Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 10.12.1986, Az.: 9 U 5/86

Voraussetzungen für die Zulassung einer Berufung; Anforderungen an die Darlegung von Zulassungsgründen; Anspruch auf Schadensersatz wegen einer unerlaubten Handlung; Umfang der Rechte und Pflichten des Verwalters einer Wohnungseigentumsanlage; Anforderungen an den Beschluss im Rahmen einer Eigentümergemeinschaft

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
10.12.1986
Aktenzeichen
9 U 5/86
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1986, 19756
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:1986:1210.9U5.86.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Stade - 04.11.1986 - AZ: 6 O 99/85

Fundstellen

  • NJW 1987, 1089 (amtl. Leitsatz)
  • NJW-RR 1987, 283-284 (Volltext mit red. LS)
  • VersR 1987, 467-468 (Volltext mit amtl. LS)

In dem Rechtsstreit
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 12. November 1986
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht M. und
die Richter am Oberlandesgericht Prof. Dr. D. und Dr. W.
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung gegen das Urteil der 6. Zivilkammer des Landgerichts Stade vom 4. November 1986 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

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Die Klägerin spielte am 17. Februar 1984 gegen 17.00 Uhr auf dem Spielplatz der Beklagten in der Wohnanlage II. Bauabschnitt in T., T.. Zu diesem Spielplatz gehört eine ca. 1,70 m hohe Rutsche, deren Aufgang sich außerhalb eines Sandkastens befindet und die in einen Sandkasten einläuft. Zur Begrenzung des Sandkastens dienen Holzbohlen, die etwa 14 cm hoch aus dem Erdreich hervorragen und im rechten Winkel zur Rutschfläche unter der Rutsche hindurchlaufen. Die Klägerin hat behauptet, sie sei von der Rutsche auf die Holzbohlen gestürzt. Sie entwickelte ein stumpfes Bauchtrauma mit Verletzung der Niere, worauf die Niere in der darauffolgenden Nacht entfernt werden mußte. Zwei große Operationsnarben, eine im Nierenbereich und eine quer über dem Bauch sind zurückgeblieben.

2

Die Klägerin hat geltend gemacht, die Beklagte habe gegen ihre Verkehrssicherungspflicht dadurch verstoßen, daß sie unter der Rutsche aus dem Boden herausragende Holzbalken angebracht habe.

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Sie hat beantragt,

die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 25.000 DM nebst 4 % Zinsen seit dem 21.7.1984 zu zahlen und festzustellen, daß die Beklagten für alle Schäden aus dem Unfall vom 17. Februar 1984 in Tostedt haften.

4

Die Beklagten haben schon die Klage für unzulässig gehalten, da diese nicht die einzelnen Wohnungseigentümer als Beklagte aufführe. Auch haben sie bestritten, daß die Klägerin von der Rutsche gestürzt sei. Jedenfalls sei die Verkehrssicherungspflicht nicht verletzt worden. Die Rutsche sei ordnungsgemäß und ausreichend sicher aufgestellt worden. Schließlich treffe die Eltern der Klägerin ein Mitverschulden, das sich die Klägerin anrechnen lassen müsse.

5

Das Landgericht hat nach Beweisaufnahme der Klage stattgegeben. Hiergegen richtet sich die Berufung der Beklagten. Diese wiederholen ihr Vorbringen erster Instanz und rügen die Beweiswürdigung des Landgerichts. Das Landgericht habe auf die Aussage der minderjährigen Zeugin S. S. nicht ohne sachverständige Beratung der Klage stattgeben dürfen. Die Zeugin habe auf Befragen ihrer Eltern immer wieder etwas anderes gesagt, so daß die Eltern schließlich an Phantasien ihrer Tochter geglaubt hätten. Jedenfalls aber fehle es an einer Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte, denn die Rutsche sei als solche nicht zu beanstanden gewesen.

6

Sie beantragen,

das angefochtene Urteil zu ändern und die Klage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

9

Im übrigen haben die Parteien nach Maßgabe der gewechselten Schriftsätze verhandelt, auf deren Inhalt verwiesen wird.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung ist nicht begründet.

11

Die Klage ist in ihrer erhobenen Form zulässig; insbesondere sind die Anträge gegen die so bezeichneten Beklagten nicht zu beanstanden. Nach der Rechtsprechung des BGH ist es ausreichend, daß die als Gesamtschuldner beklagten einzelnen Mitglieder der Wohnungseigentümergemeinschaft, die als solche weder rechts- noch parteifähig ist, durch den Hinweis auf den Grundbucheintrag objektiv bestimmbar sind. Damit ist die nach § 253 Abs. 2 Nr. 1 ZPO erforderliche Benennung der beklagten Partei erfolgt (BGH NJW 77, 1686).

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Die Klage ist auch begründet. Die Beklagten haben die ihnen zur Last fallende Verkehrssicherungspflicht schuldhaft verletzt, § 823 Abs. 1 BGB. Nach ständiger Rechtsprechung hat derjenige, der den Verkehr auf einem Grundstück eröffnet, dafür Sorge zu tragen, daß die damit verbundenen Gefahren sich nicht verwirklichen. Zu diesem Zweck hat er die erforderlichen und zumutbaren Maßnahmen zu treffen. Allgemein gilt für die Anforderungen an die Verkehrssicherungspflicht auf Spielplätzen, daß die Benutzer vor solchen Gefahren geschützt werden müssen, die über das übliche Risiko bei der Anlagenbenutzung hinausgehen und nicht ohne weiteres vorhersehbar und erkennbar sind (BGH VersR 78, 739). Für das Maß der Vorhersehbarkeit und Erkennbarkeit ist dabei die niedere oder sogar fehlende Einsichtsfähigkeit der kindlichen Benutzer entscheidend. In der Rechtsprechung ist davon die Rede, daß sogar eine aufpralldämpfende Beschaffenheit der Sandaufschüttungen unter absturzgefährdenden Spielgeräten notwendig sei (OLG Koblenz VersR 80, 1051). Es braucht hier nicht die Frage entschieden zu werden, ob der Verkehrssicherungspflichtige bei Spielgeräten, bei denen die Gefahr des Abstürzens besteht, dafür Sorge tragen muß, daß der Boden in ihrem Umkreis überall aufpralldämpfend beschaffen ist. Dafür spräche, daß ein Fehlverhalten von Kindern, das erfahrungsgemäß vorkommen kann, grundsätzlich vorhersehbar ist. Es liegt durchaus im Bereich der Lebenserfahrung, daß ein Kind von einer Rutsche abstürzen kann.

13

Jedenfalls ist es mit der Pflicht der Beklagten, den Spielplatz und insbesondere die Rutsche in ungefährlichem Zustand zu halten, nicht vereinbar, wenn unter der Rutschbahn Balken geführt werden, die 14 cm hoch aus dem Erdreich hervorragen. Für den Fall eines Sprungs oder eines Absturzes eines Kindes ist dann die Möglichkeit einer unter Umständen schweren Verletzung gegeben. Abgesehen von der möglichen Verpflichtung der Beklagten, den Untergrund der Rutsche aufprallhemmend zu gestalten, war es jedenfalls nicht zulässig, unter der Laufbahn der Rutsche hochragende Balken hindurchzuführen. Jede kantige Erhöhung im Sturzbereich der Rutsche bringt die Gefahr erheblicher Verletzungen mit sich.

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Unerheblich ist in diesem Zusammenhang die Regelung, die in der DIN-Norm 7926 geschehen ist. Es ist unstreitig, daß sie noch nicht erlassen war, als die Rutsche installiert war.

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Es ist erwiesen, daß die Klägerin von der Rutsche auf die zur Begrenzung des Sandkastens dienenden eckigen Holzbohlen gestürzt ist und sich dadurch die Verletzung der Niere zugezogen hat. Die Zeugin S. hat vor dem Landgericht ausgesagt, daß sie mit der Klägerin zusammen über die Leiter auf die Rutsche geklettert ist. Sie, die Zeugin S. sei zuerst heruntergerutscht und habe, als sie sich umgedreht habe, gesehen, daß J. mit dem Rücken auf dem Balken gelegen habe. Dabei habe sie die Beine außerhalb des Sandkastens gehabt. Zwar habe sie nicht gesehen, wie J. heruntergerutscht sei und wie sie gestürzt sei. Nach den Grundsätzen des. Anscheinsbeweises spricht aber alles dafür, daß die Klägerin zu Beginn oder während des Rutschens von der Rutsche abgekommen und mit dem Rücken auf die Holzbohlen geschlagen ist. Die Klägerin hat dazu vorgetragen, sie habe versucht, auf den Knien herunterzurutschen, und bei dieser Gelegenheit sei sie gestürzt.

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Befindet sich ein Kind auf dem höchsten Punkt einer Rutsche und wird bald danach mit schweren Nierenverletzungen mit dem Rücken auf den Holzbohlen liegend gefunden, die unter der Rutsche hindurchlaufen, so wäre es das typische Geschehen, wenn das Kind von der Höhe oder während des Rutschens abgestürzt oder abgesprungen ist. Eine ernsthafte Art eines anderen Verlaufs haben die Beklagten nicht darzutun vermocht. Aufgrund der Schwere der von der Klägerin davongetragenen Verletzungen ist es kaum vorstellbar, daß sie sich diese nicht durch einen Sturz von der Rutsche, sondern vielleicht durch ein Stolpern an der Sandkastenbegrenzung zugezogen haben soll. Auch ist es schwer denkbar, daß die Klägerin in dem kurzen Zeitraum, in dem die Zeugin S. herunterrutschte, selbst wieder heruntergestiegen ist, dann über die Sandkastenbegrenzung gefallen sein und sich dabei so schwer verletzt haben könnte. Es ist durchaus passend, daß es zu dem beschriebenen Sturz durch ein Rutschen der Klägerin auf den Knien gekommen ist.

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Der Anschein stützt sich wesentlich auf die Aussage der Zeugin S.. Das Landgericht hat ihre Aussage positiv gewürdigt und ist dem Inhalt der Aussage im wesentlichen gefolgt. Die Beklagten bezweifeln die Glaubhaftigkeit der Zeugin. Im Zeitpunkt der Vernehmung sei das fragliche Ereignis bereits 1 3/4 Jahre vergangen gewesen, und das Langzeitgedächtnis von Kindern sei schlecht. Außerdem habe ein Außendienstmitarbeiter der hinter der Beklagten stehenden Haftpflichtversicherung vorprozessual in einem Gespräch mit der Mutter der Zeugin erfahren, daß das Kind keine sachlichen Aussagen zum Unfallhergang machen könne. Es habe schon mehrfach Unterschiedliches erzählt, so daß die Eltern der Meinung gewesen seien, ihre Phantasien könnten nicht zu Papier gebracht werden. Soweit in diesem Vortrag die Behauptung zu halten ist, daß Kinder in dem Alter der Zeugin (6 1/2 Jahre) generell nicht glaubwürdig seien und ihre Aussage nicht ohne sachverständigen Hilfe gewertet werden könnte, ist ihr nicht zu folgen. Es entspricht der Lebenserfahrung, daß sich Kinder ein Geschehen gut einprägen, das wegen der traumatischen Folgen besonderes Gewicht hat. Außerdem hat das Landgericht festgestellt, daß die Zeugin offen und unbefangen ausgesagt habe. Diese Feststellungen sind überzeugend, zumal es kaum vorstellbar ist, daß die Klägerin sich ihre schweren Verletzungen allein infolge Stolperns auf dem Erdboden oder über die Bohle zuziehen konnte. Soweit die Beklagten vortragen, die Zeugin habe schon früher über das Tatgeschehen phantastische Aussagen gemacht, ist ihr Vorbringen nach § 528 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen. In der ersten Instanz hat ein Ortstermin stattgefunden, zu dem die Klägerin und die Zeugin S. geladen worden sind. Die Parteien hatten schon sechs Wochen vorher Nachricht von diesem Termin und der beabsichtigten Vernehmung erhalten. Es wäre ein Gebot der prozessualen Sorgfalt gewesen, daß die Beklagten etwaige ihnen oder ihren Vertretern bekannte Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit der Zeugin rechtzeitig vor dem Termin mitgeteilt und Gegenbeweis angetreten hätten. Da die Zeugin bereits gut vier Monate vor dem Termin benannt worden war, kann das Verhalten der Beklagten bzw. der Versicherung, die für sie den Prozeß führt, nur als grob nachlässig bezeichnet werden. Eine Berücksichtigung dieses neuen Beklagtenvorbringens würde den Prozeß erheblich verzögern. Die Zeugin S. müßte erneut vernommen werden. Die Klägerin wäre als Zeugin zu vernehmen. Da es sich um Kinder handelt, müßte die Beweisaufnahme zweckmäßigerweise am Unfallort durchgeführt werden. Zusätzlich wären der Außendienstmitarbeiter der Versicherung sowie beide Eltern der Zeugin S. zu vernehmen. All das könnte angesichts der Belastung des Senats erst im Sommer nächsten Jahres erfolgen.

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Die Klägerin braucht sich ihr eigenes Fehlverhalten gem. §§ 254, 828 BGB nicht zurechnen zu lassen. Eine Aufsichtspflichtverletzung ihrer Eltern hat das Landgericht zutreffend verneint. Sie wäre gegenüber dem Klagebegehren im übrigen unerheblich. Die Beklagten greifen das landgerichtliche Urteil insoweit auch gar nicht an (§ 519 Abs. 3 Nr. 2 ZPO).

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Die vom Landgericht zugesprochene Summe von 25.000 DM ist als Schmerzensgeld nicht übersetzt. Die Klägerin hat längere Zeit im Krankenhaus gelegen und eine umfangreiche Operation sowie unangenehme Nachbehandlungen mit Bluttransfusionen über sich ergehen lassen. Es besteht die Gefahr, daß sie bei einer Schädigung der verbleibenden Niere lebensbedrohliche Gesundheitsbeeinträchtigungen erleidet und zum Dialysepatienten wird. Dies bedeutet eine ständige psychische Belastung und führt zu einer lebenslangen eingeschränkten Lebensführung. Aus diesen Gründen hat zum Beispiel das Landgericht Rottweil einem 14-jährigen Mädchen bei Verlust der linken Niere 24.000 DM Schmerzensgeld und einen immateriellen Vorbehalt zugesprochen (Landgericht Rottweil vom 3.2.83, 3 O 1166/82, vgl. Hacks/Ring/Böhm, Schmerzensgeldbeträge12 (1985) Nr. 570). Hier kommt hinzu, daß bei der Operation der ganze Leib der Klägerin geöffnet worden ist und zwei große Narben zurückgeblieben sind. In dem Urteilsbetrag von 25.000 DM ist also auch der Umstand mit abgegolten, daß die Klägerin sich durch die großen Narben verunstaltet fühlen wird und zeitlebens die Befürchtung vor dem Ausfall der anderen Niere haben muß. Für den Fall jedoch, daß diese Gefahr sich verwirklicht, sind weitere Schmerzensgeldansprüche möglich. Die Realisierung dieses Risikos wird nicht vom ausgeurteilten Betrag erfaßt, wohl aber von der gerichtlichen Feststellung, daß die Beklagten für alle (weiteren) Unfallschäden haften.

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Die Nebenentscheidungen ergeben sich aus den §§ 97, 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Streitwertbeschluss:

Wert der Beschwer: 35.000 DM.