Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 14.11.2007, Az.: 5 A 252/06

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
14.11.2007
Aktenzeichen
5 A 252/06
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2007, 62158
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2007:1114.5A252.06.0A

Tenor:

  1. Der Bescheid der Beklagten vom 16. November 2006 wird aufgehoben. Es wird festgestellt, dass der Wahlbewerber G. nach dem Ergebnis der Gemeindewahl 2006 Ersatzperson des Ratsmitgliedes H. ist.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

    Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

1

Tatbestand Zu den Kommunalwahlen 2006 wurden im Gebiet der Beklagten zwei Wahlbereiche gebildet. Die Klägerin kandidierte für beide Wahlbereiche mit je einer eigenen Wahlliste. Auf jeder Wahlliste war ein Wahlbewerber aufgeführt. Nach den Feststellungen des Wahlausschusses erzielte die Klägerin im Wahlbereich I einen Sitz, die auf den einzigen Wahlbewerber Herrn H. entfiel. Ersatzpersonen wurden nicht bestimmt. Im Wahlbereich II stand der Wahlbewerber G. zur Wahl. Er wurde nicht gewählt. Das vom Wahlausschuss in seiner Sitzung vom 13. September 2006 endgültig festgestellte Wahlergebnis wurde am 20. September 2006 öffentlich bekanntgegeben.

2

Am 2. Oktober 2006 legte die Klägerin Einspruch ein. Sie führte zur Begründung aus, das festgestellte Wahlergebnis sei insofern fehlerhaft, als für Herrn I. keine Ersatzperson benannt worden sei. Im Falle seines Ausfalls oder Verzichts trete der Wahlbewerber im Wahlbereich II, Herr G., an seine Stelle. Enthalte - wie hier - eine Liste keine Ersatzpersonen, komme in Wahlgebieten mit mehreren Wahlbereichen die Liste zum Zuge, deren Bewerber am meisten Stimmen erhalten hätten. Ein anderes Ergebnis führe zu einer Benachteiligung kleinerer Parteien.

3

In seiner Sitzung vom 14. November 2006 beschloss der Rat der Stadt J., dass der Wahleinspruch der Klägerin unbegründet und die Feststellung hinsichtlich der Ersatzperson gültig seien. Durch Bescheid vom 16. November 2006 - am 18. November 2006 zugestellt - wies der Gemeindewahlleiter den Wahleinspruch der Klägerin als zulässig, aber unbegründet zurück. Er führte zur Begründung aus, die vom Wahlausschuss am 13. September 2006 getroffene Feststellung hinsichtlich der Ersatzpersonen der Klägerin sei gültig. Der Sitzübergang auf einen nicht gewählten Bewerber von Wahlvorschlägen anderer Wahlbereiche komme nur in Betracht, wenn auf den Wahlvorschlag auch tatsächlich ein Sitz entfallen sei. Hintergrund dieser in § 38 Abs. 1 Niedersächsisches Kommunalwahlgesetz (NKWG) enthaltenen Regelung sei die Tatsache, dass Ersatzpersonen eines Wahlvorschlages lediglich die nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber derjenigen Wahlvorschläge einer Partei oder Wählergruppe seien, auf die mindestens ein Sitz entfallen sei. Sei - wie im Gebiet der Beklagten - das Wahlgebiet in mehrere Wahlbereiche eingeteilt, gelte der Wahlvorschlag nur für die Wahl in dem jeweiligen Wahlbereich. Als Ersatzpersonen kämen daher nur diejenigen nicht gewählten Bewerber in Betracht, auf deren Wahlvorschlag mindestens ein Sitz entfallen sei. In Wahlbereichen, in denen ein Wahlvorschlagsträger keinen Sitz erhalten habe, gebe es daher keine Ersatzpersonen. Da in dem Wahlbereich I keine Ersatzperson für Herrn I. kandidiert habe, habe hier keine Ersatzperson festgestellt werden können. Im Wahlbereich II sei ein Sitz nicht erzielt worden, so dass auch von dieser Liste keine Ersatzperson habe benannt werden können.

4

Die Klägerin hat am 16. Dezember 2006 Klage erhoben. Sie trägt zur Begründung vor, sei - wie hier - eine Ersatzperson nicht vorhanden, weil der Wahlvorschlag erschöpft sei, sei auf die Wahlvorschläge der Listen der anderen Wahlbereiche zurückzugreifen. Es seien diejenigen zu Ersatzpersonen zu bestellen, die dort keinen Sitz erhalten hätten. Für die gegenteilige Auffassung der Beklagten gebe es im Gesetz keinen Anhaltspunkt. Ihre Auslegung entspreche auch nicht dem demokratischen Prinzip. Nach diesem müsse die Zusammensetzung des gewählten Rates das Wahlergebnis möglichst genau widerspiegeln. Das setze voraus, dass nicht gewählte Bewerberinnen und Bewerber nachrücken könnten, gegebenenfalls auch aus Wahlbereichen, in denen sie nicht zum Zuge gekommen seien. Ein anderes Ergebnis führe zu einer Verzerrung des Wahlergebnisses und einer Verletzung des demokratischen Prinzips.

5

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 16. November 2006 aufzuheben und festzustellen, dass der Wahlbewerber G. nach dem Ergebnis der Gemeindewahl 2006 Ersatzperson des Ratsmitgliedes H. ist.

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Sie ergänzt und vertieft ihr Vorbringen aus dem angegriffenen Bescheid.

8

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Beklagten verwiesen.

Gründe

9

Entscheidungsgründe Die nach § 49 Abs. 2 NKWG statthafte und auch im Übrigen zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung der Feststellung einer Ersatzperson für den im Wahlbereich I gewählten Herrn H. mit Bescheid vom 16. November 2006 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Feststellung des Wahlbewerbers G. als Ersatzperson.

10

Rechtsgrundlage der Feststellung ist § 38 Abs. 4 NKWG. Nach dieser Regelung stellt der Wahlausschuss die Reihenfolge der Ersatzpersonen fest. Gemäß § 38 Abs. 1 NKWG sind die nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber des Wahlvorschlages u.a. einer Partei, auf den mindestens ein Sitz entfallen ist, Ersatzpersonen dieses Wahlvorschlages. Ersatzpersonen für die durch Personenwahl gewählten Bewerberinnen und Bewerber (§ 36 Abs. 5 Satz 1 und 2, § 37 Abs. 4 NKWG) sind nach § 38 Abs. 2 Satz 1 NKWG die nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber des Wahlvorschlages, die mindestens eine Stimme erhalten haben. Gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 NKWG sind Ersatzpersonen für - wie hier - die durch Listenwahl gewählten Bewerberinnen und Bewerber (§ 36 Abs. 6, § 37 Abs. 4 NKWG) alle nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber des Wahlvorschlages. § 44 NKWG regelt den Ersatz von Vertreterinnen und Vertretern. Lehnt nach Absatz 1 der Vorschrift eine gewählte Bewerberin oder ein gewählter Bewerber die Wahl ab, stirbt eine Vertreterin oder ein Vertreter oder verliert sie ihren oder er seinen Sitz, so geht der Sitz nach Maßgabe des § 38 Abs. 2 oder 3 NKWG auf die nächste Ersatzperson des Wahlvorschlages über, auf dem die oder der Ausgeschiedene gewählt worden ist. War im Falle des § 44 Abs. 1 NKWG die Bewerberin oder der Bewerber oder die Vertreterin oder der Vertreter durch Listenwahl gewählt (§ 36 Abs. 6, § 37 Abs. 4 NKWG) und ist für sie oder ihn keine Ersatzperson gemäß § 38 Abs. 3 NKWG vorhanden, so gilt nach § 44 Abs. 5 Satz 1 HS 1 NKWG in einem Wahlgebiet mit mehreren Wahlbereichen § 37 Abs. 5 entsprechend. Satz 1 letztgenannter Regelung sieht vor, dass wenn die Berechnung mehr Sitze für einen Wahlvorschlag ergibt, als Bewerberinnen und Bewerber auf ihm vorhanden sind, die übrigen Sitze diejenigen Bewerberinnen und Bewerber auf den Wahlvorschlägen dieser Partei in den anderen Wahlbereichen erhalten, die dort keinen Sitz erhalten haben.

11

Nach diesen Maßgaben ist der nicht gewählte Wahlbewerber der Wahlliste im Wahlbereich II, Herr G., als Ersatzperson für den im Wahlbereich I gewählten Herrn H. zu benennen. Eine Ersatzperson nach § 38 Abs. 3 NKWG war nicht vorhanden, weil auf der Wahlliste des Wahlbereichs I keine nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber vorhanden waren. Danach greift § 44 Abs. 1 und 5 NKWG i.V.m. § 37 Abs. 5 NKWG in entsprechender Anwendung, demzufolge auf die Bewerberinnen und Bewerber auf den Wahlvorschlägen dieser Partei in den anderen Wahlbereichen zurückzugreifen ist, die dort keinen Sitz erhalten haben. Dies trifft auf Herrn G. zu.

12

Entgegen der Auffassung der Beklagten steht § 38 Abs. 1 NKWG diesem Ergebnis nicht entgegen. Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Regelung betreffend die Ersatzpersonen eines Wahlvorschlages. Für den hier in Rede stehenden Fall, dass auf dem Wahlvorschlag einer Partei keine weiteren nicht gewählten Bewerberinnen und Bewerber benannt sind, trifft nicht § 38 Abs. 1 NKWG, sondern § 44 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 und 5 NKWG eine Regelung. Auf letztgenannte Fälle ist § 38 Abs. 1 NKWG dementsprechend nicht anwendbar (s. VG Braunschweig, Urteil vom 18.7.2007 - 1 A 357/06 - juris).

13

Dies folgt aus dem Wortlaut des § 44 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 und 5 NKWG. Absatz 1 der genannten Vorschrift verweist allein auf § 38 Abs. 2 und 3 NKWG, nimmt aber nicht auch § 38 Abs. 1 NKWG in Bezug. Das lässt darauf schließen, dass für die in § 44 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 und 5 NKWG geregelten Sonderfälle die Anforderungen des § 38 Abs. 1 NKWG nicht gelten (Schiefel, Niedersächsisches Kommunalwahlgesetz, Kommentar, 2. Aufl., 1991, § 44 Anm. 4.1).

14

Hierfür sprechen auch historische und systematische Erwägungen. Mit der Änderung u.a. des § 38 NKWG zum 24. Februar 2006 beabsichtigte der Gesetzgeber die Bestimmung der Ersatzpersonen den gleichen Regeln zu unterwerfen wie die Bestimmung der gewählten Bewerber (vgl. dazu Begründung zu Art. I Nr. 8 LT-Drs. 13/780 S. 8). Deswegen ist die entsprechende Anwendbarkeit des § 37 Abs. 5 NKWG geregelt worden. Entfallen nach der genannten Regelung auf einen Wahlvorschlag mehr Sitze als Bewerber auf ihm vorhanden sind, so werden die übrigen Sitze aus den Wahlvorschlägen dieser Partei in den anderen Wahlbereichen besetzt. Die Wahlbewerber werden in der Reihenfolge ihrer Stimmenanzahl berücksichtigt. Der Sitz kann einem Wahlbewerber aber auch dann zugewiesen werden, wenn er keine Stimme erhalten hat oder wenn auf dem Wahlvorschlag, auf dem er kandidiert hat, kein Sitz entfallen ist. Erst wenn im gesamten Wahlgebiet kein noch nicht gewählter Bewerber der betreffenden Partei mehr vorhanden ist, bleibt ein Sitz unbesetzt (so Schiefel, a.a.O. § 37 Anm. 2). Sachliche Gründe dafür, dass die Bestimmung von Ersatzpersonen anderen Kriterien folgen müsste, sind weder von der Beklagten vorgetragen worden noch sonst ersichtlich. Ein anderes Ergebnis führte auch zu einem Verstoß gegen die Gleichheit der Wahl. Kleinere Parteien wie die Klägerin haben aus personellen Gründen häufig nicht die Möglichkeit, für jeden Wahlbereich in einem Wahlgebiet Wahlvorschläge mit mehreren Kandidaten aufzustellen, sodass sie im Falle eines Ausschlusses des wahlbereichsübergreifenden Sitzübergangs gegenüber größeren Parteien deutlich benachteiligt wären. Die von ihnen errungenen Sitze müssten im Falle eines Todes oder Ausscheidens des Sitzinhabers aus anderen Gründen stets unbesetzt bleiben, wenn auf dem erfolgreichen Wahlvorschlag kein weiterer Kandidat benannt ist. Stimmen für kleinere Parteien hätten unter diesen Umständen einen geringeren Erfolgswert, wenn die mit diesen Stimmen erreichten Sitze nicht nachbesetzt würden und deswegen verloren gingen (so auch VG Braunschweig, Urteil vom 18.7.2007 a.a.O.).

15

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 154 Abs. 1 VwGO, 167 Abs. 2 VwGO.

16

Die Berufung wird gemäß § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen. Das Verfahren wirft eine klärungsbedürftige Rechtsfrage mit Auswirkungen über den Einzelfall hinaus auf, die in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet werden kann.