summarischen Überprüfung zu unterziehen; hierbei muss der Ast glaubhaft machen, dass ihm aus dem Rechtsverhältnis ein Recht zusteht, für das wesentliche Gefahren drohen. Der Anordnungsgrund setzt Eilbedürftigkeit voraus, das heißt, es müssen erhebliche belastende Auswirkungen des Verwaltungshandelns schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht werden (vgl. Meyer-Ladewig, a.a.O., Rdnr. 26, 29).
Ein Anordnungsgrund liegt vor.
Bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung gelangt der Senat zu dem Ergebnis, dass die Notwendigkeit für eine Eilentscheidung, das heißt also eine Entscheidung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens, geboten ist. Das folgt aus den Darlegungen der Frau Dr. G. in ihrer Eidesstattlichen Versicherung vom 26. Mai 2005, wonach bei dem Ast ein für sein Alter untypisch früher Zahnwechsel eingetreten sei. Da er erst relativ spät die Behandlung begonnen habe, sei nun Eile geboten. Es leuchtet ein, dass bei dieser Sachlage eine Unterbrechung der kontinuierlich gebotenen Behandlung zu irreparablen Schäden führen würde.
Damit ist ein Anordnungsgrund unabhängig davon gegeben, ob die Eltern des Ast finanziell in der Lage sind, die Behandlung vorzufinanzieren. Die Ag weigert sich, die Kosten der weiteren kieferorthopädischen Behandlung des Ast zu übernehmen, obwohl der 3. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen am 5. Januar 2005 entschieden hat, dass die Kassen verpflichtet sind, die Kosten für die Behandlung durch Kieferorthopäden zu tragen, die ihre Zulassung im Jahre 2004 im Rahmen eines abgestimmten Verhaltens zurückgegeben haben (vgl. Beschluss vom 5. Januar 2005, Az: L 3 KA 237/04 ER). Vor diesem Hintergrund kann den Eltern des Versicherten eine finanzielle Vorleistung nicht zugemutet werden.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung des Sachverhaltes hält der Senat auch einen Anordnungsanspruch im Sinne des Hilfsantrages für gegeben.
Nach § 29 Abs. 1 SGB V haben Versicherte Anspruch auf kieferorthopädische Versorgung in medizinisch begründeten Indikationsgruppen, bei denen eine Kiefer- oder Zahnfehlstellung vorliegt, die das Kauen, Beißen, Sprechen oder Atmen erheblich beeinträchtigt oder zu beeinträchtigen droht. § 29 Abs. 2 SGB V bestimmt, dass Versicherte zu der kieferorthopädischen Behandlung nach Abs. 1 einen Anteil in Höhe von 20 vom Hundert der Kosten an den Vertragszahnarzt leisten. Vom Vorliegen der Voraussetzungen nach § 29 Abs. 1 SGB V geht der Senat aus, denn die Ag hat den Behandlungsplan der Frau Dr. G. vom 23. Dezember 2003 mit Datum vom 6. Januar 2004 genehmigt.
Allerdings folgt aus § 76 Abs. 1 Satz 1, § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V, dass die Versicherten nur unter den zu der vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Zahnärzten, den ermächtigten Zahnärzten, den ermächtigten zahnärztlich geleiteten Einrichtungen, den Zahnkliniken der Krankenkassen, den Eigeneinrichtungen der Krankenkassen nach § 140 Abs. 2 Satz 2 SGB V, den nach § 72a Abs. 3 SGB V vertraglich zur ärztlichen Behandlung verpflichteten Zahnärzten, den zum ambulanten Operieren zugelassenen Krankenhäusern sowie den Einrichtungen nach § 75 Abs. 9 SGB V frei wählen können. Frau Dr. G. gehört nach ihrem zum 1. Oktober 2004 wirksam gewordenen Verzicht auf die Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung nicht mehr zu dem Kreis der Zahnärzte, unter denen Versicherte nach dieser Vorschrift frei wählen können.
Der Ast kann sich auch nicht auf die Vorschrift des § 76 Abs. 1 Satz 2, § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V berufen, wonach andere Zahnärzte in Notfällen in Anspruch genommen werden dürfen. Denn bei der vorgesehenen über einen Zeitraum von 12 Quartalen laufenden kieferorthopädischen Behandlung handelt es sich nicht um eine Notfallbehandlung im Sinne des § 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V.
Der Ast kann die Behandlung durch Frau Dr. G. jedoch nach § 29 Abs. 1 SGB V i.V.m. der Regelung in § 95b SGB V von der Ag beanspruchen.
In § 95b Abs. 1, § 72 Abs. 1 Satz 2 SGB V heißt es, dass es mit den Pflichten eines Vertragszahnarztes nicht vereinbar ist, in einem mit anderen Zahnärzten aufeinander abgestimmten Verfahren oder Verhalten auf die Zulassung als Vertragszahnarzt zu verzichten. Nimmt ein Versicherter einen Zahnarzt in Anspruch, der auf seine Zulassung nach Abs. 1 verzichtet hat, zahlt die Krankenkasse die Vergütung mit befreiender Wirkung an den Zahnarzt. Der Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse ist auf das 1,0-fache des Gebührensatzes der Gebührenordnung für Zahnärzte beschränkt. Ein Vergütungsanspruch des Zahnarztes gegen den Versicherten besteht nicht. Abweichende Vereinbarungen sind nichtig (§ 95b Abs. 3 Satz 1 bis 4 SGB V).
Frau Dr. G. ist dem Kreis der Fachärzte für Kieferorthopädie zuzurechnen, die ihre Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung im Rahmen eines abgestimmten Verhaltens im Sinne des § 95b Abs. 1 SGB V zurückgegeben haben. Der Inanspruchnahme der Frau Dr. G. durch den Ast steht der Bescheid des Niedersächsischen Ministeriums für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit vom 3. Juni 2004 nicht entgegen. Dieser Bescheid hat für die drei Planbereiche Landkreis Cuxhaven, Landkreis Hannover und Landkreis Hildesheim festgestellt, dass durch das abgestimmte Verhalten von mehr als 50 vom Hundert der Vertragszahnärzte, die kieferorthopädische Leistungen erbringen, die vertragszahnärztliche kieferorthopädische Versorgung ab dem 1. Juli 2004 nicht mehr sichergestellt ist. Zwar übt Frau Dr. G. ihre Praxis in einem Planungsbereich aus, der vom Bescheid des Niedersächsischen Ministerium für Soziales, Frauen, Familie und Gesundheit vom 3. Juni 2004 nicht erfasst wird. Denn weder der Wortlaut noch der Regelungszusammenhang des § 95b SGB V setzen den vorherigen Erlass eines Bescheides nach § 72a Abs. 1 SGB V voraus (wie hier: Lindemann in Wannagat, SGB , Stand 2005, § 95b Anm. 2a; Heinze, Die neue Krankenversicherung, Stand Juni 1994, § 95b Anm. 5). Soweit ein derartiger Bescheid für erforderlich gehalten wird, um den Kreis der betroffenen Ärzte eindeutig abgrenzen zu können (vgl. Hess in Kasseler Kommentar, Stand Dezember 2000, § 95b Rdnr. 5), hält der Senat das Vorhandensein eines derartigen Bescheides nach § 72a Abs. 1 SGB V jedenfalls dann für entbehrlich, wenn -wie hier- die betroffene Zahnärztin ausdrücklich ihre Zugehörigkeit zum Kreis der Zahnärzte erklärt hat, die ihre Zulassung im Verlaufe des Jahres 2004 in Niedersachsen im Rahmen eines abgestimmten Verhaltens zurückgegeben haben.
Der erkennende Senat teilt die Auffassung des 3. Senates des LSG Niedersachsen-Bremen, wonach Versicherte im Rahmen des § 95b SGB V einen ausgeschiedenen Vertragszahnarzt - nunmehr im Rahmen ihrer privatautonomen Entscheidung - weiterhin als Behandler wählen und die Übernahme der ihren Eigenanteil gemäß § 29 Abs. 2 Satz 1 SGB Vübersteigenden Kosten durch die Krankenkasse beanspruchen können (vgl. Beschluss LSG Niedersachsen-Bremen vom 5. Januar 2005, L 3 KA 237/04 ER, Umdruck Seite 11). Der 3. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen hat dies damit begründet, dass die Zahnärzte, die ihre Zulassung zur vertragszahnärztlichen Behandlung im Rahmen eines abgestimmten Verhaltens zurückgegeben haben, gegenüber den gesetzlichen Krankenkassen in einem Rechtsverhältnis sui generis verharrten (vgl. a.a.O.). Die bisherige vertragszahnärztliche Behandlung werde zwar Privatbehandlung, was sich schon aus der Anwendbarkeit der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) und auch daraus ergebe, dass die Honorare nicht mehr aus der Gesamtvergütung zu entrichten seien. Schuldner der - gegenüber der privatzahnärztlichen Behandlung deutlich reduzierten - Vergütung sei jedoch nicht der gesetzlich krankenversicherte Patient, sondern die Krankenkasse. Sie erfülle ihre Leistungspflicht dem Versicherten gegenüber im Verhältnis zum Zahnarzt durch die Zahlung gemäß § 95b Abs. 3 Satz 1 SGB V (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen a.a.O.). Dies gelte naturgemäß nur, soweit den Versicherten dem Grunde nach ein entsprechender Leistungsanspruch gegenüber der Krankenkasse zustehe, so dass etwa kieferorthopädische Maßnahmen, die nicht gemäß § 29 SGB V genehmigungsfähig seien, weiterhin vom Versicherten privat vereinbart und selbst bezahlt werden müssten.
Dem stehe nicht entgegen, dass § 95b Abs. 3 SGB V nach verbreiteter Auffassung im Schrifttum für systemwidrig und unpraktikabel gehalten werde (Hinweis auf Klückmann in Hauck-Haines, Kommentar zum SGB V Band 2, Stand Juli 2005, Rdnr. 23 m.w.N.), etwa auch im Hinblick darauf, dass nicht ausgeschlossen werden könne, dass die verminderte privatzahnärztliche Vergütung im Einzelfall immer noch höher sein könne als die vertragszahnärztliche Vergütung (Klückmann a.a.O., Rd.Nr. 30; Peters in Hencke, Handbuch der Krankenversicherung, Stand Januar 2004, § 95b SGB V, S 95 f.). Denn der Inhalt der Vorschrift sei sowohl nach ihrem Wortlaut als auch nach den gesetzgeberischen Materialien eindeutig. So werde in der amtlichen Begründung zu § 95b Abs. 3 SGB V (BT-Drucks. 12/3608, S. 95 f.) ausdrücklich ausgeführt, dass der kollektiv-ausgeschiedene Vertragszahnarzt im Interesse der Versicherten "dem Vertragsarztsystem kraft Gesetzes zumindest insofern verhaftet" bleibe "als er die Behandlung eines Versicherten nur mit dem Einfachsatz nach der jeweils einschlägigen Gebührenordnung vergütet erhält und ihm auch nur ein Vergütungsanspruch gegen die Krankenkasse eingeräumt wird" (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, a.a.O., Umdruck Seite 12).
Der erkennende Senat hält die Auffassung des 3. Senat des LSG Niedersachsen-Bremen zum Vertragszahnarztrecht für überzeugend und schließt sich ihr auch für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung an. Die amtliche Begründung betont ausdrücklich, dass § 95b Abs. 3 SGB V den Schutz der Versicherten bewirken soll. Zum einen soll trotz des kollektiven Zulassungsverzichts der Sachleistungsanspruch der gesetzlich Krankenversicherten umfassend gewährleistet bleiben. Zum anderen soll mit der detailliert ausgestalteten Vergütungsregelung in § 95b Abs. 3 SGB V eine unangemessene Inanspruchnahme der Versicherten verhindert werden (vgl. BT-Drucks. 12/3608 S. 95).
Der gegenteiligen Auffassung des SG Hannover im Urteil vom 8. Juni 2005 (Az: S 35 KA 56/05) vermag sich der erkennende Senat demgegenüber nicht anzuschließen. Das SG Hannover hat seine Entscheidung damit begründet, dass § 95b Abs. 3 Satz 1 SGB V keine Regelung über ein Leistungsbestimmungsrecht des Versicherten sei. Vielmehr regele die Norm lediglich die Erfüllung der Verbindlichkeit des Versicherten durch die Krankenkasse aus dem mit dem Zahnarzt geschlossenen Dienstvertrag (§ 611 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch). Es handele sich dabei um einen Fall der gesetzlich geregelten Schuldübernahme zum Schutz der Versicherten und nicht um eine Erweiterung des Wahlrechts des Versicherten über § 76 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB V hinaus (vgl. SG Hannover, a.a.O., Umdruck Seite 10). Die Auffassung des 3. Senates des LSG Niedersachsen- Bremen laufe auf eine Privilegierung der Versicherten hinaus, die Behandler in Anspruch nähmen, die kollektiv ihre Zulassung zurückgegeben hätten, gegenüber den Versicherten, die sonstige Nichtvertragsbehandler aufsuchten. Eine solche Privilegierung beabsichtige § 95b SGB V aber nicht.
Dieser Rechtsauffassung vermag der erkennende Senat nicht beizupflichten. Denn mit der Regelung in § 95b Abs. 3 SGB V sollen die Versicherten vor den Folgen eines kollektiven Zulassungsverzichts geschützt werden, der die Sicherstellung der vertragszahnärztlichen Versorgung im Wege des Sachleistungsprinzips gefährdet. Würde § 95b Abs. 3 SGB V im Sinne des SG auf den Fall einer gesetzlichen Schuldübernahme beschränkt, ginge die Vorschrift ins Leere, weil Zahnärzte, die ihre Zulassung im Rahmen eines kollektiv abgestimmten Verhaltens zurückgegeben haben, überhaupt nicht mehr in Anspruch genommen werden könnten.
Die Prozessbevollmächtigten des Ast haben in ihrem Schriftsatz vom 1. August 2005 glaubhaft erklärt, dass zwischen dem Ast und Frau Dr. G. keine Sondervereinbarungen geschlossen wurden, sondern die bereits begonnene vertragszahnärztliche Behandlung auf der Grundlage des genehmigten Behandlungsplanes fortgesetzt wird.
Bei der gebotenen summarischen Prüfung ist der Hilfsantrag des Ast somit begründet. Er hat gemäß dem Grundgedanken des § 95b Abs. 3 i.V.m. § 29 Abs. 2 Satz 1 SGB V Anspruch gegen die Ag auf weitere Vorsorgung mit kieferorthopädischer Behandlung durch Frau Dr. G ...
Der Hauptantrag des Ast ist dagegen unbegründet. Der Ast hat keinen Anspruch auf vorläufige Freistellung von den Kosten für eine "privatärztliche" Behandlung durch Frau Dr. G ... Denn die Ag hat dem Ast die Versorgung durch Frau Dr. G. als Sachleistung zu gewähren. Privatärztliche Kosten, die von der Ag zu tragen wären, fallen nicht an.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Der Senat hat eine volle Erstattung der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Ast durch die Ag in beiden Rechtszügen für geboten gehalten. Zwar ist der Ast mit seinem Hauptantrag auf Freistellung von den Kosten für eine "privatärztliche" Behandlung durch Frau Dr. G. nicht durchgedrungen. Ersichtlich kam es dem Ast indessen darauf an, die bei Frau Dr. G. bereits begonnene Behandlung fortzusetzen. Das ist durch die Entscheidung des Senates vorläufig ermöglicht worden. Da die Ag sich insgesamt gegen das Begehren des Ast gestellt hat, ist es gerechtfertigt, ihr die volle Kostenerstattung aufzuerlegen.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 177 SGG).
Poppinga
Goos