Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 17.01.2007, Az.: 2 B 5180/06

Anordnung; Beschränkung; Bestimmtheit; Hund; Inhalt; Leinenzwang; Ordnungsverfügung; Ort; Ortschaft

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
17.01.2007
Aktenzeichen
2 B 5180/06
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2007, 71963
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur fehlenden inhaltlich hinreichenden Bestimmtheit der örtlichen Beschränkung des Leinenzwangs auf die "geschlossene Ortschaft".

Gründe

1

1. Der gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) zu beurteilende Antrag des Antragstellers ist zulässig.

2

Eine Anfechtungsklage hat gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO zwar grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO, wenn die Behörde - wie hier der Antragsgegner hinsichtlich der unter Nr. 1 bis 3 verfügten Anordnungen - die sofortige Vollziehung einer Verfügung im öffentlichen Interesse angeordnet hat (s. Anordnung Nr. 4) oder es sich um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung - hier die Androhung eines Zwangsgeldes als Erstabschnitt des Zwangsmittelverfahrens - nach den §§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO, 64 Abs. 4 Niedersächsisches Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (Nds. SOG) handelt. Auf Antrag kann das Gericht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs ganz oder teilweise wiederherstellen bzw. anordnen.

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Der Antrag des Antragstellers ist auch begründet.

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In materieller Hinsicht ist für den Erfolg eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO entscheidend, ob das Interesse des Antragstellers an der Aussetzung der Vollziehung eines belastenden Verwaltungsaktes das Interesse der Allgemeinheit an der sofortigen Durchsetzung überwiegt. Bei dieser Interessenabwägung sind mit der im vorläufigen Verfahren gebotenen Zurückhaltung auch die Aussichten des Begehrens im Hauptsacheverfahren zu berücksichtigen. Bei einem offensichtlich Erfolg versprechenden Rechtsbehelf überwiegt das Suspensivinteresse des Betroffenen jedes denkbare öffentliche Vollzugsinteresse. Der Antrag ist dagegen in aller Regel unbegründet, wenn der Antragsteller im Verfahren zur Hauptsache offensichtlich keinen Erfolg haben wird, insbesondere wenn die angegriffene Verfügung offensichtlich rechtmäßig ist. Bei der sofortigen Vollziehung eines offenbar zu Unrecht angefochtenen Verwaltungsaktes besteht nämlich regelmäßig ein besonderes öffentliches Interesse. Bei einem nur offenen Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist dem öffentlichen Interesse der Vorrang einzuräumen, soweit nach der gesetzgeberischen Wertung ein Rechtsbehelf keine aufschiebende Wirkung hat (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 12. Mai 2005 - 11 ME 92/05 -, NdsVBl. 2005, 231 = NVwZ-RR 2005, 631 LS).

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Ausgehend von diesem Maßstab überwiegt das Interesse des Antragstellers das öffentliche Interesse. Dies beruht auf folgenden Erwägungen:

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Gemäß § 13 Abs. 1 des Niedersächsischen Gesetzes über das Halten von Hunden vom 12. Dezember 2002 (Nds. GVBl. 2003, S. 2) - geändert durch Gesetz vom 30. Oktober 2003 (Nds. GVBl. S. 367) - (NHundG) kann die Behörde unbeschadet der Vorschriften des NHundG nach Maßgabe des Nds. SOG - in diesem Sinne ist die Vorschrift inzwischen zu verstehen - die im Einzelfall notwendigen Maßnahmen treffen, um eine von einem Hund ausgehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit abzuwehren.

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Derartige Maßnahmen müssen aber gemäß § 1 Abs. 1 Niedersächsisches Verwaltungsverfahrensgesetz (NVwVfG) i.V.m. § 37 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Diesem Erfordernis ist genügt, wenn der Wille der Behörde für die Beteiligten des Verfahrens, in dem der Verwaltungsakt erlassen wird, unzweideutig erkennbar geworden und keiner unterschiedlichen subjektiven Bewertung zugänglich ist. Welche Anforderungen insoweit zu stellen sind, hängt vom jeweiligen Regelungsgehalt des Verwaltungsakts und dem mit ihm verfolgten Zweck ab (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1993 - 8 C 57/91 -, NJW 1993, 1667 <1668>).

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Diese Voraussetzung erfüllt die Anordnung unter Nr. 1 nicht, so dass sie rechtswidrig ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt. Danach wurde dem Antragsteller aufgegeben, seine Hündin „A.“ ab sofort innerhalb geschlossener Ortschaften nur noch an einer festen, höchstens zwei Meter langen Leine zu führen. Der angegriffene Bescheid enthält allerdings keine Erläuterung des Begriffs „geschlossene Ortschaft". Wenn auch für den Antragsteller klar erkennbar ist, dass einerseits beispielsweise das städtische Zentrum von B. zu einer geschlossenen Ortschaft gehört und andererseits die freie unbebaute Landschaft nicht zur geschlossenen Ortschaft zählt, ist der Begriff „geschlossene Ortschaft" in vielen Fällen nicht geeignet, dem Antragsteller sicher und klar erkennen zu lassen, ob er seinen Hund nun anleinen muss oder frei laufen lassen kann. Ein Irrtum über die Bewertung kann für den Antragsteller laut angegriffenem Bescheid aber die unangenehme Folge haben, mit einem Zwangsgeld überzogen zu werden. Gerade an der Peripherie einer Stadt ist es im Einzelfall höchst zweifelhaft, ob man sich noch innerhalb oder bereits außerhalb der geschlossenen Ortschaft befindet. Je spärlicher die Bebauung wird, desto schwieriger wird die Festlegung der Grenze der geschlossenen Ortschaft. Zwar ist, wie dem Wortlaut des § 37 Abs. 1 VwVfG zu entnehmen ist, dem Betroffenen abzuverlangen, dass er in Zweifelsfällen den Willen der den Verwaltungsakt erlassenen Behörde durch Auslegung ermittelt (vgl. OVG Münster, Urteil vom 26. Januar 1987 - 7 A 605/85 -, NVwZ 1988, 658 [OVG Rheinland-Pfalz 15.03.1988 - 7 A 44/87]). Hiervon ausgehend könnte sich auf den ersten Blick die Möglichkeit anbieten, auf den Begriff der „geschlossenen Ortschaft" i.S.v. § 42 Abs. 3 Straßenverkehrsordnung (StVO) abzustellen. Die der Bevölkerung jedenfalls in der Regel bekannten Ortstafeln (Zeichen 310 und 311) geben an, wo die geschlossene Ortschaft im Sinne des Straßenverkehrsrechts beginnt bzw. endet. Ergänzend dazu heißt es in den Verwaltungsvorschriften „Zu den Zeichen 310 und 311 Ortstafel“, sie seien ohne Rücksicht auf Gemeindegrenze und Straßenbaulast in der Regel dort anzubringen, wo ungeachtet einzelner unbebauter Grundstücke die geschlossene Bebauung auf einer der beiden Seiten der Straße beginne oder ende (Rn. 1), und die Ortstafel dürfe auch auf unbedeutenden Straßen nicht fehlen. Nur an nicht befestigten Feldwegen brauche sie nicht aufgestellt zu werden (Rn. 4). Diese Regelungen zeigen indes, dass eine zutreffende Auslegung des Begriffs in Zweifelsfällen auch dann alles andere als leicht ist, wenn man sich an dem Begriff i.S.v. § 42 Abs. 3 StVO orientiert. Dies gilt für die Bereiche, in denen unbefestigte Feldwege aus einem Ort herausführen, an denen eine Ortstafel in der Praxis entsprechend der Verwaltungsvorschrift nicht aufgestellt werden dürfte, und wo die geschlossene Bebauung endet, eine Straße aber nicht vorhanden ist. Denn es ist selbstverständlich möglich, dass sich ein Hundeführer mit seinem Hund am Ortsrand über das freie Feld vom Ort entfernt (vgl. ebenso zum Begriff „innerhalb der geschlossenen Ortslage": OVG Münster, a.a.O., und tendenziell auch Nds. OVG, Urteil vom 27. Januar 2005 - 11 KN 38/04 -, einsehbar in der Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG mit Veröffentlichungshinweis auf NordÖR 2005, 179 = NdsVBl 2005, 130 = NdsRpfl 2005, 167; zum Begriff „„innerhalb von Wohngebieten“ zweifelnd: VGH München, Beschluss vom 25. November 2005 - 24 CS 05.2714 -, juris <35>; a.A.: OVG Koblenz, Urteil vom 21. September 2006 - 7 C 10539/06 -, juris <Rn.17 f.>, zu dem in einer Gefahrenabwehrverordnung benutzten Begriff „innerhalb bebauter Ortslagen“, und VGH München, Urteil vom 15. März 2005 - 24 BV 04.2755 -, juris <28 ff.>, zum Begriff „innerhalb der im Zusammenhang bebauten Ortsteile“ - allerdings ohne Begründung).

9

Die Kammer weist ergänzend darauf hin, dass ihr der Sinn der örtlichen Beschränkung des Leinenzwanges auf die „geschlossene Ortschaft" trotz der Verwendung des Hundes im Rahmen der Jagd zweifelhaft erscheint, wenn für den Bereich außerhalb geschlossener Ortschaften nicht gleichzeitig jedenfalls grundsätzlich eine andere schützende Maßnahme angeordnet wird. Wenn es sich bei dem Hund des Antragstellers nämlich um einen Hund handelt, der am 26. Dezember 2005 eine Katze tot biss, und darüber hinaus der Inhalt des Vermerks der Polizeiinspektion C. vom 5. Januar 2006 zutreffend sein sollte, dass der Hund „stets anderen Tieren nachsetze“, besteht jedenfalls eine konkrete Gefahr für andere Tiere nicht nur innerhalb der geschlossenen Ortschaft - was auch immer darunter zu verstehen ist -, sondern auch außerhalb der geschlossenen Ortschaft in Zeiten, in denen der Hund nicht im Rahmen der Jagd eingesetzt wird (vgl. OVG Münster, a.a.O. <659>; VGH München, Urteil vom 15. März 2005, a.a.O., <43 ff.>).

10

Die Anordnungen unter Nr. 2 und 3 sind ermessensfehlerhaft und damit ebenfalls rechtswidrig, weil die Anordnung unter Nr. 1 aus den oben genannten Gründen rechtswidrig ist. Denn ohne die Anordnung unter Nr. 1 fehlt ein für den Erlass der Anordnungen zu Nr. 2 und 3 im Rahmen der Ermessensausübung zu beachtender wesentlicher Gesichtspunkt. Im Übrigen geht die Kammer davon aus, dass der Antragsgegner die zuletzt genannten Anordnungen ohne diejenige unter Nr. 1 auch nicht (isoliert) erlassen hätte.

11

Schließlich ist die Zwangsgeldandrohung (Anordnung Nr. 5) rechtlich zu beanstanden, wenn die Anordnungen zu Nr. 1 bis 3 rechtswidrig sind. Dies bedarf wegen des insoweit bestehenden Abhängigkeitsverhältnisses keiner weiteren Begründung.