Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 24.01.2018, Az.: 3 B 35/18

Drogenentwöhnungstherapie; Rehabilitationsleistung; sachlicher Zuständigkeitsstreit; stationäre Nachsorgebehandlung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
24.01.2018
Aktenzeichen
3 B 35/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74408
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das erstangegangene Jugendamt einer kommunalen Gebietskörperschaft kann einen Antrag auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen nach §§ 35a, 41 SGB VIII in Form einer stationären Nachsorgebehandlung nach einer Drogenentwöhnungstherapie nach Ablauf der in § 14 Abs. 1 SGB IX geregelten Zwei-Wochen-Frist ohne Weiterleitung des Antrags an einen (anderen) Rehabilitationsträger eines anderen Rechtsträgers nicht mit der Begründung ablehnen, es sei für die beantragte Leistung sachlich und/oder örtlich nicht zuständig. Es kann insbesondere nicht auf eine sachliche Zuständigkeit des Sozialamtes desselben Rechtsträgers nach dem SGB XII verweisen.

Ein interner sachlicher Zuständigkeitsstreit zwischen dem Jugendamt und dem Sozialamt desselben Rechtsträgers bzgl. beantragter Rehabilitationsleistungen ist verwaltungsintern, ggf. durch Weisung des gemeinsamen Dienstvorgesetzten, zu lösen. Er berechtigt im Außenverhältnis nicht zur Ablehnung der beantragten Leistung, wenn die örtliche Zuständigkeit des Rechtsträgers nach § 14 SGB IX gegeben ist.

Tenor:

Dem Antragsteller wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt C. aus A-Stadt/B-Stadt bewilligt.

Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 01.02.2018 bis auf Weiteres, längstens aber für einen Zeitraum von sechs Monaten, Rehabilitationsleistungen als Eingliederungshilfe in Form der Kostenübernahme für eine stationäre Nachsorgebehandlung in der D.., Nachsorge – Betreutes Wohnen für Suchtkranke, E., zu bewilligen.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der am 04.01.2017 gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und mit der aus dem Tenor ersichtlichen zeitlichen Klarstellung begründet.

1. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes treffen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile abzuwenden. Dazu muss der Antragsteller glaubhaft machen, dass ihm der in der Hauptsache verfolgte Anspruch zusteht (Anordnungsanspruch) und dass ihm ohne eine vorläufige Regelung schwerwiegende Nachteile drohen, wenn die von ihm angegriffene Entscheidung des Antragsgegners bis zur Entscheidung im Hauptsacheverfahren unverändert bestehen bliebe (Anordnungsgrund). Diese Voraussetzungen sind erfüllt.

a) Der Antragsteller verfolgt in der Hauptsache unstreitig einen Anspruch auf Rehabilitationsleistungen im Sinne der §§ 1, 4, 5, 14 Abs. 1 Satz 1 SGB IX. Der an das Jugendamt des Antragsgegners gerichtete schriftliche Antrag vom 22.08.2017, der im sog. „Sozialraumteam Mitte-West“ des Antragsgegners in Twistringen am 01.09.2017 einging, benennt als Anspruchsgrundlagen für die von ihm begehrte Kostenübernahme für eine stationäre Nachsorgebehandlung nach einer ebenfalls stationären medizinischen Drogenentwöhnungstherapie die §§ 35a, 41 SGB VIII. Für eine solche Maßnahme kommt der Jugendhilfeträger als Rehabilitationsträger gemäß §§ 6 Abs. 1 Nr. 6, 5 Nr. 1 und 4 SGB IX in Betracht. Das wird vom Antragsgegner – Jugendamt – ausdrücklich nicht grundsätzlich in Zweifel gezogen.

b) Dem Antragsteller steht der geltend gemachte Anspruch auf Kostenübernahme für die geplante stationäre Nachsorgebehandlung als Rehabilitationsmaßnahme materiell-rechtlich zu. Dabei kommen als Anspruchsgrundlagen für eine derartige Leistung sowohl die §§ 35a, 41 SGB VIII als auch § 53 SGB XII in Betracht. Auch das wird vom Antragsgegner nicht grundsätzlich in Abrede gestellt.

c) Der unter dem 04.12.2017 ergangene Ablehnungsbescheid, den der Antragsteller rechtzeitig vor dem erkennenden Gericht mit der Verpflichtungsklage (Az. 3 A 179/18) angegriffen hat, erweist sich bei der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung als voraussichtlich rechtswidrig. Der Antragsgegner kann dem Leistungsbegehren des Antragstellers weder eine sachliche noch eine örtliche Unzuständigkeit entgegenhalten.

Der Antragsgegner ist - unstreitig - als Jugendhilfeträger der erstangegangene Rehabilitationsträger. Nach § 14 Abs. 1 SGB IX hat der (erst-)angegangene Rehabilitationsträger zwei Wochen Zeit, um seine Zuständigkeit zu prüfen und den Antrag an den von ihm für zuständig gehaltenen Rehabilitationsträger weiterzuleiten. Die Prüfung der eigenen Zuständigkeit umfasst dabei sowohl die örtliche als auch die sachliche Zuständigkeit (Ulrich in: jurisPK SGB IX, 3. Aufl. 2018, § 14 Rn. 45). Wird der Antrag innerhalb der Frist nicht weitergeleitet, stellt der erstangegangene Rehabilitationsträger gemäß § 14 Abs. 2 Satz 1 SGB IX den Rehabilitationsbedarf fest und entscheidet innerhalb von drei Wochen in der Sache über den Antrag.

Da weder das Jugendamt noch das von diesem – nach Ablauf von zwei Wochen nach Antragseingang – intern um Fallübernahme angegangene Sozialamt des Antragsgegners den Antrag innerhalb der gesetzlichen 2-Wochen-Frist an einen Rehabilitationsträger eines anderen Rechtsträgers weitergeleitet haben, ist der Antragsgegner als Rechtsträger beider für die Leistungsgewährung sachlich in Betracht kommenden Leistungsträger jedenfalls für die Hilfegewährung an den Antragsteller örtlich zuständig geworden. Nach der std. Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ist im Übrigen der erstangegangene Träger, der den Antrag nicht nach den Vorgaben des § 14 Abs. 1 SGB IX weiterleitet, verpflichtet, Leistungen aufgrund aller Rechtsgrundlagen zu erbringen, die in der konkreten Bedarfssituation vorgesehen sind (vgl. BSGE 93, 283, 288 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 1 RdNr. 15; BSGE 98, 267 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 4, RdNr. 14; BSGE 102, 90 = SozR 4-2500 § 33 Nr. 21, RdNr. 23; BSGE 104, 294, 296 = SozR 4-3250 § 14 Nr. 9; BSG SozR 4-2500 § 33 Nr. 35 RdNr. 20; BSG, Urteil vom 10. Juli 2014 – B 10 SF 1/14 R –, juris). Auf die Frage, ob eine sachliche Zuständigkeit des erstangegangenen Rehabilitationsträgers für die erforderliche bedarfsdeckende Leistung besteht, kommt es dann nicht mehr an, denn diesen trifft nach dem Regelungsregime des § 14 SGB IX eine endgültige, ausschließliche und umfassende Leistungspflicht. Die Frage einer abweichenden fachgesetzlich geregelten sachlichen und/oder örtlichen Zuständigkeit ist demgegenüber einem eventuellen Erstattungsverfahren nach § 14 Abs. 4 SGB IX vorbehalten. Dies verkennt der Antragsgegner – Jugendamt - in seinem Schriftsatz vom 22.01.2018, mit dem er dem Antragsbegehren weiterhin unter Hinweis auf eine von ihm für gegeben erachtete Zuständigkeit seines Fachbereichs Soziales entgegentritt. Vielmehr ist es so, dass der Antragsgegner als Jugendhilfeträger in einer Konstellation wie der vorliegenden auf Grund seiner Stellung als erstangegangener Rehabilitationsträger im Rahmen seiner Zuständigkeit nach § 14 SGB IX ggf. auch Leistungen nach dem SGB XII gewähren kann bzw. muss, wenn und soweit diese sachlich zur Bedarfsdeckung erforderlich sind.

d) Zeitlich ist die begehrte einstweilige Anordnung auf einen Zeitraum von längstens sechs Monaten zu begrenzen. Die Kammer geht davon aus, dass diese Zeitspanne ausreicht, um dem Antragsgegner Gelegenheit zu geben, seinen internen sachlichen Zuständigkeitskonflikt - zur Not mittels einer entsprechenden Weisung des gemeinsamen Dienstvorgesetzten der beiden involvierten Fachbereiche – zu lösen, die gebotene weitere sachliche Hilfeplanung durchzuführen und einen entsprechenden Bewilligungsbescheid zu erlassen.

e) Ein Anordnungsgrund ist gegeben. Die Kostenzusage der Krankenkasse für die derzeitige stationäre Entwöhnungstherapie läuft am 31.01.2018 ab. Ein unmittelbarer Anschluss der vorgesehenen stationären Nachsorge ist nach dem unbestrittenen und sachlich fundierten Vortrag des Antragstellers unabdingbar, um den erreichten Therapieerfolg nicht nachhaltig zu gefährden. Aus diesem Grund stünde der begehrten einstweiligen Anordnung unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Gewähr eines effektiven Rechtsschutzes auch das sog. „Verbot einer Vorwegnahme der Hauptsache“ nicht entgegen.

2. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 VwGO.

3. Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO.