Sozialgericht Braunschweig
v. 17.08.2020, Az.: S 61 SB 570/19

Rechtmäßigkeit des Entzugs des Merkzeichens H bei der Festsetzung des Grades einer Behinderung

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
17.08.2020
Aktenzeichen
S 61 SB 570/19
Entscheidungsform
Gerichtsbescheid
Referenz
WKRS 2020, 72854
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2020:0817.S61SB570.19.00

In dem Rechtsstreit
A.
- Klägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Sozialverband Deutschland, B.
gegen
Land Niedersachsen, C.
- Beklagter -
hat die 61. Kammer des Sozialgerichts Braunschweig am 17. August 2020 gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch die Richterin am Sozialgericht D. für Recht erkannt:

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30.10.2019 wird aufgehoben.

Der Beklagte erstattet der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverteidigung notwendigen Kosten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Rechtmäßigkeit des Entzugs des Merkzeichens H (Hilflosigkeit).

Bei der am E. 2000 geborenen Klägerin wurde mit Bescheid vom 9. Juli 2003 ein Grad der Behinderung (GdB) in Höhe von 50 sowie das Vorliegen des Merkzeichens H festgestellt.

Auf den Neufeststellungsantrag vom 14. August 2006 hin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28. November 2006 fest, dass eine Neufeststellung nicht vorzunehmen ist.

Mit Anhörungsschreiben vom 7. Januar 2019 hörte der Beklagte die Klägerin zu einer beabsichtigten Aufhebungsentscheidung nach § 48 SGB X an. Zur Begründung führte er aus, dass bezüglich des Merkzeichens H aufgrund der Vollendung des 18. Lebensjahres nunmehr die Erwachsenenkriterien anzuwenden sein und bei der Klägerin deshalb die Voraussetzungen für die Feststellung des Merkzeichens H nicht mehr vorlägen.

Mit Bescheid vom 4. März 2019 entschied der Beklagte sodann:

"Der Bescheid vom 28.11.2006 wird insoweit aufgehoben, als der Anspruch entsprechend der eingetretenen Änderung wie folgt neu festgestellt wird:

Das bisher festgestellte Merkzeichen H entfällt mit Wirkung vom 1.4.2019."

Hiergegen legte die Klägerin am 12. März 2019 Widerspruch ein. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Oktober 2019 wurde der Widerspruch als unbegründet zurückgewiesen. Zur Begründung führte der Beklagte aus, dass eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen eingetreten sei.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der am 25. November 2019 erhobenen Klage. Zur Begründung trägt sie vor, der Beklagte habe den falschen Bescheid aufgehoben, so dass ein Entzug des Merkzeichens nicht in Betracht komme. Hilfsweise sei das Merkzeichen H weiterhin festzustellen, da die gesundheitlichen Voraussetzungen vorlägen.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin beantragt

den Bescheid des Beklagten vom 4. März 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Oktober 2019 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Die Beteiligten sind mit Verfügung vom 16. Juli 2020 zu einer beabsichtigten Entscheidung mittels Gerichtsbescheid angehört worden.

Entscheidungsgründe

Gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) konnte das Gericht im vorliegenden Fall ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und die Beteiligten mit gerichtlicher Verfügung vom 16. Juli 2020 vor Erlass ordnungsgemäß unter Angabe der entsprechenden Begründung angehört worden sind. Auf die Zustimmung der Beteiligten kommt es hierbei nicht an, so dass es unerheblich ist, dass die Klägerin im Rahmen einer mündlichen Verhandlung zu ihren Gunsten weiter vortragen wollte, zumal bereits im Rahmen der Anhörung darauf hingewiesen wurde, dass das Gericht die Aufhebung des Aufhebungsbescheides beabsichtigt, so dass weiterer Vortrag zugunsten der Klägerin nicht erforderlich für die Entscheidung war.

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet.

Der Bescheid vom 04. März 2019 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin deshalb in ihren Rechten. Mit Bescheid vom 04. März 2019 hat der Beklagte den Bescheid vom 28. November 2006 aufgehoben. Grundlage für die Entscheidung des Beklagten ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X). Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben.

Bei dem Bescheid vom 28. November 2006 handelt es sich jedoch lediglich um den Bescheid, mit welchem die Neufeststellung abgelehnt worden ist. Der Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, mit welchem bei der Klägerin das Merkzeichen H anerkannt wird, ist der Bescheid vom 09. Juli 2003.

Dennoch leitet Beklagte die Rechtsfolge, dass das Merkzeichen H für die Zukunft, d.h. ab dem 01.04.2019 entzogen wird, aus der Aufhebung her. Diese Feststellung ist jedoch rechtswidrig, da die Aufhebung des Bescheides vom 28.11.2006 nicht dazu führen kann, dass das Merkzeichen H entzogen wird. Vielmehr hat der Beklagte es versäumt den Bescheid vom 09. Juli 2003 aufzuheben, welcher die Feststellung des Merkzeichens H regelt. Dieser Bescheid hat jedoch weiterhin Bestand. Eine Umdeutung (d.h. des Bescheides vom 09.07.2003 anstelle des Bescheides vom 28.11.2006) nach § 43 SGB X kommt wegen § 43 Abs. 2 Satz 1 SGB X nicht in Betracht, da es sich bei einer Umdeutung im Hinblick auf den aufzuhebenden Bescheid um einen für die Klägerin ungünstigeren Bescheid handeln würde, da sodann tatsächliche die Rechtsfolge des Entzuges des Merkzeichens H hiermit verbunden gewesen wäre.

Nach alledem war der rechtswidrige Bescheid vom 04. März 2019 aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.