Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 14.01.2019, Az.: 8 B 183/18

flüchtig; untergetaucht; Überstellungsfrist

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
14.01.2019
Aktenzeichen
8 B 183/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69616
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein Schutzsuchender ist bei jeder Form eines nicht nur kurzzeitigen unbekannten Aufenthalts, mit der er sich unentschuldigt seiner Abschiebung entzieht, „flüchtig" im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.

Gründe

I.

Die Antragstellerin begehrt die Abänderung des Beschlusses des Gerichts vom 19. April 2018, mit dem ihr Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen eine Abschiebungsanordnung abgelehnt wurde.

Sie ist irakische Staatsangehörige, reiste im Januar 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Mit Bescheid vom 20. Februar 2018 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) ihren Asylantrag als unzulässig ab, stellte fest das Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen, ordnete ihre Abschiebung nach Polen an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung.

Hiergegen erhob die Antragstellerin am 28. Februar 2018 Klage (Az. 8 A 100/18) und beantragte sinngemäß, die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen (Az. 8 B 54/18).

Das Gericht lehnte den Antrag der Antragstellerin auf vorläufigen Rechtsschutz mit Beschluss vom 19. April 2018 ab, weil ihre Klage insoweit offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bot.

Die Landeshauptstadt A-Stadt wies der Antragstellerin ab dem 3. Juli 2018 die Unterkunft in der A-Straße in A-Stadt zu.

Mit Beschluss vom 26. Juli 2018 lehnte das Gericht einen Antrag der Antragstellerin auf Abänderung des Beschlusses vom 19. April 2018, den sie mit dem Vorliegen einer psychischen Erkrankung begründete, ab (Az. 8 B 107/18).

Am 22. August 2018 informierte die Ausländerbehörde die Antragstellerin, dass die „Abschiebungsandrohung“ seit dem 19. April 2018 vollziehbar sei und bat sie spätestens bis zum 3. September 2018 zur Klärung ihrer ausländerrechtlichen Angelegenheiten vorzusprechen.

Dem Bundesamt teilte die Ausländerbehörde mit Schreiben vom 28. September 2018 mit, dass die für den 5. September 2018 geplante Überstellung der Antragstellerin gescheitert sei und sie die ihr zugewiesene Unterkunft mit unbekannten Aufenthalt verlassen habe. Sie sei daher am 6. September 2018 von der Unterkunft abgemeldet worden.

Mit Schreiben vom gleichen Tage erklärte das Bundesamt gegenüber dem Gericht, dass die achtzehnmonatige Überstellungsfrist gelte, weil die Antragstellerin flüchtig im Sinne des § 29 Abs. 2 Dublin-III-VO sei, und diese am 19. Oktober 2019 ende. Die Meldung an den Mitgliedstaat sei innerhalb der originären Überstellungsfrist erfolgt.

Am 24. Oktober 2018 stellte die Antragstellerin einen erneuten Antrag, den Beschluss des Gerichts vom 19. April 2018 abzuändern und die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen. Zur Begründung führt sie aus, dass die Überstellungsfrist am 23. Oktober 2018 abgelaufen sei. Mit weiteren Schriftsätzen erklärt sie zudem, nicht untergetaucht gewesen zu sein, sondern seit dem 3. Juli 2018 in der ihr zugewiesenen Unterkunft wohnhaft gewesen zu sein und sich lediglich am 5. September 2018 bei ihrem Bruder - unter der gleichen Anschrift wie ihre eigene - aufgehalten zu haben, wo sie auch übernachtet habe. Sie habe auch nichts davon gewusst, dass an diesem Tag ihre Überstellung habe erfolgen sollen.

II.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. Satz 1 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung von Beschlüssen über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Das Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO dient dabei nicht der Überprüfung, ob die vorangegangene Entscheidung formell und materiell richtig ist, es eröffnet dem Gericht der Hauptsache vielmehr den Raum für eine eigene Abwägungsentscheidung dahingehend, ob nach der jetzigen Sach- und Rechtslage die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage geboten ist, was sich in erster Linie nach den Erfolgsaussichten im Hauptsachverfahren richtet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 12.7.2016 - 4 VR 13.16 -, juris Rn. 6 f.). Der Abänderungsantrag hat Erfolg, wenn die vorgetragenen Umstände geeignet sind, eine Abänderung der Entscheidung herbeizuführen (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 08.08.2018 - 7 MS 54/18 -, juris Rn. 5 m.w.N.).

Diese Voraussetzungen liegen hier nicht vor. Denn die Antragstellerin hat weder veränderte noch im ursprünglichen Verfahren unverschuldet nicht geltend gemachte Umstände vorgetragen, die Anlass zu einer Abänderung des Beschlusses vom 9. April 2018 und Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage geben würden. Zwar führt sie insoweit an, dass zwischenzeitlich die Überstellungsfrist verstrichen sei. Dies ist jedoch nach summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht zutreffend.

Gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedsstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO) ist der zuständige Mitgliedstaat - hier Polen - nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat - hier die Beklagte - über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird.Diese Frist kann allerdings höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist (Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO). Beide Verlängerungsoptionen setzen nach Art. 9 Abs. 2 DurchführungsVO (EG) Nr. 1560/2003 voraus, dass der Mitgliedstaat, der die Fristverlängerung für sich in Anspruch nehmen will, den ersuchten Mitgliedstaat davon vor Ablauf der regulären Frist von sechs Monaten unterrichtet (BVerwG, Urt. v. 27.4.2016 - 1 C 24.15 -, juris Rn. 16; vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 23.3.2018 - 1 LA 7/18 -, juris Rn. 11; Nds. OVG, Beschl. v. 6.2.2013 - 13 LA 77/12 -, juris Rn. 8). Die Frist beginnt nach Art. 29 Abs. 1 UA 1 Dublin III-VO mit der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 Dublin III-VO aufschiebende Wirkung hat.

Die Überstellungsfrist begann vorliegend mit der Entscheidung des Gerichts über den auf vorläufigen Rechtsschutz gerichteten Antrag der Antragstellerin am 19. April 2018. Entgegen der Auffassung der Klägerin lief die Frist nicht im Oktober 2018 ab. Denn die Antragsgegnerin hat die Überstellungsfrist im September 2018 gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO in rechtlich nicht zu beanstandender Weise auf 18 Monate verlängert (vgl. Bl. 156 VV), weil die Klägerin flüchtig im Sinne der Vorschrift war.

Ein Schutzsuchender ist bereits dann „flüchtig“ im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG, wenn er sich seiner sonst möglichen Überstellung durch sein nicht nur kurzzeitiges Nichtdasein entzieht. Dies ist objektiv festzustellen und kann bereits dann der Fall sein, wenn er sich zur Zeit des Überstellungsversuchs an einem unbekannten Ort außerhalb des letzten, der zuständigen Behörde bekannten Aufenthaltsorts aufhält (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 14.9.2018 - 1 LA 40/18 -, juris Rn. 6). Erforderlich ist nicht, dass er seine Wohnung (dauerhaft) verlässt, den Ort wechselt bzw. untertaucht und sich dadurch dem Zugriff der Behörden entzieht. Die Formulierung in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO „flüchtig ist“ knüpft nämlich an die (nicht mögliche) Überstellung an. In einem solchen Fall des unbekannten Aufenthalts der zu überstellenden Person hat nicht der Mitgliedstaat, sondern der Betroffene die Unmöglichkeit der Überstellung innerhalb der sechsmonatigen Überstellungsfrist zu vertreten (vgl. VG Ansbach, Beschl. v. 26.9.2017 - AN 14 E 17.51000 -, juris, und Beschl. v. 29.8.2017 - AN 14 E 17.50998 -, juris; VG Regensburg, Urt. v. 20.2.2015 - RN 3 K 14.50264 -, juris; VG Magdeburg, Beschl. v. 11.12.2014 - 1 B 1196/14 -, juris), so dass ein Übergang der Zuständigkeit auf den Mitgliedsstaat unter Berücksichtigung des Sinn und Zwecks des Art. 29 Dublin III-VO nicht sachgerecht wäre (vgl. VG Magdeburg, Urt. v. 12.11.2018 - 8 A 122/18 -, juris Rn. 15; VG Gießen, Beschl. v. 17.9.2018 - 4 L 9383/17.GI.A -, juris Rn. 7, 17). Der Schutzsuchende ist daher schon bei jeder Form eines nicht nur kurzzeitigen unbekannten Aufenthalts, mit dem er sich unentschuldigt seiner Abschiebung entzieht, „flüchtig" im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO. Auch kann etwa das wiederholte Sich-Entfernen von der Unterkunft genügen (vgl. VG Bayreuth, Urt. v. 23.10.2017 – B 3 K 17.50068 –, juris; VG Ansbach, Beschl. v. 26.9.2017 – AN 14 E 17.51000 –, juris). Auf ein zu missbilligendes Verhalten des zu Überstellenden kommt es dabei nicht an (vgl. OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 14.9.2018, a.a.O., Rn. 10). Würde zusätzlich erforderlich sein, dass sich der Betroffene planvoll und bewusst einer Überstellung entzogen hat, würde dies zu erheblichen Ermittlungs- und Beweisschwierigkeiten führen und das Funktionieren des Dublin-Systems beeinträchtigen können (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschl. v. 15.3.2017, Beschl. v. 15.3.2017 - A 11 S 2151/16 -, juris Rn. 20; Generalanwalt beim EuGH, Schlussantrag v. 25.7.2018 - C-163/17 -, juris Rn. 61, 68; vgl. auch OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 23.3.2018 - 1 LA 7/18 -, juris Rn. 17). Im Falle einer nicht nur kurzeitigen Abwesenheit in der Nähe zu einem Überstellungstermin darf die Behörde regelmäßig davon ausgehen, dass er „flüchtig“ ist (OVG Schleswig-Holstein, Beschl. v. 23.3.2018, a.a.O, Rn. 17). Wird ein Betroffener anlässlich eines Überstellungsversuchs zu einer Zeit nicht in seiner Unterkunft angetroffen, zu der nach allgemeiner Lebenserfahrung damit zu rechnen ist, dass er sich in seiner Unterkunft aufhält, ist dies ein starkes Indiz dafür, dass er flüchtig ist. In einem solchen Fall hat er im Rahmen seiner Mitwirkungspflicht gemäß § 15 AsylG plausibel darzulegen, dass er nicht flüchtig war, indem er konkret angibt, wann er sich wo zu welchem Zweck aufgehalten hat, und seine Angaben ggf. unter Beweis zu stellen (vgl. Funke-Kaiser, in: GK-AsylG, Band 2, Stand: April 2017, § 29 Rn. 251; VG Ansbach, Urt. v. 1.8.2018 - AN 14 K 17.50567 -, juris Rn. 29; VG Minden, Beschl. v. 16.3.2018 - 10 L 258/18.A -, juris Rn. 21).

Bei Anlegung dieses Maßstabs ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin bei dem Überstellungsversuch am 5. September 2018 flüchtig war. Nach der Mitteilung der Ausländerbehörde an das Bundesamt vom 28. September 2018 ist die Antragstellerin am 5. September 2018 nicht angetroffen worden und unbekannt verzogen, weshalb sie am 6. September abgemeldet wurde.

Zwar trägt die Antragstellerin zur Begründung ihres Antrags insoweit sinngemäß vor, dass sie nur an dem Tag der geplanten Abschiebung bei ihrem Bruder übernachtet habe und im Anschluss wieder in ihrer Wohnung gewesen sei. Das Gericht erachtet ihre Angaben jedoch nicht als glaubhaft. Objektive Umstände, die ihr Vorbringen stützen würden sind nicht ersichtlich. Soweit ihr Bruder ihre Angaben schriftlich bestätigt hat, misst das Gericht seinen Ausführungen keinen relevanten Beweiswert bei. Diese sind unsubstantiiert und so auch nicht schlüssig. Zudem besteht bei ihrem Bruder aufgrund des nahen Verwandtschaftsverhältnisses ein eigenes Interesse an für sie günstigen Angaben.

Darüber hinaus hat die Ausländerbehörde auf Nachfrage des Gerichts am 8. Januar 2019 mitgeteilt, dass die Antragstellerin bereits vor dem 5. September 2018 längere Zeit nicht mehr in der Unterkunft gesehen worden sei und ihre Familienmitglieder am 5. September 2018 erklärt hätten, sie würde nicht mehr in die Unterkunft zurückkehren. Sowohl die für die Verwaltung der Unterkünfte zuständige Stelle als auch die zuständige Sozialbetreuerin hätten am 8. Januar 2019 noch einmal bestätigt, dass die Antragstellerin nach dem 5. September 2018 nicht mehr in der Unterkunft angetroffen worden sei. Ihr Aufenthalt sei vielmehr weiterhin unbekannt. Da das Gericht keine Anhaltspunkte dafür hat, dass diese Angaben unzutreffend sein könnten, zieht es aus den Ausführungen der Ausländerbehörde den Schluss, dass die Behauptung der Antragstellerin, lediglich eine Nacht abwesend gewesen zu sein, sowie die ihre Erklärung stützenden schriftlichen Ausführungen ihres Bruders unzutreffend sind.

Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel daran, dass die Antragstellerin zum Zeitpunkt des Überstellungsversuchs flüchtig im oben dargelegten Sinn des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO war. Nach den Gesamtumständen geht das Gericht davon aus, dass die Antragstellerin aufgrund des Schreibens der Ausländerbehörde vom 22. August 2018 zu ihrer Ausreiseverpflichtung und mit der Bitte um Vorsprache bis zum 3. September 2018 davon ausgegangen ist, dass nach dem 3. September 2018 eine Überstellung nach Polen durchgeführt werden soll und sie deshalb ihren bisherigen Aufenthaltsort verlassen hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.

Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylG unanfechtbar.