Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 02.06.2020, Az.: 7 A 359/17
Abschiebungsanordnung; Abschiebungsverbot; Aufnahmerichtlinie; Dublin; Dublin-III-Rückkehrer; Dublin-III-VO; Einheitlichkeit der europäischen Grundrechtsordnung; GR-Charta; Haqbin; Selbsteintritt; Systemische Mängel; Systemische Schwachstellen; Überstellung; Unterbringung; Zuständigkeitsübergang
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 02.06.2020
- Aktenzeichen
- 7 A 359/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 72029
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 29 Abs 1 Nr 1a AsylVfG 1992
- § 34a Abs 1 S 1 AsylVfG 1992
- Art 1 EUGrdRCh
- Art 18 EURL 33/2013
- Art 20 EURL 33/2013
- Art 3 Abs 2 EUV 604/2013
- Art 3 MRK
- Art 4 EUGrdRCh
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Der im italienischen Recht vorgesehene und praktizierte vollständige Entzug materieller staatlicher Leistunger zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Unterkunft und Nahrung ist nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH mit der in Art. 1 GRCh verbürgten Menschenwürde unvereinbar und führt zu einem beachtlichen systemischen Mangel im italienischen Aufnahmesystem.
2. Die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verletzung von nach Italien rücküberstellten Asylantragstellern in ihren Rechten aus Art. 1 und 4 GRCh aufgrund eines zumindest zeitweisen Vorenthaltens jeglicher staatlich gewährleisteter Unterkunft und Nahrung wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass Obdachloseneinrichtungen gemeinnütziger Organisationen grundsätzlich zur Verfügung stehen.
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 28.03.2017 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens trägt die Beklagte.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des festzusetzenden Vollstreckungsbetrags abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Aufhebung des Bescheids der Beklagten vom 28.03.2017, mit dem sein Asylantrag als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nach Italien angeordnet wurde.
Der am E. geborene Kläger ist nach eigenen Angaben ivorischer Staatsangehöriger vom Volk der Jola und islamischen Glaubens. Zu seinem Fluchtweg erklärte er, sein Heimatland im März 2012 verlassen zu haben und dann über Burkina-Faso, Niger, Libyen, Italien und die Schweiz am 25.11.2016 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist zu sein.
Am 06.12.2016 stellte der Kläger beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. Bei seiner Befragung vor dem Bundesamt gab er an, er habe sich sieben bis acht Monate in Novara, Italien aufgehalten. Er sei dort nicht gefragt worden, ob er einen Asylantrag stellen wolle. Er sei gezwungen worden, Fingerabdrücke abzugeben. Als er Dokumente bekommen habe, habe er das Lager verlassen müssen. Er habe dann eine Zeit lang auf der Straße schlafen müssen. Auch in Deutschland habe er zunächst auf der Straße geschlafen. An Erkrankungen leide er nicht. Sein Ziel sei es gewesen, nach Deutschland zu kommen, um hier zur Schule zu gehen.
Ein am 28.11.2016 von der Bundepolizei durchgeführter Abgleich mit der Eurodac-Datenbank ergab, dass der Kläger am 24.08.2015 in Lampedusa, Italien registriert worden war F. und am 08.09.2016 in Novara, Italien einen Asylantrag gestellt hatte G.. Daraufhin richtete das Bundesamt am 23.01.2017 ein Wiederaufnahmegesuch an die italienischen Behörden, das unbeantwortet blieb.
Den Asylantrag des Klägers lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 28.03.2017 als unzulässig ab (Ziff.1). Zur Begründung führte sie aus, dass Italien aufgrund des dort bereits gestellten Asylantrags für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig sei. Zudem stellte die Beklagte fest, dass keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote vorlägen (Ziff. 2), ordnete die Abschiebung nach Italien an (Ziff.3) und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziff.4).
Der Kläger hat am 06.04.2017 Klage erhoben und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt (7 B 360/17).
Zur Begründung führt er aus, er habe in Italien keinen Asylantrag gestellt. Er sei dort lediglich registriert worden und habe seine Fingerabdrücke abgeben müssen. Zumindest sei ihm nicht bewusst gewesen, einen Asylantrag gestellt zu haben. Bereits aus diesem Grund sei Italien nicht für seinen Asylantrag zuständig. Zudem drohe ihm bei einer Überstellung nach Italien aufgrund der dort bestehenden systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens sowie der Aufnahmebedingungen für sogenannte Dublin-Rückkehrer die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Grundrechtecharta bzw. der EMRK. Ein Recht auf Unterkunft bestehe in Italien grundsätzlich nicht, wenn der Betroffene beim vorherigen Aufenthalt dort die ihm zugewiesene Unterkunft nicht in Anspruch genommen habe oder untergetaucht sei. Zwar könne der Betroffene erneut einen Antrag auf einen Unterbringungsplatz stellen, er habe jedoch keinen Zugang zu einer staatlichen Unterbringungseinrichtung, solange eine Entscheidung über diesen Antrag noch nicht getroffen worden sei. Selbst wenn die Person hiernach wieder in das System aufgenommen werde, werde sie bei Platzmangel auf den letzten Platz einer Warteliste gesetzt, falls – wie im Fall von Alleinreisende nicht erkrankten Männern – keine Notfallsituationen im Sinne einer besonderen Verletzlichkeit vorliege. Es sei daher nicht auszuschließen, dass er bei einer Rückkehr ohne Unterkunft bleibe oder in einer überfüllten Einrichtung ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werde. Auf ein soziales Netzwerk oder verwandtschaftliche Hilfe könne er unmittelbar nach seiner Rückkehr nicht zurückgreifen.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 28.03.2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung beruft sie sich auf den streitgegenständlichen Bescheid.
Mit Beschluss vom 19.04.2017 hat der damals zuständige Einzelrichter die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung angeordnet (7 B 360/17). Am 24.04.2017 ist dem Kläger Prozesskostenhilfe gewährt worden. In der mündlichen Verhandlung am 16.01.2018 hat der Kläger im Rahmen seiner informatorischen Anhörung erklärt, er habe insgesamt zwei Jahre in Italien gelebt. Dort habe er einen Aufenthaltstitel und Personalpapiere gehabt.
Am 15.02.2018 reiste der Kläger mit auf eine andere Person ausgestellten italienischen Ausweispapieren über Österreich erneut in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er gab gegenüber der Bundespolizei an, in Italien einen Freund besucht und dort Ausweise für seinen Bruder und einen Freund abgeholt zu haben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Einzelrichterin (§ 76 Abs. 1 AsylG) entscheidet im schriftlichen Verfahren (§ 101 Abs. 2 VwGO), da die Beklagte mit Schreiben vom 13.04.2017 und der Kläger mit Schreiben vom 23.04.2018 auf die Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung verzichtet haben.
Die innerhalb der Wochenfrist der §§ 74 Abs. 1, 34 a Abs. 2 S. 1, 3 AsylG erhobene Klage ist als Anfechtungsklage (§ 42 Abs. 1 Alt. 1 VwGO) zulässig. Weist das Bundesamt einen Asylantrag - wie hier - mit der Begründung als unzulässig ab, dass ein anderer Mitgliedstaat für die Durchführung des Asylverfahrens eines Asylsuchenden zuständig sei, ist die Anfechtungsklage statthaft (vgl. BVerwG, Urteil v. 27. 10. 2015 - 1 C 32.14 – juris, Rn. 14 f.).
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 28.03.2017 ist zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 S. 1 Var.2 AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
Die Beklagte hat den Asylantrag des Klägers auf Grundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 1a) AsylG als unzulässig abgelehnt und gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG seine Abschiebung nach Italien angeordnet.
Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 a) AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat nach Maßgabe der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin-III-Verordnung) für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll. Diese Voraussetzungen liegen hier nicht (mehr) vor.
Zunächst ist die Beklagte nach den Regelungen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (Dublin III-VO) zutreffend von einer Zuständigkeit Italiens ausgegangen, weil der Kläger bereits in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat (Art. 3 Abs. 2 i.V.m. Art. 18 Abs. 1 lit. b Dublin-III-VO). Hierbei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob dem Kläger tatsächlich bewusst gewesen ist, dass er einen Asylantrag stellte. Selbst wenn er – entgegen der mit dem Eurodac-Treffer der Kategorie 1 vom 08.09.2015 belegten Registrierung eines solchen Antrags (Bl. 3 Beiakte 001) – keinen Antrag auf Asyl in Italien gestellt haben sollte, ergab sich die Zuständigkeit Italiens zunächst aufgrund seines italienischen Aufenthaltstitels „Permesso di soggiorno“ vom 10.06.2016 (Bl. 53 Beiakte 001) aus Art. 12 Abs. 1, 18 Abs. 1 Dublin-III-VO.
Die italienischen Behörden haben auf das Wiederaufnahmegesuch, das am 23.01. 2017 (Bl. 68 Beiakte 001) und damit rechtzeitig innerhalb der Zweimonats-Frist des Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 1 Dublin III-VO gestellt wurde, nicht reagiert.
Es war auch keine (Unzulässigkeits-) Entscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu treffen. Zwar hat der Kläger in seiner Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 16.01.2018 vor dem damals zuständigen Einzelrichter angegeben, etwa zwei Jahre in Italien gelebt zu haben und auch über einen Aufenthaltstitel und Ausweispapiere verfügt zu haben. Der vom Kläger vorgelegte italienische Aufenthaltstitel („permesso di soggiorno“) mit Gültigkeit bis zum 05.04.2018 (Bl. 53 Beiakte 001), wurde aus humanitären Gründen („motivi umanitari“) erteilt. Damit wird aber vom Kläger nicht dargetan, dass Italien ihm internationalen Schutz gewährt hätte. Erforderlich ist dafür eine förmliche Schutzgewährung, während die bloße Gewährung eines humanitären Aufenthaltsrechts nicht ausreicht (vgl. BayVGH, Beschluss v. 15.2.2018 – 10 ZB 17.30437 –; VG München, Beschluss v. 3.8.2017 – M 21 S 17.42162 –; VG Augsburg, Urteil v. 25.4.2017 – Au 7 K 17.30260 – jeweils zitiert nach juris). Der Aufenthaltstitel „humanitärer Schutz“ war vielmehr eine eigenständige, zwischen 2014 und 2018 die häufigste in Italien zuerkannte Schutzform (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation - Italien, Stand: 09.10.2019, S. 22). Diese Aufenthaltserlaubnisse wurden vor Erlass des sog. „Salvini-Dekrets“ im Herbst 2018 (Gesetzesdekret Nr. 113 vom 4.10.2018) für die Dauer von zwei Jahren erteilt und sind bis zu ihrem regulären Ablaufdatum auch nach Erlass des Salvini-Dekrets weiterhin gültig. Da der Kläger als Asylbewerber in der Regel nicht in der Lage sein dürfte, über den genauen Inhalt seines Aufenthaltstitels und den Verfahrensablauf ausreichend Auskunft geben zu können (vgl. Bayerischer VGH, Urteil v. 03.12.2015 – 13a B 15.50069 – juris Rn. 22), ist mit der Beklagten davon auszugehen, dass es sich bei dem Aufenthaltstitel „motivi umanitari“ nicht um die Zuerkennung internationalen Schutzes handelt (vgl. VG Oldenburg, Gerichtsbescheid v. 01.04.2020 – 1 A 4108/18 – n.v.).
Die Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers ist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist auf die Beklagte übergegangen. Diese Frist begann gemäß Art. 29 Abs. 1 Unterabs. 1 Alt. 1 VO 604/2013 mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs zu laufen. Vorliegend gilt die Annahme gemäß Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO als am 07. 02.2017 erteilt, weil die italienischen Behörden das bei ihnen am 23.01.2017 eingegangene Wiederaufnahmegesuch des Bundesamts nicht innerhalb von zwei Wochen beantwortet haben. Die danach bis zum 07.08.2017 laufende Überstellungsfrist wurde durch den am 06.04.2017 eingegangenen Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes unterbrochen und beginnt aufgrund der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage mit Beschluss vom 19.04.2017 (7 B 360/17) erst im Falle einer rechtskräftigen Aufhebung dieses Urteils unter Klagabweisung wieder zu laufen.
Jedoch entfällt die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Art. 8 bis 15 Dublin III-VO vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, weil es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 der Charta für Grundrechte der Europäischen Union (GRCh) mit sich bringen.
Das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung in Art. 4 GRCh ist entsprechend Art. 52 Abs. 3 GRCh unter Berücksichtigung von Art. 3 EMRK und der hierzu ergangenen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) auszulegen (vgl. EuGH, Urteil v. 19. 03. 2019 – C-163/17 – (Jawo), juris Rn.91). Bei der Prüfung, ob Italien hinsichtlich der Behandlung von rücküberstellten Asylsuchenden gegen Artikel 3 EMRK verstößt, ist ein strenger Maßstab anzulegen (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 29.01.2018 – 10 LB 82/17 –, juris Rn. 28). Denn Italien unterliegt als Mitgliedstaat der Europäischen Union deren Recht und ist den Grundsätzen einer gemeinsamen Asylpolitik sowie den Mindeststandards des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verpflichtet. Das Gemeinsame Europäische Asylsystem beruht auf dem Prinzip gegenseitigen Vertrauens, was bedeutet, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte sowie die Rechte beachten, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und in der Europäischen Menschenrechtskonvention finden. Daraus hat der Europäische Gerichtshof die Vermutung abgeleitet, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem Mitgliedstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Grundrechte-Charta sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention steht (EuGH, Urteil v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 –, juris Rn. 80; sowie EuGH, Urteil v. 19. 03. 2019 – C-163/17 – (Jawo), juris Rn.81 f. m.w.N.).
Diese Vermutung ist indes nicht unwiderleglich. Hierzu hat der EuGH in der Rs. Jawo (Urteil v. 19.03.2019 – C-163/17) ausgeführt:
„Allerdings kann nicht ausgeschlossen werden, dass dieses System in der Praxis auf größere Funktionsstörungen in einem bestimmten Mitgliedstaat stößt, so dass ein ernsthaftes Risiko besteht, dass Personen, die internationalen Schutz beantragen, bei einer Überstellung in diesen Mitgliedstaat in einer Weise behandelt werden, die mit ihren Grundrechten unvereinbar ist (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C-411/10 und C-493/10, EU:C:2011:865, Rn. 81).
Daher wäre die Anwendung einer unwiderlegbaren Vermutung, dass die Grundrechte der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, in dem Mitgliedstaat beachtet werden, der nach der Dublin-III-Verordnung als für die Prüfung des Antrags zuständig bestimmt ist, mit der Pflicht zu grundrechtskonformer Auslegung und Anwendung der Verordnung unvereinbar (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C-411/10 und C-493/10, EU:C:2011:865, Rn. 99, 100 und 105).
Deshalb hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass es nach Art. 4 der Charta den Mitgliedstaaten einschließlich der nationalen Gerichte obliegt, einen Asylbewerber nicht an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-II-Verordnung, der Vorgängerin der Dublin-III-Verordnung, zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass die systemischen Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne dieser Bestimmung ausgesetzt zu werden (Urteil vom 21. Dezember 2011, N. S. u. a., C-411/10 und C-493/10, EU:C:2011:865, Rn. 106).
Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 der Dublin-III-Verordnung, durch den diese Rechtsprechung kodifiziert wurde, stellt klar, dass in einer solchen Situation der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständige Mitgliedstaat wird, wenn er nach Fortsetzung der Prüfung der Kriterien des Kapitels III der Verordnung feststellt, dass keine Überstellung an einen aufgrund dieser Kriterien bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden kann.“
Die Widerlegung dieser Vermutung ist wegen der gewichtigen Zwecke des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems an hohe Hürden geknüpft. Daher steht nicht jede drohende Grundrechtsverletzung oder jeder Verstoß gegen die Regeln für das gemeinsame Asylsystem der Überstellung eines Asylsuchenden in den zuständigen Mitgliedstaat entgegen. Dies wäre mit den Zielen und dem System der Dublin-III-VO unvereinbar (vgl. EuGH, Urteile vom 21.12. 2011 - C-411/10 u.a. (N.S. u.a.) – juris Rn. 81 ff., sowie vom 19. 03. 2019 - C-163/17 (Jawo) – juris Rn. 84 und 91 f.).
Nach der Rechtsprechung des EuGH ist es für die Anwendung von Art. 4 GRCh unerheblich, ob es zum Zeitpunkt der Überstellung, während des Asylverfahrens oder nach dessen Abschluss dazu kommt, dass die betreffende Person aufgrund ihrer Überstellung an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung einem ernsthaften Risiko ausgesetzt wäre, eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung zu erfahren. Denn das Gemeinsame Europäische Asylsystem und der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens beruhen auf der Zusicherung, dass die Anwendung dieses Systems in keinem Stadium und in keiner Weise zu einem ernsthaften Risiko von Verstößen gegen Art. 4 der Charta führt. In dieser Hinsicht wäre es widersprüchlich, wenn das Vorliegen eines solchen Risikos im Stadium des Asylverfahrens eine Überstellung verhindern würde, während dasselbe Risiko dann geduldet würde, wenn dieses Verfahren durch die Zuerkennung von internationalem Schutz zum Abschluss kommt (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 (Jawo) a.a.O. Rn.88 f.). Das mit dem vorliegend gegen eine Überstellungsentscheidung gerichteten Rechtsbehelf befasste Gericht muss auf der Grundlage objektiver, zuverlässiger, genauer und gebührend aktualisierter Angaben und im Hinblick auf den durch das Unionsrecht gewährleisteten Schutzstandard der Grundrechte würdigen, ob entweder systemische oder allgemeine oder aber bestimmte Personengruppen betreffende Schwachstellen vorliegen (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 (Jawo) a.a.O. Rn.90).
Ein Verstoß gegen Art. 4 GrCh liegt nur dann vor, wenn die drohende Behandlung eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreicht, die von sämtlichen Umständen des Einzelfalles abhängt. Diese besonders hohe Schwelle ist grundsätzlich erst dann erreicht, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaates zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden ("Fehlen von Bett, Brot, Seife") und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.Diese Schwelle ist daher selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern diese nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 (Jawo) a.a.O. Rn.92; VGH Baden-Württemberg, Urteil v. 29. 07. 2019 – A 4 S 749/19 –, juris Rn.40).
Zu der Frage, ob eine nach diesem Maßstab zu beurteilende Notlage in zeitlicher Hinsicht über eine gewisse Dauer fortbestehen muss, um eine die Erheblichkeitsschwelle überschreitende Verletzung von Art. 4 GRCh darzustellen, ergibt sich aus der EuGH-Rechtsprechung, dass auch ein vorübergehender Zeitraum, in dem sich die zu überstellende Person in einer solchen extremen materiellen Notlage befindet, eine solche erhebliche Grundrechtsverletzung begründen kann. Zur Vorgängerregelung des Art. 17 der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU v. 26.06.2013), Art. 13 RL 2003/9/EG (Allgemeine Bestimmungen zu materiellen Aufnahmebedingungen und zur Gesundheitsversorgung), hat der EuGH in seinem Urteil vom 27.02.2014 (Rs. C-79/13, juris Rn.35) ausgeführt:
„Im Übrigen stehen die allgemeine Systematik und der Zweck der Richtlinie 2003/9 wie auch die Wahrung der Grundrechte, insbesondere das Gebot nach Art. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die Menschenwürde zu achten und zu schützen, dem entgegen, dass einem Asylbewerber, und sei es auch nur vorübergehend nach Einreichung eines Asylantrags, der mit den in dieser Richtlinie festgelegten Mindestnormen verbundene Schutz entzogen wird.“
Zu Einschränkungen oder dem Entzug der im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen nach Art. 20 AufnahmeRL hat der EuGH nunmehr entschieden, dass ein auch nur zeitweiliger Entzug von sämtlichen im Rahmen der Aufnahme gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung mit der Verpflichtung des Art. 20 Abs. 5 S. 3 AufnahmeRL, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar wäre, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen (EuGH, Urteil v. 12.11.2019 – C-233/18 – (Haqbin) juris Rn. 47).
Der Umstand, dass im ersuchenden Mitgliedstaat höhere Sozialleistungen gewährt werden oder dort die Lebensverhältnisse günstiger sind als im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat, reicht dagegen nicht aus, um einen Verstoß gegen Art. 4 GrCh zu begründen. Gleiches gilt für die Tatsache, dass Personen, die internationalen Schutz beantragt oder zuerkannt bekommen haben, im für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Mitgliedstaat anders als Einheimische in der Regel nicht über familiäre Verbindungen verfügen. Auch große Armut, oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse reichen allein nicht aus, diese Erheblichkeitsschwelle als überschritten anzusehen. Für anerkannt Schutzberechtigte gilt dies auch hinsichtlich mangelnder Integrationsangebote (Vgl. EuGH, Urteile v. 19. 03. 2019 - C-163/17(Jawo) – a.a.O. Rn.94 ff.; sowie - C-297/17 u.a. (Ibrahim u.a.) - juris Rn. 94).
Gemessen an den vorstehend dargelegten rechtlichen Maßstäben liegen die Voraussetzungen des Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 VO 604/2013 für Dublin-Rückkehrer, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt sowie eine Unterkunft zugewiesen bekommen haben, jedenfalls zum Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 AsylG) vor (so im Ergebnis auch VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 - 10 K 2221/18.A – juris; VG Hannover, Urteil v. 30.01.2018 – 10 A 7134/17 – juris und Urteil v. 03.04.2020 – 11 A 11046/17 – n.v.; VG Braunschweig, Urteil v. 07.05.2020 - 3 A 110/20 – n.v.; a.A. VG Trier, Urteil v. 28.02.2020 – 7 K 1250/19.TR – juris; VG Würzburg, Urteil v. 03.04.2020 – W 10 K 19.30677 – juris; VG Würzburg, Gerichtsbescheid v. 12. 05. 2020 – W 8 K 20.50144 –juris; VG Gelsenkirchen, Urteil v. 26. 02. 2020 – 1a K 887/18.A –, juris). Es bestehen auf Grundlage der dem Gericht zur Verfügung stehenden aktuellen Erkenntnismittel hinreichend konkrete Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger im Falle seiner Überstellung nach Italien dort aufgrund einer systemischen Schwachstelle des dortigen Aufnahmesystems mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne der Art.4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt sein wird.
Das erkennende Gericht hält insoweit nicht an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, nach der im Anschluss an die Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 04.04.2018 – 10 LB 96/17 –; Urteil v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 –; Beschluss v. 06.08.2018 – 10 LA 320/18 – alle juris) Mängel und Defizite im Bereich der Unterkunft sowie der medizinischen und materiellen Versorgung für Asylbewerber in Italien grundsätzlich für alleinstehende Personen im erwerbsfähigen Alter weder für sich genommen noch insgesamt als so gravierend zu bewerten waren, dass grundlegende Schwachstellen im Aufnahmesystem festgestellt werden konnten.
Dabei ist zunächst davon auszugehen, dass Italien derzeit über ausreichend Unterkunftsplätze verfügt. Zum 31.12.2018 waren insgesamt 173.603 Asylbewerber und anerkannt Schutzberechtigte im gesamten italienischen Aufnahmesystem untergebracht (AIDA country report italy, update 2018, v. 09.04.2019, S. 93). Darunter waren 25.657 in Unterkünften des SIPROIMI (ehemals SPRAR) untergebracht, in welchen seit Inkrafttreten des Gesetzesdekrets 113/2018 (sog. „Salvini-Dekret“) seit Oktober 2018 nur noch anerkannt Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige aufgenommen werden (SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.16). Ende 2018 waren in CARA-Unterkünften 8.990 Personen untergebracht und in den CAS-Zentren 138.503 Personen (https://www.lavoce.info/archives/57325/ecco-le-cifre-dellaccoglienza-in-italia/, abgerufen am 08.05.2020). Auch Antragsteller, die im Rahmen der Dublin-III-VO nach Italien überstellt werden, werden seit Oktober 2018 nicht mehr in den SIPROIMI-Unterkünften des Zweitaufnahmesystems (ehemals SPRAR, vgl. dazu OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018, a.a.O. Rn.38) aufgenommen, sondern können, solange sie sich im Asylverfahren befinden, nur noch in den Aufnahmezentren der sog. ersten Linie, centri governativi di prima accoglienza (CARA) und den strutture temporanee (CAS) untergebracht werden (SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.35).
Ende des Jahres 2019 waren nach der Veröffentlichung des italienischen Innenministeriums noch 95.020 Personen in (Erst- und Zweit-) Aufnahmezentren untergebracht; 69.971 Personen in Erst- und Übergangsstrukturen (CARA / CAS) und 24.568 in SIPROIMI-Unterkünften sowie 481 in sog. „hot spots (CPSA)“ (http://www.libertaciviliimmigrazione.dlci.interno.gov.it/sites/default/files/allegati/cruscotto_statistico_giornaliero_30-11-2019.pdf, zuletzt abgerufen am 02.06.2020). Für den Beginn des Jahres 2019 ist demgegenüber von 173.603 Plätzen im italienischen Aufnahmesystem auszugehen (AIDA country report, update v. 09.04.2019, S.93). Dies bedeutet einen Anstieg von verfügbaren Plätzen von 64% gegenüber dem Beginn des Jahres 2016 (105.248 Plätze, vgl. SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S.22), während die Zahl der untergebrachten Personen insgesamt zurückgegangen ist. Die meisten dieser neuen Unterbringungskapazitäten wurden durch die Eröffnung so genannter CAS-Zentren (centri di accoglienza straordinaria) geschaffen, mit einer Kapazität von 138.503 Plätzen am 31.12. 2018 (AIDA, country report 09.04.2019, S.93). Zwei große CARA-Zentren in Venedig und Rom wurden Anfang 2019 geschlossen (SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.36 m.w.N.). Die Bedingungen in den CAS-Zentren haben sich nach dem aktuellen Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe weiter verschlechtert (SFH, Reception conditions in Italy, Januar 2020, S.37 f.). Hinsichtlich der in der Vergangenheit positiv hervorgehobenen Beispiele von CAS, wie in Trieste, welche den Standard der ehemaligen SPRAR erreichten (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018 -10 LB 92/17 – juris Rn.56), ist laut AIDA (country report, update 09.04.2019 S. 100) unter den geltenden, mit dem „Salvini-Dekret“ veröffentlichten neuen Ausschreibungsmodalitäten mit dem Verschwinden solcher Vorzeigeprojekte zu rechnen (zum Rückzug einiger Organisationen aus der Beteiligung an den CAS-Projekten vgl. SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.40 f.). Der UNHCR warnt davor, dass die Änderung der Ausschreibungsbedingungen infolge des Dekrets 142 („capitolato“ vom 21.11.2018) die Rolle der großen kollektiven Einrichtungen wiederherstellt, in welchen die Erfahrung zeige, dass unter anderem Überdimensionierung, abgelegene Standorte und strukturelle Bedingungen zu schlimmen Mängeln in der Verwaltung solcher Einrichtungen geführt hätten (http://www.unhcr.it/wp-content/uploads/2018/10/Nota-tecnica-su-Decreto-legge-FINAL_REV_DRAFT1_V2.pdf, abgerufen am 07.05.2020; vgl. auch AIDA, country report Italy v. 09.04.2020, S.15).
Unterstellt, dass die meisten Asylantragsteller in CAS-Zentren untergebracht werden, deren Niveau in Bezug auf Qualität der Unterbringung, Hygiene und Sicherheit sehr niedrig ist (AIDA country report, 09.04.2019, S. 97; SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.38 m.w.N.; vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018 a.a.O. Rn.56), kommt es für die vorliegende Entscheidung nicht darauf an, ob die Unterkunftssituation in diesen Zentren für Asylantragsteller wie den Kläger, die in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben und dort einer Unterkunft zugewiesen wurden, zu derart gravierenden Mängeln nach oben dargelegtem Maßstab führt, dass von einem Verstoß der Aufnahmebedingungen gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK auszugehen ist. Denn selbst dieses Minimum an Aufnahmebedingungen (Unterkunft, Nahrung, teilweise Taschengeld i.H.v. etwa 2,50 € pro Tag) wird Antragstellern wie dem Kläger, die mit ihrer Ausreise aus Italien ihre Unterkunft verlassen haben, mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entzogen worden sein. Diese – gesetzlich im Aufnahmesystem Italiens vorgesehene – Praxis ist nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH nicht mit Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie vereinbar und steht dem Gebot des Art. 4 i.V.m. Art. 1 GRCh entgegen.
Soweit das Gericht mit dem OVG Lüneburg (vgl. Urteil v. 09.04.2018 – 10 LB 92/17 – juris Rn.59) bislang davon ausging, dass der in Art. 23 des Dekrets 142/2015 vorgenommene vollständige Entzug des Rechts auf Unterbringung, wenn der Asylantragsteller die ihm zugewiesene Einrichtung ohne Benachrichtigung der Präfektur verlassen hat oder dort gar nicht einzieht, im Einklang mit Art. 20 Abs. 1 i.V.m. Art. 18 der Aufnahmerichtlinie (RL 2013/33/EU) steht, kann dem nach der Entscheidung des EuGH vom 12.11.2019 (Rs. C-233/18 (Haqbin), juris) nicht mehr gefolgt werden.
Art. 23 des Dekrets 142/2015 sieht vor, dass der Präfekt der Provinz, in dem sich die Aufnahmeeinrichtung befindet, gegenüber einem Asylantragsteller, der das Aufnahmezentrum ohne vorherige Benachrichtigung der Präfektur (Amt der zuständigen Regionalregierung) verlässt oder der die ihm zugewiesene Unterkunft gar nicht erst bezieht, die Aufhebung der Aufnahmemaßnahmen anordnet. Der Artikel 23 bezieht sich auf die CARA (Art. 9 des Dekrets 142/2015) und die CAS, (Art. 11). Auch für die SIPROIMI, in denen nunmehr nur noch anerkannt Schutzberechtigte und unbegleitete Minderjährige aufgenommen werden, gelten nach Art. 40 der SIPROIMI-Richtlinien (Anhang A Dekret DM 9259 v. 18.11.2018) entsprechende Regelungen (siehe SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.51 f.; SFH, Auskunftsbeantwortung an VG Berlin vom 16.12.2019).
Verlässt eine Person das Zentrum für mehr als 72 Stunden, ohne sich bei der Verwaltung des Zentrums abzumelden, wird davon ausgegangen, dass sie ihr Recht auf Unterbringung aufgegeben hat und ihr Name wird durch den Betreiber der Einrichtung der zuständigen Präfektur gemeldet (Die Obergrenze von 72 Stunden zulässiger Abwesenheit wird von den Präfekturen in den Vorschriften über die Verwaltung des CAS festgelegt, siehe SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.42, Fn.151 mit Nachweisen zu Vereinbarungen mehrerer Präfekturen). Daraufhin entzieht der Präfekt dem Asylsuchenden das Recht auf Unterbringung, indem er dessen Namen, ohne ihm dies mitzuteilen, auf eine bei der Präfektur geführte Liste setzt (VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris Rn. 83 nach Vernehmung der Sachverständigen Romer am 13.11.2019). Mit dem Entzug der Unterkunft verliert der Asylsuchende auch den Zugang zu allen weiteren in der Unterkunft erbrachten staatlichen Leistungen (SFH, Aktuelle Situation für Asylsuchende in Italien, 08.05.2019, S. 14).
Das Gesetz sieht keine Bewertung der Armutsrisiken beim Entzug der Aufnahme vor (AIDA country report update 09.04.2019, S.87). Dieses Verfahren wird zur Überzeugung des Gerichts nicht nur im Einzelfall, sondern regelhaft durchgeführt, wenn ein Asylsuchender seine Unterkunft unentschuldigt verlässt oder dort nicht erscheint. Eine Studie, die auf Angaben von 58 der 100 italienischen Präfekturen aus den Jahren 2016 und 2017 beruht, ergab, dass in diesem Zeitraum allein in den an der Studie beteiligten Präfekturen knapp 40.000 Asylsuchenden das Recht auf Unterkunft entzogen wurde (AIDA country report update 09.04.2019, S.86 f.). Zwar kann der Präfekt die Wiederaufnahme von Asylsuchenden in die Unterkunft verfügen, wenn diese sich auf höhere Gewalt, unvorhersehbare Umstände oder schwerwiegende persönliche Gründe berufen (vgl. AIDA, country report a.a.O., SFH, reception conditions Januar 2020, S. 42). Jedoch dauern sowohl das behördliche als auch im Falle einer abschlägigen Entscheidung des Präfekten das gerichtliche Verfahren in Abhängigkeit von der jeweiligen Region mehrere Monate (VG Minden, Urteil v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris Rn. 83 nach Vernehmung der Sachverständigen Romer am 13.11.2019; bezüglich der erneuten Aufnahme Anerkannt Schutzberechtigter in SIPROIMI-Projekte: SFH, Auskunftsbeantwortung an VG Berlin vom 16.12.2019). In dieser Zeit hat der Asylsuchende keinen Zugang zu staatlicher Unterbringung (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018, a.a.O. Rn.59). Geldleistungen für Asylsuchende, die nicht in einer staatlichen Unterkunft untergebracht sind, sind im italienischen Recht nicht vorgesehen (AIDA country report update 09.04.2019, S.86).
Auch aufgrund von wiederholten oder schwerwiegenden Verstößen gegen die Regeln der Aufnahmezentren, einschließlich der vorsätzlichen Beschädigung von beweglichem oder unbeweglichem Vermögen oder schwerwiegenden Gewalttätigkeiten können nach Art. 23 Dekret 142/ bzw. entsprechend nach Art. 40 der SIPROIMI-Richtlinien Unterkunft und damit einhergehend gegebenenfalls finanzielle Leistungen (Taschengeld) vollständig entzogen werden. AIDA berichtet darüber, dass auch im Jahr 2018 verschiedene Präfekturen die Aufnahmebedingungen aufgrund von Verstößen gegen die Hausordnung ohne angemessene Begründung oder Verhältnismäßigkeit zurückzogen, darunter in mehreren Fällen gegen Asylsuchende, die sich an Protesten gegen die Bedingungen in Aufnahmezentren beteiligten (country report Italy v. 09.04.2019, S.15). Der Verwaltungsgerichtshof der Toskana hat den EuGH im September 2018 zur Auslegung von Art. 20 Abs. 4 Aufnahmerichtlinie hinsichtlich Verstößen gegen allgemeine Regeln des innerstaatlichen Rechtssystems ohne Erwähnung in der konkreten Hausordnung angerufen (AIDA, country report Italy v. 09.04.2019, S.15).
Dieser vollständige Entzug bzw. das Vorenthalten bei Rücküberstellung der materiellen Leistungen zur Befriedigung der elementaren Bedürfnisse Unterkunft und Nahrung ist nach der aktuellen Rechtsprechung des EuGH mit der in Art. 1 GRCh verbürgten Menschenwürde unvereinbar und führt somit zu einem beachtlichen systemischen Mangel im italienischen Aufnahmesystem.
In dem Verfahren in der Rs. Haqbin hatte der EuGH über eine Sanktion zu entscheiden, mit der aus einem Grund im Sinne des Art. 20 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie ein minderjähriger Asylantragsteller für die Dauer von 15 Tagen vom Anspruch auf materielle Hilfe in einer Aufnahmestruktur ausgeschlossen worden war. In seinem Urteil vom 12.11.2019 führte der EuGH auf die Vorlagefrage des belgischen Gerichts zur Auslegung des Art. 20 Abs. 5 der Aufnahmerichtlinie aus:
„Was speziell das Erfordernis anbelangt, dass die Würde des Lebensstandards gewahrt bleibt, geht aus dem 35. Erwägungsgrund der Richtlinie 2013/33 hervor, dass diese darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung der Menschenwürde zu gewährleisten und die Anwendung u. a. von Art. 1 der Charta der Grundrechte zu fördern, und entsprechend umgesetzt werden muss. Insoweit verlangt die Achtung der Menschenwürde im Sinne dieses Artikels, dass der Betroffene nicht in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie etwa eine Unterkunft zu finden, sich zu ernähren, zu kleiden und zu waschen, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. März 2019, Jawo, C-163/17, EU:C:2019:218, Rn. 92 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Die Verhängung einer Sanktion, mit der allein aus einem in Art. 20 Abs. 4 der Richtlinie 2013/33 genannten Grund sämtliche im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen oder die in diesem Rahmen gewährten Leistungen in Bezug auf Unterkunft, Verpflegung und Kleidung entzogen werden, und sei es nur zeitweilig, wäre mit der Verpflichtung gemäß Art. 20 Abs. 5 Satz 3 dieser Richtlinie, einen würdigen Lebensstandard für den Antragsteller zu gewährleisten, unvereinbar, weil sie ihm die Möglichkeit nähme, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie sie in der vorstehenden Randnummer näher dargelegt wurden.
Eine solche Sanktion würde zudem das in Art. 20 Abs. 5 Satz 2 der Richtlinie 2013/33 genannte Erfordernis der Verhältnismäßigkeit verkennen, da selbst die härtesten Sanktionen zur strafrechtlichen Ahndung der von Art. 20 Abs. 4 dieser Richtlinie erfassten Verstöße oder Verhaltensweisen dem Antragsteller nicht die Möglichkeit nehmen können, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.“
(EuGH, Urteil v. 12.11.2019 – C-233/18 – juris Rn.46 ff.).
Damit greift der EuGH bei der Auslegung des Art. 20 Abs. 5 S. 3 der Aufnahmerichtlinie ausdrücklich auf die oben für die Feststellung einer Verletzung von Art. 4 GRCh aufgestellten Grundsätze aus dem Urteil in der Rs. Jawo (EuGH, Urteil v. 19.03.2019 – C-163/17 – juris) zurück. Erwägungsgrund 35 der Aufnahmerichtlinie fordert von den Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie, die Anwendung der Artikel 1, 4, 6, 7, 18, 21, 24 und 47 der Charta zu fördern.
Zwar sieht Art. 20 Abs. 1 a) Aufnahmerichtlinie ausdrücklich vor, dass ein Mitgliedstaat die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in begründeten Ausnahmefällen einschränken oder entziehen kann, wenn ein Antragsteller den von der zuständigen Behörde bestimmten Aufenthaltsort verlässt, ohne diese davon zu unterrichten oder erforderlichenfalls eine Genehmigung erhalten zu haben. Sofern ein Entzug der durch Art. 18 gewährten materiellen Sachleistungen allerdings dazu führt, dass die genannten elementarsten Bedürfnisse nicht mehr befriedigt werden können, liegt darin eine Verletzung des dem Erwägungsgrund 35 der Richtlinie zugrundeliegenden Art. 4 GRCh.
Soweit das erkennende Gericht bisher davon ausgegangen ist, dass Antragsteller auch auf Obdachloseneinrichtungen außerhalb des auf Grundlage der Aufnahmerichtline eingerichteten staatlichen Unterbringungssystems verwiesen werden können (vgl. OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2018, a.a.O. Rn. 51), ohne dass hierdurch Mängel festzustellen wären, die für Antragsteller im italienischen Aufnahmesystem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRCh bedeuteten, sind auch zu dieser Frage die Ausführungen des EuGH eindeutig:
„Dies wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass, wie das vorlegende Gericht ausführt, einem Antragsteller, gegen den die Sanktion des Ausschlusses von einem belgischen Unterbringungszentrum verhängt wird, zu diesem Zeitpunkt eine Liste privater Obdachlosenheime ausgehändigt wird, die ihn aufnehmen könnten. Die zuständigen Behörden eines Mitgliedstaats dürfen sich nämlich nicht darauf beschränken, einem Antragsteller, der infolge einer gegen ihn verhängten Sanktion von einem Unterbringungszentrum ausgeschlossen wird, eine Liste der Aufnahmestrukturen auszuhändigen, an die er sich wenden könnte, um dort im Rahmen der Aufnahme gewährte materielle Leistungen zu empfangen, die den ihm entzogenen gleichwertig sind.
Ganz im Gegenteil bedeutet zum einen die in Art. 20 Abs. 5 der Richtlinie 2013/33 vorgesehene Pflicht, einen würdigen Lebensstandard zu gewährleisten, wie sich bereits aus der Verwendung des Verbs „gewährleisten“ ergibt, dass die Mitgliedstaaten einen solchen Lebensstandard dauerhaft und ohne Unterbrechung sicherstellen müssen. Zum anderen müssen die Behörden der Mitgliedstaaten den zur Gewährleistung eines solchen Lebensstandards geeigneten Zugang zu den im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen in geordneter Weise und eigener Verantwortlichkeit anbieten, auch wenn sie unter Umständen auf natürliche oder juristische Personen des Privatrechts zurückgreifen, damit diese Pflicht unter ihrer Hoheit erfüllt wird.“ (EuGH, Urteil v. 12.11.2019, a.a.O. Rn.49 f.)
Dass der Antragsteller im dem EuGH-Urteil zugrundeliegenden Fall ein unbegleiteter Minderjähriger war, dem nicht aufgrund von Art. 20 Abs. 1 a) sondern aufgrund von Art. 20 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie nach einem groben Verstoß gegen die Vorschriften des Unterbringungszentrums bzw. nach gewalttätigem Verhalten die Unterkunft vorübergehend entzogen worden war, steht einer Übertragbarkeit der zitierten Rechtsprechung auf den vollständigen Entzug der Aufnahmebedingungen in Italien nach Verlassen oder Nichtbeziehen der Unterkunft nicht entgegen. Denn erstens hat der EuGH klargestellt, dass seine Ausführungen aufgrund der Minderjährigkeit und der daraus folgenden besonderen Schutzbedürftigkeit des dortigen Klägers über die oben zitierten allgemeinen Erwägungen hinaus zusätzlich gelten (EuGH, Urteil v. 12.11.2019 a.a.O. Rn.55). Und zweitens war die Auslegung des Art. 20 Abs. 4 Aufnahmerichtlinie gerade deshalb Gegenstand der Vorlage an den Gerichtshof, weil das vorlegende belgische Gericht Zweifel hatte, ob Art. 20 Abs. 1 bis 3 der Aufnahmerichtlinie im Hinblick auf die Gründe, die eine Einschränkung oder einen Entzug der materiellen Aufnahmeleistungen rechtfertigen, abschließend sei oder ob diese Maßnahmen auch als Sanktionen nach Art. 20 Abs. 4 verhängt werden können. Dass sich Art. 20 Abs. 5 S. 3 auf Art. 20 Abs. 1 bezieht, ist im Gegensatz zu Abs. 4 aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts offensichtlich. Davon geht auch der EuGH aus (EuGH, Urteil v. 12.11.2019, a.a.O. Rn.44).
Soweit das erkennende Gericht mit der obergerichtlichen Rechtsprechung darauf abgestellt hat, es komme für die Feststellung erheblicher systemischer Mängel insbesondere darauf an, ob der italienische Staat auf die Situation der Asylbewerber nicht mit Gleichgültigkeit, sondern mit effektiven Maßnahmen reagiere, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar, dass die nach der dargelegten Rechtsprechung einer durch Art. 4 GRCh geprägten Vorgabe der Aufnahmerichtlinie widersprechende Rechtslage verändert oder die entsprechende Praxis außer Vollzug gesetzt worden wäre. Dublin-Rückkehrer stellen mittlerweile auch keinen „Sonderfall im italienischen Asylsystem“ mehr dar (so mit Bezugnahme auf den Bericht der SFH aus August 2016 OVG Lüneburg, Urteil v. 09.04.2019, a.a.O. Rn.54). Im Jahr 2018 verzeichnete Italien einen Anstieg der eingehenden (Wieder-)Aufnahmeersuchen um 57,4%. Es war der EU-Mitgliedstaat mit den meisten eingehenden Dublin-Verfahren-Ersuchen (41.911) und akzeptierte 34.786 dieser Ersuchen (83%; https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=Dublin_statistics_on_countries_responsible_for_asylum_application#Dublin_requests, zuletzt abgerufen am 02.06.2020). In den ersten drei Monaten des Jahres 2019 war die Zahl der im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien überstellten Asylantragsteller höher als die Zahl der auf dem Seeweg eingetroffenen Asylsuchenden (SFH, reception conditions Januar 2020, S. 21). Die Zahl der Seeankünfte in Italien werden vom italienischen Innenministerium für das Jahr 2018 auf 23.126 und im Jahr 2019 bis zum 15.12 auf 11.097 beziffert (www.libertaciviliimmigrazione.dlci.interno.gov.it/sites/default/files/allegati/cruscotto_statistico_giornaliero_15-12-2019.pdf, zuletzt abgerufen am 02.06.2020).
Eine belastbare individuelle Zusicherung der italienischen Behörden, dass dem Kläger
nach seiner Überstellung nach Italien eine Unterkunft zur Verfügung gestellt
wird, liegt nicht vor. Zu dem „circular letter“ der italienischen Behörden aus Januar 2019 schließt sich das erkennende Gericht folgenden Ausführungen des VG Minden (Urteil v. 13.11.2019 – 10 K 2221/18.A – juris Rn. 157) an:
„Das Rundschreiben 1/2019 ("circular letter n. 1/2019") der italienischen Dublin-Einheit stellt keine solche Zusicherung dar. In diesem Rundschreiben teilt die italienische Dublin-Einheit mit, dass in den nunmehr in SIPROIMI-Einrichtungen umbenannten ehemaligen SPRAR-Einrichtungen fortan nur noch Personen, die internationalen Schutz genießen, unbegleitete Minderjährige und Inhaber "neuer" Aufenthaltstitel humanitärer Art untergebracht werden. Im Anschluss hieran heißt es: "Folglich werden alle Antragsteller, die dem Dublin-Verfahren unterliegen, in anderen Zentren untergebracht, die im Gesetzesdekret Nr. 142/2015 genannt sind. Unter Berücksichtigung der Bemühungen der italienischen Regierung, die Migrationsströme deutlich zu verringern, sind diese Zentren für die Unterbringung aller möglichen Begünstigten geeignet, so dass der Schutz der Grundrechte, insbesondere die Einheit der Familie und der Schutz von Minderjährigen, sichergestellt sind." Hiermit wird lediglich erklärt, dass die Unterbringung von Familien mit Kindern in SIPROIMI-Einrichtungen in Abkehr von früheren Zusicherungen nicht mehr gewährleistet ist. Eine Zusicherung der Unterbringung sämtlicher nach Italien überstellter Dublin-Rückkehrer, insbesondere solcher, denen das Recht auf Unterbringung entzogen wurde, erfolgt nicht. Dies ergibt sich schon daraus, dass nach dem Rundschreiben eine Unterbringung nach den Regelungen des Dekrets 142/2015 erfolgen soll, das u.a. auch die Vorschriften über den Entzug des Rechts auf Unterbringung enthält.“
Für den vorliegenden Fall ergibt sich nichts Anderes aus dem Umstand, dass der Kläger einen Aufenthaltstitel „motivi umanitari“ (Aufenthalt aus humanitären Gründen) erhalten hat. Denn dieser Aufenthaltstitel des Klägers ist am 05.04.2018 abgelaufen (Bl. 53 Verwaltungsakte). Nach der Abschaffung dieser Art von Aufenthaltstiteln im Gesetzesdekret Nr. 113 aus Oktober 2018 („Salvini-Dekret“) werden abgelaufene Titel nicht erneuert und können auch durch rechtzeitigen Antrag nicht verlängert werden. Bei rechtzeitiger Antragstellung und Erfüllung bestimmter Voraussetzungen können bzw. konnten sie in einen anderen Titel, z.B. Aufenthaltstitel für Angestellte, Familienzusammenführung oder „casi speciali“ umgewandelt werden (dazu AIDA country report Italy v. 09.04.2019, S. 134 f.; SFH, reception conditions in Italy, Januar 2020, S.48; BFA, Länderinformationsblatt v. 09.10.2019, S.22). Dies ist für den Kläger jedoch nicht mehr möglich, da sein Titel vor dem 05.10.2018 ausgestellt wurde und bereits über zwei Jahre abgelaufen ist.
Da es somit wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Aufnahmesystem in Italien für Asylantragsteller wie den Kläger, die bereits einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben und ihre staatliche Unterkunft verlassen haben, eine systemische Schwachstelle aufweist, welche die Gefahr einer entwürdigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh mit sich bringen, ist Deutschland nach Art. 3 Abs. 2 UAbs.2 Dublin-III-VO für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz hier zuständig. Denn ein anderer Staat, der nach den Kriterien des Kapitel III der Dublin-III-VO zuständig sein könnte, ist vorliegend nicht ersichtlich.
Die unter Ziffer 2 des angefochtenen Bescheides getroffene Feststellung des Fehlens von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG ist ebenfalls aufzuheben, da sie - wie sich aus den vorstehenden Ausführungen ergibt - inhaltlich nicht zutrifft.
Ist die Beklagte für die inhaltliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig, ist auch die Abschiebungsanordnung in Ziff. 3) des Bescheids rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Die Abschiebungsanordnung hat sich insbesondere nicht dadurch erledigt, dass der Kläger laut seiner Aussage vor der Bundespolizei am 15.02.2018 zwischenzeitlich nach der mündlichen Verhandlung kurzfristig in Italien aufgehalten hat. Die Anwendung der EuGH-Rechtsprechung zur Erforderlichkeit eines erneuten Dublin-Verfahrens in Fällen, in denen die Abschiebungsanordnung vollzogen wurde und der Betreffende illegal wieder in den unzuständigen Mitgliedstaat einreist (EuGH, Urteil v. 25. 01. 2018 – C-360/16 –, Rn. 41 ff., juris), setzt voraus, dass eine Überstellung erfolgt ist. Im streng formalisierten Dublin-System führen freiwillige Ausreisen jedoch nur dann zur Erledigung der Abschiebungsanordnung, wenn sie offiziell in Abstimmung mit der zuständigen Ausländerbehörde und den zuständigen Behörden des Zielstaates erfolgen und im Ergebnis einer Überstellung gleichkommen (vgl. ausführlich VG Trier, Urteil v. 28.02.2020 – 7 K 1250/19 – juris Rn. 75 ff.). Letzteres ist vorliegend nicht der Fall.
Die Voraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylG liegen nicht (mehr) vor. Die Befristung des in Ziff. 4) verfügten Einreise- und Aufenthaltsverbotes ist damit gegenstandslos und wird zur Klarstellung ebenfalls aufgehoben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.