Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 02.07.2008, Az.: 1 A 223/06

Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 9 Abs. 1 GG bei einer Pflichtmitgliedschaft von Ärzten in der Ärztekammer Niedersachsen; Zulässigkeit der Gründung von Zwangsverbänden und der Inanspruchnahme als Mitglied unter der Maßgabe der Erfüllung öffentlicher Aufgaben und der Verhältnismäßigkeit der Errichtung; Eröffnung des Schutzbereichs des Art. 11 Abs. 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) bei Abwehransprüchen gegenüber öffentlich-rechtlichen Zwangsvereinigungen; Hinderung an der Gründung oder dem Beitritt zu anderen berufsständischen Vereinigungen durch den Zusammenschluss in der Kammer als Kriterium der Einstufung als Vereinigung i.S.d. Art. 11 EMRK

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
02.07.2008
Aktenzeichen
1 A 223/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2008, 19647
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2008:0702.1A223.06.0A

Fundstellen

  • GesR 2008, 480
  • MedR 2009, 54-56 (Volltext mit red. LS u. Anm.)

Amtlicher Leitsatz

Die Regelung zur Pflichtmitgliedschaft von Ärzten in der Ärztekammer Niedersachsen verstößt nicht gegen Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 9 ABs. 1 GG und Art. 11 EMRK.

Tatbestand

1

Aus dem Entscheidungstext

2

Der Kläger ist niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin und betreibt eine Praxis in I.. Mit Schreiben vom 01.03.2006 bat er um Entlassung aus der Zwangsmitgliedschaft in der Beklagten und führte zur Begründung und unter Hinweis auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) aus, eine solche Zwangsmitgliedschaft zum Zwecke der Berufsausübung sei mit Art. 11 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) nicht zu vereinbaren.

3

Durch Bescheid vom 11.05.2006 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, sie sei nicht befugt, den Kläger von seiner Pflichtmitgliedschaft gemäß § 2 des Kammergesetzes für Heilberufe zu befreien. Art. 11 EMRK ziele nicht auf die Mitgliedschaft in einem Selbstverwaltungsträger ab, die dem Kammermitglied demokratische Partizipationsmöglichkeiten eröffne. Die EMRK sei lediglich bei der Auslegung nationalen Rechts zu berücksichtigen, könne dieses jedoch nicht außer Kraft setzen.

4

Am 15.05.2006 hat der Kläger Klage erhoben. Er wiederholt seinen bisherigen Vortrag und führt ergänzend aus, zur Erledigung der Aufgaben der Beklagten bedürfe es einer Zwangsmitgliedschaft nicht.

5

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 11.05.2006 zu verpflichten, ihn aus der Mitgliedschaft zu entlassen.

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Sie verweist auf den angefochtenen Bescheid und macht ergänzend geltend, das Interesse der Allgemeinheit an der Pflichtmitgliedschaft in der Kammer, die in verschiedenen Aufgabenbereichen öffentliche Belange wahre, sei höher anzusehen als das Interesse eines Arztes, der Kammer nicht anzugehören.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den Verwaltungsvorgang der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig, denn der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagte, aus der Pflichtmitgliedschaft entlassen zu werden.

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Gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 S. 1 des Kammergesetzes für Heilberufe vom 08.12.2000 (Nds. GVBl. S. 301 - HKG -) besteht in Niedersachsen als Berufsvertretung der Ärztinnen und Ärzte die Ärztekammer Niedersachsen als Körperschaft des öffentlichen Rechts. Personen, die aufgrund einer Approbation oder Berufserlaubnis in Niedersachsen den Beruf einer Ärztin oder eines Arztes ausüben, sind gemäß § 2 Abs. 1 S. 1 HKG Mitglieder der Beklagten. Dies gilt lediglich dann nicht, wenn sie Mitglied der entsprechenden Kammer eines anderen Landes sind und ihren Beruf in Niedersachsen nur gelegentlich oder vorübergehend ausüben (§ 2 Abs. 1 S. 2 HKG). Der Kläger arbeitet als approbierter Arzt in Niedersachsen und ist daher Pflichtmitglied der Beklagten.

11

Die Pflichtmitgliedschaft des Klägers ist mit dem Grundgesetz (GG) vereinbar. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. z.B. Beschluss vom 07.12.2001 - 1 BvR 1806/98 -, NVwZ 2002, 335) berührt die Zwangsmitgliedschaft in einem öffentlich-rechtlichen Verband wie der Beklagten nicht den Schutzbereich des Art. 9 Abs. 1 GG im Sinne einer sog. negativen Vereinigungsfreiheit. Der Schutz der Vereinigungsfreiheit greift ein, wenn es um einen privatrechtlichen Zusammenschluss natürlicher oder juristischer Personen geht, der auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt. Das Element der Freiwilligkeit ist für den in Art. 9 Abs. 1 GG verwandten Vereinsbegriff konstituierend, so dass Vereinigungen, die - wie die Beklagte - ihre Entstehung und ihren Bestand nicht einer auf dem Grundrecht beruhenden Freiwilligkeit verdanken, von vornherein nicht dem Vereinsbegriff des Art. 9 Abs. 1 GG unterfallen (BVerfG, a.a.O.).

12

Die Zwangsmitgliedschaft verletzt den Kläger auch nicht in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 1 GG. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 07.12.2001, a.a.O. m.w.N.) stellt diese Vorschrift ein hinreichendes Instrument zur Abwehr unnötiger Pflichtverbände dar. Die Gründung von Zwangsverbänden und die Inanspruchnahme als Mitglied derartiger Zwangskorporationen sind danach nur zulässig, wenn diese öffentlichen Aufgaben dienen und ihre Errichtung, gemessen an diesen Aufgaben, verhältnismäßig ist. Dies ist im Hinblick auf die Beklagte der Fall.

13

Die Beklagte erfüllt nach § 9 Abs. 1 HKG Aufgaben, an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesse der Gemeinschaft besteht und die weder allein im Wege privater Initiative wirksam wahrgenommen werden können noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben zählen, die der Staat selbst durch seine Behörden wahrnehmen muss. Wenn der Staat solche Aufgaben einer eigens für diesen Zweck gebildeten Körperschaft des öffentlichen Rechts überträgt, handelt er grundsätzlich im Rahmen des ihm hier zustehenden weiten Ermessens (BVerfG, Beschluss vom 18.12.1974 - 1 BvR 430/65, 1 BvR 259/66 -, BVerfGE 38, 281). Die Beklagte hat nach § 9 Abs. 1 HKG im Einklang mit den Interessen der Allgemeinheit die gemeinsamen beruflichen Belange der Gesamtheit der Kammermitglieder zu wahren (Nr. 1), die Erfüllung der Berufspflichten der Kammermitglieder zu überwachen (Nr. 2), die Qualitätssicherung im Gesundheitswesen sowie die berufliche Fortbildung der Kammermitglieder zu fördern, deren Weiterbildung nach Maßgabe dieses Gesetzes zu regeln und Zusatzqualifikationen zu bescheinigen (Nr. 3), auf ein gedeihliches berufliches Verhältnis der Kammermitglieder untereinander hinzuwirken, Streitigkeiten zwischen Kammermitgliedern sowie ihnen und Dritten, die aus der Berufsausübung entstanden sind, zu schlichten und Schlichtungsstellen zur Prüfung von Behandlungsfehlern einzurichten (Nr. 4), Fürsorgeeinrichtungen für die Kammermitglieder und deren Familienangehörigen zu schaffen (Nr. 5), für Behörden und Gerichte Gutachten zu erstatten (Nr. 6), auf eine ausreichende ärztliche Versorgung der Bevölkerung hinzuwirken (Nr. 7) sowie den öffentlichen Gesundheitsdienst bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen (Nr. 8). Die meisten dieser Aufgaben sind öffentliche in dem Sinne, dass Anliegen des Gemeinwesens verfolgt werden (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.07.1998 - 1 C 32.97 -, BVerwGE 107, 169).

14

Die Organisation dieser öffentlichen Aufgaben in einer Selbstverwaltungskörperschaft mit Zwangsmitgliedschaft ist verhältnismäßig. Sie ist geeignet, weil mit ihrer Hilfe die in § 9 Abs. 1 HKG zum Ausdruck kommenden Zwecke erreicht werden können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 07.12.2001, a.a.O. m.w.N.). Sie ist auch erforderlich, denn das Ziel der staatlichen Maßnahme kann nicht durch ein anderes, gleich wirksames Mittel erreicht werden, mit dem das betreffende Grundrecht nicht oder weniger fühlbar eingeschränkt wird (vgl. BVerfG, a.a.O. m.w.N.). Insbesondere würde eine Vereinigung ohne Zwangsmitgliedschaft kein gleich geeignetes Mittel darstellen. Denn nur die Pflichtmitgliedschaft sichert eine von Zufälligkeiten der Mitgliedschaft und Pressionen freie, umfassende Ermittlung, Abwägung und Bündelung der maßgeblichen Interessen, die erst eine objektive und vertrauenswürdige Wahrnehmung des Gesamtinteresses ermöglicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.12.1962 - 1 BvR 541/57 -, BVerfGE 15, 235; BVerwG, Urteil vom 21.07.1998, a.a.O.). Schließlich verstößt die Pflichtzugehörigkeit zu der Beklagten auch nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Sie bedeutet als solche keine erhebliche, die Grenze des Zumutbaren überschreitende Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit ihrer Mitglieder. Diese genießen die Vorteile der Mitgliedschaft, die insbesondere darin liegen, dass die Kammer ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllt. Die Erfüllung der Aufgaben kommt den Kammermitgliedern zugute, deren Gesamtbelange die Kammer zu wahren und zu fördern hat. Nicht erforderlich ist insoweit, dass sich der Nutzen dieser Tätigkeit bei dem einzelnen Mitglied in einem unmittelbaren wirtschaftlichen Vorteil messbar niederschlägt (vgl. BVerwG, Urteil vom 21.07.1998, a.a.O.).

15

Entgegen der Auffassung des Klägers verstößt seine Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten auch nicht gegen Art. 11 Abs. 1 EMRK, der das Recht der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gewährleistet und nach dem alle Menschen das Recht haben, sich frei mit anderen zusammenzuschließen. Wie bereits dargelegt, nimmt die Beklagte als Körperschaft öffentlichen Rechts öffentlich-rechtliche Aufgaben wahr, die ihr der Staat anvertraut hat. Durch die Begründung einer derartigen berufsständischen Vereinigung entspricht der Gesetzgeber dem Interesse der Allgemeinheit an der Ordnung des betreffenden Berufes und entzieht diese dem Anwendungsbereich privater Vereinbarungen. Die Vereinigungsfreiheit hindert nicht, durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes diejenigen, deren Berufsausübung das Allgemeinwohl berührt, in einer berufsständischen Organisation zusammenzufassen, wenn dies der Verwaltung gemeinsame Anliegen und zugleich dem Allgemeinwohl dient. Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK betrifft nicht Abwehransprüche gegenüber öffentlich-rechtlichen Zwangsvereinigungen (vgl. EGMR, Urteil vom 23.06.1981 - Fall Le Compte u.a. -, EuGRZ 1981, 551 sowie JuS 1983, 139 zur Anwendbarkeit der Norm im Fall der belgischen Ärztekammer). Die Auslegung des Art. 11 Abs. 1 EMRK entspricht damit in der Begründung und im Ergebnis derjenigen zu Art. 9 Abs. 1 GG(VG Gießen, Urteil vom 9.6.2000 - 8 E 3210/99 -). Etwas anderes soll nach der Rechtsprechung des EGMR lediglich dann gelten, wenn die Berufstätigen durch den Zusammenschluss in der Kammer an der Gründung oder am Beitritt zu anderen berufsständischen Vereinigungen gehindert werden würden. Dies ist in Deutschland, wo zahlreiche weitere berufsständische Vereinigungen von Ärzten existieren, nicht der Fall. Die Beklagte ist danach keine Vereinigung i.S.d. Art. 11 Abs. 1 EMRK.

16

Aus dem vom Kläger angeführten Urteil des EGMR vom 11.01.2006 (Beschwerde-Nr. 52.562/99 und 52.620/99, Fälle Sørensen und Rasmussen gegen Dänemark) ergibt sich nichts Abweichendes. Das Urteil betraf die Frage der Pflichtmitgliedschaft in einer Gewerkschaft und damit in einer privatrechtlichen Vereinigung von Arbeitnehmern, deren satzungsgemäße Aufgabe im Wesentlichen in der Wahrnehmung und Förderung der Interessen ihrer Mitglieder liegt. Es stellt im Schwerpunkt darauf ab, dass unter Umständen die Pflicht des Staates bestehen kann, zum Schutz der Vereinigungsfreiheit in die Beziehungen zwischen Privatpersonen einzugreifen, und betrifft daher eine mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbare Rechtsfrage. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass der EGMR mit der Entscheidung vom 11.01.2006 von seiner o. g. Rechtsprechung abweichen und den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 EMRK auf Abwehransprüche gegen öffentlich-rechtliche Zwangsvereinigungen ausweiten wollte.