Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 23.01.2018, Az.: 10 A 6779/17
Elfenbeinküste
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 23.01.2018
- Aktenzeichen
- 10 A 6779/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 73989
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- nachfolgend
- OVG - 11.06.2018 - AZ: 10 LB 150/18
- BVerwG - 12.09.2018 - AZ: 1 B 61/18
Tenor:
Der Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2017 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens und begehrt die Prüfung seines Asylbegehrens durch die Beklagte im nationalen Verfahren.
Der Kläger ist nach eigenen Angaben ivorischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls eigenen Angaben zufolge am 29. März 2017 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 7. April 2017 einen Asylantrag. In der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten (im Folgenden: Bundesamt) gab der Kläger an, sein Heimatland im Jahr 2014 verlassen zu haben und u. a. über Italien und die Schweiz in die Bundesrepublik gereist zu sein.
Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Klägers im EURODAC-System ergab, dass er am 7. November 2016 in Italien erkennungsdienstlich behandelt worden war und am 8. März 2017 in der Schweiz einen Antrag auf Asyl gestellt hatte. Das Bundesamt richtete daher unter dem 15. Mai 2017 ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien, auf das die zuständige italienische Behörde in der Folgezeit nicht reagierte.
Mit Bescheid vom 18. Juli 2017, der dem Kläger am 20. Juli 2017 zugestellt wurde, lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab, stellte fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorlägen, befristete das gesetzliche Wiedereinreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate und ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an.
Der Kläger hat am 26. Juli 2017 Klage erhoben und gleichzeitig um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 8. August 2017 entsprochen (10 B 6782/17).
Zur Begründung seiner Klage macht der Kläger im Wesentlichen geltend, dass ihm bei einer Zurückschiebung nach Italien aufgrund systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 18. Juli 2017 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie beruft sich auf die Gründe ihres Bescheides.
Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
Das Gericht entscheidet durch die Einzelrichterin, der die Kammer den Rechtsstreit gemäß § 76 Abs. 1 AsylG mit Beschluss vom 22. August 2017 übertragen hat und im erklärten Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
I. Die Klage ist zulässig. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 27 a AsylG abzulehnen, eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.10.2015 – BVerwG 1 C 32.14 –, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 6.11.2014 – 13 LA 66/14 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A – juris; BayVGH, Beschluss vom 2.2.2015 – 13 a ZB 14.50068 –, juris).
II. Die Klage ist auch begründet. Der Bescheid der Beklagten ist im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 2. Halbsatz AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.
Die Beklagte stützt ihre Entscheidungen auf § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG und § 34 a AsylG. Nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht erfüllt. Da der Kläger seinen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III-VO – die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Danach ist zwar zunächst Italien gemäß Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7 bzw. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.
Die Beklagte kann sich auf eine Zuständigkeit Italiens jedoch nicht berufen, weil der angeordneten Abschiebung des Klägers dorthin dauerhafte Hindernisse entgegenstehen (1.) und die Beklagte das Verfahren daher in eigener Zuständigkeit durchführen muss (2.).
1. Es steht nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Kläger dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich brächten, und die Beklagte die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Klägers wirksam auszuschließen.
Ein systemischer Mangel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 14.11.2013 – Rs. C-4/11, Puid –, NVwZ 2014, 129 Rn. 30) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel –) ist eine Systemstruktur oder eine fehlende Struktur im staatlichen Asylverfahren, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dazu führt, dass Fälle, die diese Systemstelle durchlaufen, Rechtsverletzungen verursachen (vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107). Das ist etwa dann anzunehmen, wenn die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren selbst an grundlegenden Mängeln leidet oder dass der Mitgliedsstaat während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z. B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris). Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – a. a. O. –).
Nach diesem Maßstab und der gefestigten Rechtsprechung der Kammer (vgl. bspw. Urteile vom 4.2.2015 – 10 A 5852/15 –; vom 7.9.2015 – 10 A 13369/14 –; vom 1.2.2017 – 10 A 5553/16 –; Beschluss vom 5.10.2017 – 10 B 8143/17 –) ist von einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementarer Grundbedürfnisse des Menschen und damit vom Vorliegen systemischer Mängel des italienischen Asylsystems auszugehen. Es gibt – nach wie vor – belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von erheblichen Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer in Italien. Es ist nicht auszuschließen, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 –, juris; EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 106 ff.).
Die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dessen Urteil vom 4. November 2014 – a. a. O. –, dass die Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien „für sich genommen kein Hindernis für sämtliche Abschiebungen von Asylsuchenden in dieses Land darstelle“, ist angesichts der zugleich getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht dahingehend zu verstehen, dass dort keine systemischen Mängel im Sinne defizitärer Strukturen vorlägen, sondern dass im Gegenteil dem Grunde nach systemische Mängel bestehen, die auch geeignet sind, bei unbeeinflusstem Geschehensablauf zu einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK zu führen. Denn der Gerichtshof erachtet eine Überstellung (nur dann) als möglich, wenn eine Rechtsverletzung aufgrund dieser systemischen Mängel durch individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden ausgeschlossen ist. Die Garantieerklärung ist gerade die Einzelfallreaktion auf das systemische Defizit, das zwar ein Indikator, aber – wie vorstehend ausgeführt – keine hinreichende Bedingung für eine drohende Rechtsverletzung ist.
Deshalb kann aus Sicht der Kammer aus den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Tarakhel nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist, wenn Personen nach Italien rücküberstellt werden, die nicht zu den Gruppen besonders schutzbedürftiger Personen gehören. Denn die Verhältnisse, in die solche Personen überstellt werden, sind nicht besser als bei schutzbedürftigen Personen. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger gar keine Unterkunft in Italien findet, sogar höher als bei Familien mit Kindern. Denn Familien mit Kindern werden nach Angaben der italienischen Regierung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als besonders schutzbedürftige Personen behandelt und normalerweise in das SPRAR-Netzwerk übernommen, das ihnen anscheinend Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Italienischkurse, die Vermittlung an soziale Dienste, Rechtsberatung, Berufsbildung, Lehrstellen und Unterstützung bei der Suche einer eigenen Unterkunft garantiert (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 121). Derartige Garantien werden männlichen alleinstehenden Asylsuchenden wie dem Kläger nicht gegeben. Angesichts der offensichtlichen Kapazitätsengpässe sind seine Chancen auf Unterbringung deshalb sogar geringer, je mehr der ohnehin knappen Unterkünfte vorrangig an Familien mit Kindern vergeben werden.
Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Rechte aus Art. 3 EMRK Personen wie dem Kläger – anders als schutzbedürftigen Personen – nur ein derartig geringes Schutzniveau garantieren, dass es in seinem Fall keine Verletzung dieser Rechte darstellen würde, wenn er unter den beschriebenen Umständen nach Italien überstellt würde, ohne dass die italienischen Behörden eine Garantieerklärung abgeben, dass ihm eine angemessene Unterkunft bereitgestellt wird.
Soweit die 3. Kammer des EGMR mit Beschluss vom 5. Februar 2015 – Nr. 51428/10, A. M. E. – die Beschwerde eines jungen männlichen Asylsuchenden ohne abhängige Angehörige gegen seine Rückführung nach Italien als offensichtlich unbegründet verworfen hat, weil „kein hinreichend reelles und unmittelbares Risiko erkennbar [sei], das die Schwelle zu einer Eröffnung des Schutzbereichs von Artikel 3 EMRK erreicht“, vermag die Kammer dieser Auffassung nicht zu folgen. Der EGMR hat in dieser Entscheidung ohne weitere erkennbare Aufklärung des Sachverhalts „keinen Anhalt“ für die Vermutung gesehen, dass der Kläger außerstande sein würde, die „zur Verfügung stehenden Ressourcen für Asylsuchende“ in Anspruch zu nehmen oder dass die italienischen Behörden nicht in angemessener Weise auf seine Bedürfnisse eingehen würden (sämtlich zitiert nach EGMR, Beschluss vom 5.2.2015 – A. M. E. –, Rn. 36 des amtl. Abdrucks). Dies widerspricht den Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Tarakhel, dass jedenfalls hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Unterkünfte die Ressourcen in Italien derart knapp bemessen sind, dass es nicht genügt, Familien mit Kindern generell bevorzugt zu behandeln, sondern es einer individuellen Zusicherung der geordneten Unterbringung bedarf. Dass angesichts dessen alleinstehenden jungen männlichen Asylsuchenden – denen nicht einmal die abstrakt zugesicherte bevorzugte Versorgung zuteilwird – offenkundig keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK droht, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar.
Entsprechendes gilt für die Entscheidungen des EGMR in den Rechtssachen A. S. (Beschluss vom Nr. 39350/13) und N. A. (Entscheidung vom 28. Juni 2016, Nr. 15636/16). Die Entscheidung A. S. betrifft die Frage, ob der Antragsteller krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse hinreichend glaubhaft gemacht hat. Die Entscheidung N. A. hat zum Gegenstand, ob die Generalerklärung der italienischen Behörden vom 8. Juni 2015 als individuelle Zusicherung im Sinne der Tarakhel-Entscheidung verstanden werden kann, und damit eine Frage, die sich im Falle des Klägers nicht stellt. Mit dem Widerspruch der Annahme, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK offenkundig ausgeschlossen sei, zur Rechtsprechung der Großen Kammer des EGMR in der Rechtssache Tarakhel setzt sich diese Entscheidungen ebenso wenig substantiiert auseinander wie die Entscheidung vom 5. Februar 2015 – A. M. E. –. Angesichts dessen sieht das Gericht in diesen Entscheidungen keinen Anhalt dafür, eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK, die die Entscheidung in der Rechtssache Tarakhel nahelegt, kategorisch auszuschließen.
Ferner teilt die Kammer nicht die vom 11. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 25.6.2015 – 11 LB 248/14 –, Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG, juris Rn. 53 ff.) auch unter Hinweis auf die obergerichtliche Rechtsprechung in anderen Bundesländern vertretene Einschätzung der seinerzeit getroffenen tatsächlichen Feststellungen, in Italien lägen keine systemischen Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber vor, aufgrund derer einem im Dublin-Verfahren rücküberstellten Asylbewerber die Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung drohe, weshalb – entgegen der mittlerweile gefestigten Rechtsprechung der Kammer – ein alleinstehender junger Mann nicht zu den besonders schutzbedürftigen Personen im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –) gehöre, deren Rücküberstellung eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden hinsichtlich der Unterbringung erfordere. Der 11. Senat führt aus, dass es in Italien zwar nach wie vor zu Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung von Asylbewerbern komme, wobei sich zuverlässige Belegungszahlen allerdings nur schwer ermitteln ließen. Italien nehme jedenfalls die Unterbringungssituation nicht tatenlos hin, sondern habe in den letzten Monaten weitere Unterbringungsformen eingerichtet, um auf die hohe Zahl an Bootsflüchtlingen zu reagieren. Insofern lasse auch der Anstieg der Zahl der Asylanträge im Jahr 2014 auf über 64.000 gegenüber 26.000 im Jahr 2013 (Quelle: Eurostat) nicht darauf schließen, dass Italien mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert sei (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 25.6.2015 –a.a.O. –, Rn. 53). Nach Auffassung der Kammer ist hingegen zu berücksichtigen, dass die von Eurostat ermittelten Flüchtlingszahlen, auf die der 11. Senat seine Bewertung im Hinblick auf das Asyl- und Aufnahmesystem in Italien im Wesentlichen stützt, nur die Personen erfassen, die ihre Verbalizzazione, d. h. eine formelle Registrierung, haben durchführen lassen. Die Zahl der tatsächlich eingereisten Migranten und Asylsuchenden liegt wesentlich höher. Im Jahr 2014 wurden in Italien insgesamt 170.000 einreisende Migranten und Asylsuchende erfasst (vgl. International Organization for Migration: Migrant Arrivals by Sea in Italy Top 170,000 in 2014 vom 16.1.2015, https://..int/news/migrant-arrivals-sea-italy-top-170000-2014, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Im Jahr 2015 waren es insgesamt 153.842 einreisende Migranten und Asylsuchende (Bericht des UNHCR: Europe refugees & migrants emergency response, nationality of arrivals to Greece, Italy and Spain, January – December 2015, S. 1, http://reliefweb.int/sites/.int/files//MonthlyTrendsofNationalities-December2015.pdf, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Diese Zahl ist im Jahr 2016 noch weiter gestiegen. So sind zwischen dem 1. Januar 2016 und dem 19. Dezember 2016 179.525 Flüchtlinge über den Seeweg nach Italien eingereist (vgl. International Organization for Migration: Mediterranean Migrant Arrivals Reach 358,403; Official Deaths at Sea: 4,913 vom 23.12.2016, https://www.iom.int//mediterranean-migrant-arrivals-reach-358403-official-deaths-sea-4913, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Hiervon beantragten im Jahr 2016 123.482 Personen Asyl (https://data2.unhcr.org/en//download/53633). Mithin hat sich die Zahl der Asylanträge seit 2014 beinahe verdoppelt. Weiterhin geht das Gericht davon aus, dass zwar ein nicht unerheblicher Teil, aber bei weitem nicht alle der bisher nicht registrierten Flüchtlinge in andere Länder weiterziehen und neben den bereits registrierten Antragstellern weitere Antragsteller bereits eine Verbalizzazione eingereicht haben oder jederzeit einreichen könnten.
Weder der 11. Senat in seinem oben zitierten Urteil vom 25. Juni 2015 (a. a. O.) noch die darin in Bezug genommenen – überwiegend aus dem Jahr 2013 sowie dem ersten Halbjahr 2014 stammenden – Entscheidungen der Obergerichte anderer Bundesländer setzen sich mit diesen Entwicklungen und den andauernd zu erwartenden erneuten Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung von Asylbewerbern substantiiert auseinander. Dabei sind solche Engpässe evident: Der 11. Senat geht selbst von 29.492 zu Ende Dezember 2014 zur Verfügung stehenden Unterkunftsplätzen aus (9.592 Plätze in den CPSA/CDA/CARA und 19.900 Plätze in den SPRAR), denen 2014 64.000 und schon in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 44.784 Antragsteller gegenüberstanden. Die Erwägung des Senats, die Überbelegung der CARA um rechnerisch 15 v. H. in der Vergangenheit sei gerade Ausdruck dafür, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig sei, sondern dass sie unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten, vermag die Kammer angesichts der schon für registrierte Antragsteller nach wie vor unzureichenden Unterkunftsplätze nicht zu teilen. Die eben genannten Zahlen haben sich nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen vom 23. Februar 2016 auch in der Zwischenzeit nicht signifikant verändert. Danach bieten die CARA/CDA-Aufnahmelager etwa 11.000 Plätze, während das SPRAR-System über mindestens 20.000 Unterbringungsplätze verfügt.
Im Country Report Italy der Asylum Information Database (AIDA-Report vom Februar 2017, S. 69) stellen sich diese Zahlen im Jahr 2017 kaum anders dar. Demnach stehen in den CPSA-Aufnahmelagern derzeit 14.694 Plätze zur Verfügung, im SPRAR-System gibt es 23.822 Plätze. Folglich hat sich die Zahl der Unterkunftsplätze seit 2014 zwar erhöht, das Missverhältnis zwischen erforderlichen und verfügbaren Plätzen bleibt jedoch bestehen und ist angesichts der steigenden Zahlen der Antragsteller sogar verschärft. Dies wird insbesondere durch den Umstand offensichtlich, dass sich mittlerweile der weit überwiegende Teil der untergebrachten Personen (über 75 Prozent) in sogenannten CAS-Aufnahmezentren (Temporary or emergency accommodation system) befindet. Hierbei handelt es sich um Notunterkünfte, die ursprünglich nur für die vorübergehende Unterbringung bei außergewöhnlichen Engpässen hinsichtlich der Unterbringungsmöglichkeiten vorgesehen waren. Die dortigen Bedingungen werden vielfach als problematisch beschrieben; so gäbe es oftmals schwere Mängel in Hinblick auf Hygiene, Sicherheit und Versorgung mit wintertauglicher Kleidung, zudem seien die verfügbaren Räumlichkeiten teilweise deutlich überfüllt (AIDA-Report von Februar 2017, S. 71f.).
Soweit ausgeführt wird, dass Asylbewerbern, die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Italien zurückgeführt werden, grundsätzlich nach ihrer Ankunft eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werde und sie in der Regel eine solche in einem entsprechenden Aufnahmezentrum erhielten, wird diese Information durch den neuesten AIDA-Report in Bezug auf Dublin-Rückkehrer, denen noch kein Schutzstatus zuerkannt wurde, weiter relativiert. Danach entstünden aufgrund des Mangels von Aufnahmekapazitäten lange Wartezeiten, bis Schutzbedürftige einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung fänden. Zwar könne ein Dublin-Rückkehrer, der während seiner Anwesenheit in Italien schon einmal in einem Aufnahmezentrum (CARA oder SPRAR) untergebracht war, dort grundsätzlich wieder aufgenommen werden; es sei jedoch auch möglich, dass ihm die Aufnahme aufgrund seiner ersten Abreise verwehrt werde (AIDA-Report von Februar 2017, S. 64 f.). Die genaue Zeitspanne bis zur Unterbringung könne mangels einer allgemeinen Übung nicht genau bemessen werden. Der AIDA-Report (a. a. O., S. 64) führt weiter aus, dass in den letzten Jahren zwar elf durch den European Refugee Fund (ERF) finanzierte temporäre Unterbringungseinheiten für Dublin-Rückkehrer geschaffen worden seien, in denen 443 Dublin-Rückkehrer aufgenommen werden könnten. Es komme jedoch vor, dass Dublin-Rückkehrer hier nicht aufgenommen würden und alternative Unterbringungsmöglichkeiten wie selbst organisierte Siedlungen finden müssten. Abgesehen davon genügen diese 443 Unterbringungsplätze schon nicht, um die allein aus Deutschland 2016 tatsächlich überstellten Personen (261 im 1. Quartal 2016, 261 im 2. Quartal 2016, vgl. BT-Drs. 18/79415, S. 38 f.) unterzubringen, geschweige denn diejenigen Antragsteller, deren Überstellung Italien zugestimmt oder zuständigkeitsbegründend nicht widersprochen hat (1. Quartal 2016: 1.582, 2. Quartal 2016: 1.115, S. 43 f.). Ob das zwischenzeitlich ausgelaufene Projekt überhaupt fortgesetzt wird, ist nach den Feststellungen in dem AIDA-Report unklar (a. a. O, S. 64).
Darüber hinaus führt auch der Hinweis auf nicht näher bezifferte Unterkünfte in kirchlicher oder freier Trägerschaft zu keinem anderen Ergebnis, da eine Unterbringung in diesen Unterkünften nicht an die vorherige Registrierung geknüpft ist. Sie stehen daher nicht nur zur Deckung der Lücken in den staatlichen Unterbringungssystemen für Antragsteller zur Verfügung, sondern können potentiell von allen schutzbedürftigen Personen beansprucht werden – also nicht nur von den 181.436 Personen, die insgesamt im Jahr 2016 nach Italien eingereist sind (vgl. https://data2.unhcr.org/en///53633), sondern auch von allen Personen, die in den Vorjahren eingereist sind und deren Verfahren längst abgeschlossen ist. Den 181.436 Flüchtlingen, die im Jahr 2016 nach Italien eingereist sind, standen im Februar 2017 einschließlich der beschriebenen Notunterkünfte 175.734 Plätze (AIDA-Report von Februar 2017, S. 69) in staatlichen Unterbringungseinrichtungen gegenüber, welche allerdings keineswegs nur für die im laufenden Jahr eingereisten Antragsteller ausreichen müssen, sondern auch für die bereits im Land befindlichen Antragsteller.
Auch dass die Neufassungen der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU und der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU in das italienische Recht übernommen sind (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Auskunft an das OVG Nordrhein-Westfalen vom 7. April 2016, S. 2), ist keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass das Asylverfahren in Italien inzwischen richtlinienkonform ist (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A –). Denn maßgeblich ist nicht der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade deren praktische Umsetzung (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris). Diese ist nach wie vor defizitär.
Nach dem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Aufnahmebedingungen in Italien“ vom August 2016 (https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/2016/160815-sfh-bericht-italien-aufnahmebedingungen-final.pdf, zuletzt abgerufen am 8.12.2017) bestehen bei der Unterbringung von Asylsuchenden und Schutzberechtigten in Italien nach wie vor (systemische) Defizite, die auf einer systematischen Verletzung der den Asylsuchenden nach der ARL und der QRL zustehenden Rechte beruhen. Es sei zwar die Anzahl der Unterbringungsplätze erheblich erhöht worden; da jedoch auch die Zahl der Personen, die untergebracht werden müssten, stark angestiegen sei, reiche die Kapazität weiterhin – wie vorstehend dargelegt – nicht aus. Italien verletze seine Verpflichtungen aus dem EU-Asylacquis insgesamt und insbesondere die Pflichten in Bezug auf Information der Betroffenen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie der Berücksichtigung der Bedürfnisse besonders verletzlicher Personen. Auch das Fehlen von Unterstützung von Asylsuchenden und Schutzberechtigten könne zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen.
Die Unterbringungssituation für geflüchtete Personen ist nach den aktuellen Erkenntnissen auch im Jahr 2017 nach wie vor unzureichend. Im April 2017 waren nach Angaben der italienischen Regierung insgesamt 175.385 Asylsuchende in Aufnahmezentren untergebracht. Die vorhandenen Kapazitäten waren bereits zu diesem Zeitpunkt ausgeschöpft. Die überwiegende Anzahl (136.706 Personen) wurde in sogenannten „temporären, außerordentlichen Zentren“ untergebracht. Nur 25.563 Personen lebten in Zentren, die zuständig für den Schutz von Asylsuchenden und Schutzberechtigten sind (vgl. hierzu Pro Asyl: Die schwierige Situation von Flüchtlingen in Italien vom 6.4.2017, https://www.proasyl.de/news/die-schwierige-situation-von-fluechtlingen-in-italien/, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Schon diese Zahlen machen deutlich, dass es den italienischen Behörden nach wie vor nicht gelungen ist, eine ausreichende Anzahl an angemessenen Unterbringungsmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen. Die Situation hat sich im Frühsommer dieses Jahres (zunächst) weiter verschärft. Von Januar bis Ende Juni 2017 sind rund 80.000 Schutzsuchende in Italien eingetroffen. Dies bedeutet eine Steigerung um 14,5 Prozent gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres. Nach Medieninformationen waren sämtliche vorhandenen Unterkünfte Ende Juni 2017 überfüllt (vgl. Die Presse: 10.000 Flüchtlinge in vier Tagen: Italien droht mit Hafensperre vom 28.6.2017, http://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5242592/10000-Fluechtlinge-in-vier-Tagen_Italien-droht-mit-Hafensperre, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Bis zum 19. Juli 2017 wurden gut 93.000 Personen gezählt, die über das Mittelmeer nach Italien gelangten. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum – 2016 war mit über 180.000 Schutzsuchenden das bisherige „Rekordjahr“ – liegt darin eine Steigerung von rund 10.000 Personen (vgl. Die Tageszeitung: Hungerstreik für weniger Migranten, 24.7.2017, http://www.taz.de/!5428978/, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Nach einem Bericht des UNHRC vom August 2017 hat sich die Zahl der von Nordafrika über das Mittelmeer nach Italien gelangten Personen gegenüber dem Vorjahreszeitraum sogar um 19 Prozent erhöht (vgl. Desperate Journeys, Refugees and migrants entering and crossing Europe via the Mediterranean and Western Balkans routes, August 2017, S. 9, http://www.refworld.org/docid/59ad23046.html, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Bei der Bewertung der genannten Zahlen ist zu berücksichtigen, dass in den vergangenen Jahren nur ein Teil der Schutzsuchenden in Italien einen Asylantrag gestellt hat. Die Mehrzahl ist hingegen in andere Länder Europas weitergereist. Diese Möglichkeit ist aufgrund der seit Mitte 2015 deutlich verstärkten Grenzkontrollen im Schengen-Raum sowie der mittlerweile fast lückenlosen Erfassung der eingereisten Personen erheblich erschwert worden. Der mit dieser Entwicklung einhergehende erhöhte Bedarf an Unterbringungsmöglichkeiten und Organisationsaufwand lässt darauf schließen, dass sich die seit mindestens 2014 bestehenden Kapazitätsengpässe weiter verschärft haben und verschärfen werden. Zwar hat die italienische Regierung als Reaktion auf den stetigen Zulauf von Schutzsuchenden nach Angaben des Innenministeriums die Zahl der Flüchtlingsunterkünfte in den letzten vier Jahren mehr als verfünffacht. Diese Anstrengungen sind aber nach wie vor nicht ausreichend, weswegen die italienische Regierung derzeit 20.000 zusätzliche Unterkünfte sucht (vgl. Die Tageszeitung: Hungerstreik für weniger Migranten, 24.7.2017, a. a. O.; Österreichischer Rundfunk: Erneut Tausende in Italien angekommen, 15.7.2017, http://orf.at/stories/2400344/2399420/, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Aufgrund des akuten Mangels von Aufnahmekapazitäten ist gerade bei „Dublin-Rückkehrern“ damit zu rechnen, dass sich diese Personen auf sich allein gestellt um eine Unterkunft bemühen müssen, da für sie keine besonderen Unterbringungsmöglichkeiten (mehr) vorgehalten werden. Die aufgezeigten Defizite beschreibt instruktiv der gemeinsame Monitoring-Bericht des Danish Refugee Council und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe über schutzbedürftige Rückkehrer vom 9. Februar 2017 (https://www.fluechtlingshilfe.ch////drc-osar-drmp-report-090217.pdf), nach dem ungeachtet vorheriger Abstimmung der Überstellung keiner der dort beobachteten Rückkehrer tatsächlich ungehinderten Zugang zu einer SPRAR-Unterkunft bekommen hat; erst recht war der Zugang zu den für besonders schutzbedürftige Personen vorgesehenen Zentren nicht sichergestellt.
Der Einschätzung, dass das italienische Asyl- und Aufnahmeverfahren an systemischen Mängel leidet, steht nicht entgegen, dass seit etwa Mitte Juli 2017 deutlich weniger Schutzsuchende Italien erreichen. Zwar sank die Zahl der ankommenden Personen nach Angaben des italienischen Innenministeriums im August dieses Jahres um 90 Prozent (vgl. Die Zeit: Italien meldet Rückgang von Flüchtlingszahlen, 28.8.2017, http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-08/mittelmeer-fluechtlinge-italien-juli-august-rueckgang, zuletzt abgerufen am 8.12.2017). Angesichts der dargestellten, seit Jahren bestehenden und während des gesamten ersten Halbjahres 2017 stetig angewachsenen Unterbringungsprobleme ist gegenwärtig nicht davon auszugehen, dass sich die Versorgungssituation in Italien hinreichend entspannt hat. Insoweit bleibt abzuwarten, ob es sich hierbei um eine langfristige Entwicklung handelt.
2. Kommt daher wegen systemischen Schwachstellen des italienischen Asylverfahrens im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO die Überstellung des Klägers nach Italien nicht in Betracht, stellt sich vor diesem Hintergrund auch die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig als rechtswidrig dar und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Zwar sind die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst a AsylG dem Grunde nach erfüllt, denn nicht die Beklagte, sondern Italien ist für die Prüfung des Schutzgesuchs des Klägers unmittelbar zuständig. Die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates steht auch nicht zur Disposition des Antragstellers.
Der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig steht jedoch vorrangiges Unionsrecht entgegen. Der Kläger hat eine wehrfähige unionsrechtliche Rechtsposition dahingehend, dass ein von ihm innerhalb der EU gestellter Antrag auf internationalen Schutz innerhalb der EU geprüft wird. Dieser Anspruch folgt aus dem Sinn und Zweck des Dublin-Systems und der mit ihm verwirklichten verfahrensrechtlichen Dimension der materiellen Rechte, die die Richtlinie 2011/95/EU (sog. Anerkennungsrichtlinie) Schutzsuchenden einräumt (vgl. BVerwG, Urteil vom 27.4.2016 – BVerwG 1 C 24.15 –, juris Rn. 20). Dass dieser Anspruch innerhalb angemessener Frist zu realisieren ist, folgt aus Art. 51 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., Art. 47 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1). Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass ihre Sache bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten innerhalb angemessener Frist behandelt wird.
Diese Verfahrensgarantien werden verletzt, wenn die Beklagte mangels Zuständigkeit die Bearbeitung des klägerischen Schutzgesuchs ablehnt, zugleich aber die Voraussetzungen einer Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat aufgrund von dortigen systemischen Mängeln nicht vorliegen und damit auch eine materielle Prüfung des Schutzgesuchs nicht erfolgen kann, ohne dass dahingehend eine Änderung absehbar ist (vgl. VG Hannover, Urteil vom 6.7.2016 – 10 A 3554/15 –, juris).
Das ist hier der Fall. Es ist nicht anzunehmen, dass eine Überstellung nach Italien in absehbarer Zeit möglich wird. Die Beklagte hat in ähnlich gelagerten Verfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, dass eine individuelle Garantieerklärung von den italienischen Behörden aus praktischen Gründen nicht verlangt werden könne. Angesichts der hohen Zugangszahlen von Asyl- und Schutzsuchenden sei nicht abzusehen, in welche konkreten Einrichtungen rücküberstellte Antragsteller untergebracht würden, wenn noch gar nicht feststehe, ob und wann der Transfer stattfinde. Infolgedessen geht das Gericht davon aus, dass auf absehbare Zeit weder die Beklagte noch die italienischen Behörden willens und in der Lage sind, eine den materiellen Anforderungen im Sinne der Rechtssache Tarakhel genügende individuelle Garantieerklärung abzugeben bzw. einzuholen.
Es gilt insofern nichts anderes als in der Situation, dass ein Übernahmeersuchen an einen nicht oder nicht mehr zuständigen Mitgliedsstaat gerichtet worden ist, dessen Aufnahmebereitschaft nicht positiv feststeht. Könnte sich der Schutzsuchende in einem solchen Fall nicht auf die Zuständigkeit der Beklagten berufen, entstünde die Situation eines „refugee in orbit“, in der sich kein Mitgliedstaat für die sachliche Prüfung des Asylantrags als zuständig ansieht. Hierdurch würde dem zentralen Anliegen des Dublin-Regimes, einen effektiven Zugang zu den Verfahren zur Gewährung internationalen Schutzes zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Anträge auf internationalen Schutz nicht zu gefährden, widersprochen (vgl. BVerwG, Urteil vom 9.8.2016 – BVerwG 1 C 6/16 –, juris, Rn. 23).
Die Beklagte ist nach alledem verpflichtet, den Antrag des Klägers im Wege des Selbsteintritts nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO zu prüfen. Diese Bestimmung ermöglicht eine Zuständigkeitsübernahme für Fälle, in denen außergewöhnliche humanitäre, familiäre oder krankheitsbedingte Gründe vorliegen, die nach Maßgabe der Werteordnung der Grundrechte einen Selbsteintritt erfordern (vgl. VG Braunschweig, Urteil vom 24.1.2017 – 7 A 55/16 –, juris). Im Fall der Zuständigkeitsübernahme wird der betreffende Mitgliedsstaat zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne der Dublin-III-Verordnung. Diese Befugnis zum Selbsteintritt steht zwar grundsätzlich im Ermessen des jeweiligen Mitgliedsstaates; dieses Ermessen ist hier jedoch durch vorrangiges Unionsrecht auf eine Pflicht zum Selbsteintritt reduziert.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83 b AsylG nicht erhoben. Der Gegenstandswert ergibt sich aus § 30 RVG. Gründe für eine Abweichung gemäß § 30 Abs. 2 RVG liegen nicht vor.