Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 28.01.2004, Az.: 2 K 167/03
Rechtmäßigkeit der Annahme einer Verpflichtung des Finanzamtes zur Aussetzung eines Einspruchsverfahrens; Folge einer Abhängigkeit der Entscheidung im Einspruchsverfahren von dem Bestehen eines den Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits bildenden Rechtsverhältnisses; Auswirkungen eines laufenden Einspruchsverfahrens gegen Feststellungsbescheid auf die Pflicht zur Aussetzung des Einspruchsverfahrens gegen Folgebescheid; Zulässigkeit eines Nichtabwarten des Ausgangs eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen Grundlagenbescheid
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 28.01.2004
- Aktenzeichen
- 2 K 167/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 12902
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2004:0128.2K167.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 363 Abs. 1 AO
- § 171 Abs. 10 AO
- § 175 AO
Fundstellen
- DStR 2004, XII Heft 23 (Kurzinformation)
- DStRE 2004, 789-790 (Volltext mit amtl. LS)
Redaktioneller Leitsatz
Trifft das Finanzamt in einem Einspruchsverfahren betr. Einkommensteuer keine Erwägungen, ob das Einspruchsverfahren ggf. wegen eines anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens gegen einen Grundlagenbescheid auszusetzen ist, liegt wegen Nichtausübung des Ermessens ein Ermessensfehler vor.
Tatbestand
Die Parteien streiten, ob das Finanzamt Einsprüche abschlägig bescheiden durfte.
Die Klägerin war in den Streitjahren an einer Bauherrengemeinschaft beteiligt. Die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung hieraus stellte das beklagte Finanzamt für das Jahr 2000 gesondert fest. Hiergegen hat die Klägerin Einspruch eingelegt, über den noch nicht entschieden ist.
Das Finanzamt veranlagte die Kläger für das Streitjahr zur Einkommensteuer, wobei es die festgestellten Einkünfte aus der Bauherrengemeinschaft zugrunde legte. Es trug ferner einen Verlust aus dem Folgejahr zurück, so dass sich auf den 31.12.2001 kein Verlustvortrag mehr ergab (Einzelheiten siehe Verlustfeststellungsbescheid vom 31.12.2001, GA Bl. 7). Die Kläger machten mit Einsprüchen gegen den Verlustfeststellungsbescheid und den Einkommensteuerbescheid unter Hinweis auf die Einspruchverfahren in der Feststellungssache geltend, das Finanzamt habe die Einkünfte aus der Baugemeinschaft unzutreffend hoch errechnet. Die Einkommensteuer müsse niedriger festgesetzt werden; der Verlustrücktrag falle sodann niedriger aus, so dass sich auf den 31.12.2001 ein Verlustvortrag ergebe.
Das Finanzamt wies die Einsprüche gegen den Einkommensteuerbescheid und den Verlustfeststellungsbescheid als unbegründet zurück. Über die Anteile der Kläger an den Einkünften der Baugemeinschaften könne nicht in den anhängigen Verfahren - Einsprüche gegen den Einkommensteuerbescheid und Verlustfeststellungsbescheid - sondern nur in dem Verfahren über den Feststellungsbescheid der Baugemeinschaft (Grundlagenbescheid) befunden werden. Soweit dieser Grundlagenbescheid sodann geändert werde, werde das Finanzamt auch die Folgebescheide von sich aus ändern. Wegen der Einzelheiten wird auf die Einspruchsbescheide verwiesen (GA Bl. 11 bis 16).
Die Kläger meinen, das Finanzamt könne die Einkommensteuer nicht in dem im angefochtenen Bescheid festgestellten Umfange beanspruchen, ebenso sei die Verlustfeststellung unzutreffend. In dem Feststellungsbescheid der Baugemeinschaft habe das FA die Werbungskosten zu niedrig angesetzt.
Die Kläger beantragen,
wie erkannt zu entscheiden.
Das Finanzamt beantragt,
die Klage abzuweisen.
Das Gericht hat das Finanzamt darauf hingewiesen, dass es das Einspruchsverfahren gemäß § 363 AO möglicherweise hätte aussetzen müssen und eine Aufhebung der Einspruchsbescheide angeregt. Darauf hat das Finanzamt erwidert, es sehe hierzu keinen Anlass, denn hierfür gebe es keine Rechtsgrundlage (Einzelheiten siehe Schriftsatz vom 27.08.2003, GA Bl. 39).
Gründe
Die Klage ist begründet. Die Einspruchsbescheide sind ermessensfehlerhaft ergangen.
Nach § 363 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) kann das Finanzamt die Entscheidung eines Rechtsstreites aussetzen, wenn die Entscheidung von dem "Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses" abhängt, das Gegenstand eines anhängigen Rechtsstreits bildet. Eine solche Abhängigkeit besteht hier, da nach§ 175 AO die mit Einspruch angefochtenen Bescheide zuändern wären, sofern sich im Laufe der Einspruchsverfahren gegen den Feststellungsbescheid der Baugemeinschaft eine Änderung ergibt. Für diesen Fall hat das Finanzamt im Einspruchsverfahren gegen die Folgebescheide zu erwägen, ob es den Abschluss des Rechtsbehelfverfahrens gegen den Grundlagenbescheid abwartet, weil es anderenfalls die Einkommensteuer möglicherweise unzutreffend hoch festgesetzt hat und einen Verlustvortrag feststellen müsste. Das Finanzamt hat diese Erwägungen jedoch nicht angestellt. Es hat sich vielmehr ausschließlich an den Feststellungsbescheid gebunden gefühlt und die Möglichkeit einer Aussetzung der Einspruchsverfahren überhaupt nicht in Betracht gezogen, wie sich noch aus seinem Schriftsatz vom 27.08.2003 ergibt. Damit hat das Finanzamt ermessensfehlerhaft gehandelt, den es hat ein ihm eingeräumtes Ermessen nicht genutzt. Da es diese Erwägungen bis zur Entscheidung des Gerichts auch nicht ergänzt hat, waren die Einspruchsentscheidungen aufzuheben (§ 102 Satz 2 FGO).
Im gleichen Sinne hat der BFH für den inhaltsgleichen§ 74 FGO entschieden, dass die Gerichte das Verfahren aussetzen können, bis der Grundlagenbescheid bestandskräftig geworden ist (ständige Rechtsprechung BFH-Urteile vom 27.09.1972, I B 27/72, BStBl. II 1973, 24; vom 26.07.1983, VIII R 28/79, BStBl II 1984, 290; vom 12.11.1985, IX R 85/82, BStBl II 1986, 239; vom 09.06.1999, I R 92/98, BStBl II 1999, 733, alle m.w.N.). Dabei sei es "regelmäßig geboten und zweckmäßig", den Rechtsstreit um die Rechtmäßigkeit eines Folgebescheids auszusetzen, solange noch unklar sei, ob der Grundlagenbescheid geändert werde. Im "Grundsatz" müsse das Finanzgericht das Verfahren deshalb stets aussetzen (BFH-Beschluss vom 20.02.1991, II B 160/89, BStBl. 1991, 368). Für das Einspruchsverfahren kann nach Auffassung des erkennenden Senats nichts anderes gelten, schon wegen desselben Wortlautes und desselben Zweckes beider Vorschriften. Es wäre für einen Steuerpflichtigen unzumutbar, lediglich zu dem Zweck Klage erheben zu müssen, um so ein "Offenhalten" des Veranlagungsverfahrens zu erreichen. Anderenfalls müssten überdies die - ohnehin schonüberlasteten - Finanzgerichte mit weiteren durchaus vermeidbaren Verfahren belastet werden.
Auch die Vorschrift des § 127 AO steht hier einer Aufhebung der Einspruchsbescheide nicht entgegen. Sie ist bei Ermessensentscheidungen nicht anwendbar (BFH-Urteil vom 05.03.1985, VII R 146/84, BStBl. II 1985, 377). Selbst wenn hier sich das Ermessen aber auf "Null" reduziert haben sollte, müsste die Einspruchsentscheidung doch aufgehoben werden. Nach § 127 AO nämlich darf zwar eine Verwaltungsentscheidung nicht allein wegen einer Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben werden, wenn "keine andere Entscheidung in der Sache getroffen werden könnte". Verwaltungsentscheidungen sollen nicht lediglich aus formalen Gründen aufgehoben werden müssen, wenn sie sogleich mit gleichem Inhalt wiederholt werden müssten (Tipke-Kruse § 100 FGO Anm. 10; vgl. auch BFH-Urteil vom 02.07.1980, I R 74/77, BStBl. 1980, 684). Nach diesem Zweck greift die Vorschrift im vorliegenden Fall nicht ein. Das Finanzamt wäre dann eben wegen § 363 AO an einer erneuten Entscheidung gehindert. Es müsste den Ausgang des Feststellungsverfahrens abwarten.
Zu Unrecht ist das Finanzamt offenbar der Meinung, ein besonderer Einspruch gegen den Folgebescheid sei überflüssig. Schon im Hinblick auf die Festsetzungsfrist des § 171 Abs. 10 AO ist vielmehr ein solcher Einspruch nicht von vornherein sinnlos. Wie der erkennende Senat aus anderen Verfahren weiß, erfahren Beteiligte nicht in jedem Fall vonÄnderungen der Grundlagenbescheide, so dass sie keinen Einfluss auf den Ablauf der besonderen Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 10 AO, die jetzt zwei Jahre beträgt, haben.
Da das Finanzamt beim Erlass der Einspruchsbescheide sein Ermessen nicht ausgeübt hat, sind die Einspruchsbescheide aufzuheben (wie hier Rößler, Deutsche StZ 1995, 270, 271; Szymczak in Koch/Schultz,§ 363 Anmerkung 10/6; Hübschmann-Hepp-Spitaler § 363 Anmerkung 276).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 3 FGO i.V.m.§§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).
Der Senat lässt die Revision zu, weil eine Entscheidung des BFH zur Anwendung des § 363 AO rechtsfortbildend sein könnte.