Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.06.2007, Az.: 11 K 113/06
Rechtmäßigkeit der Aufhebung von Kindergeld wegen der Überschreitung des 21. Lebensjahres laut Personalausweis bei Feststellung eines tatsächlich jüngeren Alters; Einhaltung der Altesgrenze für die Festsetzung von Kindergeld; Anwendbarkeit des § 33a Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) für die Kindergeldfestsetzung nach dem Einkommensteuergesetz (EStG)
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 14.06.2007
- Aktenzeichen
- 11 K 113/06
- Entscheidungsform
- Endurteil
- Referenz
- WKRS 2007, 34230
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2007:0614.11K113.06.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 24.09.2009 - AZ: III R 62/07
Rechtsgrundlagen
- § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG
- § 33a SGB I
Fundstellen
- EFG 2008, 63-64 (Volltext mit red. LS)
- Jurion-Abstract 2007, 228688 (Zusammenfassung)
Amtlicher Leitsatz
Orientierungssatz:
Kindergeld Juni 2004 bis Februar 2005 für H. und Rückforderung - Einspruchsentscheidung vom 13.02.2006
Ob die Altersgrenze des § 32 Abs. 4 Nr. 1 EStG eingehalten ist, richtet sich nach dem tatsächlichen Lebensalter des Kindes.
Tatbestand
Streitig ist, ob es für den Bezug von Kindergeld auf das in amtlichen Dokumenten ausgewiesene oder das tatsächliche (biologische) Alter des Kindes ankommt.
Der Kläger bezog Kindergeld für seinen in Ausbildung befindlichen Sohn H. Nach den Angaben in seinem Personalausweis wie auch nach den Angaben des Klägers in seinem Kindergeldantrag vom 26. März 1998 ist H am 11. März 1982 in der Türkei geboren. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass H das 21. Lebensjahr nicht vor dem 1. Februar 2005 vollendet hat. Der Kläger lebt mit seiner Familie seit 1989 in Deutschland.
Im April 2004 beteiligte sich H an einer Straftat und befand sich bis Ende September 2004 in Untersuchungshaft. Aus den im Strafverfahren eingeholten Altersgutachten ergibt sich, dass der 11. März 1982 als Geburtsdatum des H ausgeschlossen und er jünger ist.
Der Arbeitgeber kündigte H im Mai 2004 fristlos. Vom 4. Oktober 2004 bis zum 1. Oktober 2005 war H bei der Agentur für Arbeit als arbeitssuchend gemeldet.
Die Beklagte (die Familienkasse) hob mit Bescheid vom 3. November 2005 die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum Juni 2004 bis Februar 2005 auf, weil die Voraussetzungen für die Berücksichtigung für ein Kind, das das 21. Lebensjahr vollendet habe, nicht gegeben seien. Hiergegen richtet sich nach erfolglosem Einspruchsverfahren (Einspruchsbescheid vom 13. Februar 2006) die Klage.
Der Kläger behauptet, H sei im Herbst 1985 geboren. Eine Änderung des Geburtsdatums in den amtlichen Dokumenten sei nicht möglich, weil kein konkretes Datum angegeben werden könne.
Nachdem er zunächst Kindergeld auch für den Zeitraum Juni bis September 2004 begehrt hat, beantragt der Kläger,
unter Aufhebung des Bescheides vom 3. November 2005 sowie der Einspruchsentscheidung vom 13. Februar 2006 für den Sohn des Klägers Kindergeld ab Oktober 2004 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie meint, nach § 33a Sozialgesetzbuch (SGB) I komme es im Streitfall auf das Geburtsdatum an, das der Kläger bei seinem Antrag auf Kindergeld angegeben habe. Das sei der 11. März 1982 gewesen. Da das Kindergeld gemäß § 31 Einkommensteuergesetz (EStG) der Familienförderung diene und damit einer Sozialleistung vergleichbar sei, soweit es für die Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums des Kindes nicht benötigt werde, sei § 33a SGB I hier analog anwendbar.
Sollte § 33a SGB I nicht analog anwendbar sein, müsse auf das in den amtlichen Ausweisen eingetragene Geburtsdatum für die Berechnung des Lebensalters des Kindes abgestellt werden. Das Lebensalter werde nach § 108 Abgabenordnung (AO) i.V.m. § 187 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) vom Tag der Geburt an berechnet. Daher müsse ein konkretes Geburtsdatum der Altersberechnung zugrunde gelegt werden.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Der Bescheid vom 3. November 2005 und der Einspruchsbescheid vom 13. Februar 2006 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, soweit die Kindergeldfestsetzung für den Sohn H für den Zeitraum vom Oktober 2004 an unterblieben ist.
H ist bei dem Kläger vom Oktober 2004 an gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG als Kind zu berücksichtigen. H stand nicht in einem Beschäftigungsverhältnis und war bei einer Agentur für Arbeit als arbeitssuchend gemeldet. Er hatte auch das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet. Aus den im Strafverfahren eingeholten ärztlichen Gutachten ergibt sich, dass der im Personalausweis des H und im Kindergeldantrag angegebene 11. März 1982 als Geburtsdatum ausgeschlossen ist. Zwischen den Beteiligten ist unstreitig, dass H nicht vor dem 1. Februar 2005 sein 21. Lebensjahr vollendet hat. Er hat damit in dem hier streitigen Zeitraum die Altersvoraussetzung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG erfüllt.
Es ist unschädlich, dass sein genaues Geburtsdatum unbekannt ist. Der Gesetzgeber hat die Berücksichtigung als Kind nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 EStG davon abhängig gemacht, dass das Kind das 21. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, nicht aber zusätzlich vom Nachweis des genauen Geburtsdatums. Die Frage, wann H die Altersgrenzen des § 32 Abs. 4 EStG überschreitet, ist im Streitfall nicht entscheidungserheblich.
Die Vorschrift des § 33a SGB I ist für die Kindergeldfestsetzung nach dem Einkommensteuergesetz ohne Bedeutung. Sind Rechte oder Pflichten davon abhängig, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist, ist nach dieser Vorschrift, soweit hier von Interesse, das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten oder seiner Angehörigen gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt. § 33 a SGB I gilt zwar in allen Sozialleistungsbereichen einschließlich der besonderen Teile des Sozialgesetzbuches gemäß § 68 SGB I (Weselski in jurisPK-SGB I, § 33a, 4), also z.B. auch für das Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz (§ 68 Nr. 9 SGB I). Zugunsten der Familienkasse kann auch unterstellt werden, dass der 11. März 1982 als Geburtsdatum des H gegenüber einem Sozialleistungsträger angegeben worden ist. Der Kindergeldantrag vom 26. März 1998, auf den sich die Familienkasse beruft, ist allerdings an die Familienkasse Stade, eine Finanzbehörde (§ 2 Abs. 2 Nr. 6 AO), gerichtet.
Die Anwendung des § 33a SGB I im Streitfall scheitert aber jedenfalls daran, dass das Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz nicht als Sozialleistung, sondern als Steuervergütung gezahlt wird (§ 31 Satz 3 EStG). Daran ändert auch nichts, dass es der Familienförderung dient, soweit es zur Freistellung eines Einkommensbetrags in Höhe des Existenzminimums des Kindes nicht erforderlich ist. Soweit das Kindergeld der Familienförderung dient, stellt es gleichwohl keine Sozialleistung, sondern eine einkommensteuerliche Förderung der Familie durch eine Sozialzwecknorm dar (BFH-Urteil vom 23. November 2000 VI R 165/99, BStBl II 2001, 279).
Eine analoge Anwendung des § 33a SGB I auf den vorliegenden Fall scheidet aus. Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Eine Gesetzeslücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (BFH-Urteil vom 2. Juni 2005 III R 15/04, BStBl II 2005, 828).
Die Beschränkung des Geltungsbereichs des § 33a SGB I auf Sozialleistungen unter Ausschluss des nach dem Einkommensteuergesetz gewährten Kindergeldes ist keine derartige Gesetzeslücke. Die Norm wurde durch Art. 2 des Ersten Gesetzes zur Änderung des Dritten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 16. Dezember 1997 (BGBl. I 1997, 2970, 2981) mit Wirkung zum 1. Januar 1998 eingefügt. Sie war im dazugehörigen Gesetzentwurf noch nicht enthalten. Die gegenwärtige Fassung beruht auf dem Vorschlag des 11. Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung (BT-Drs. 13/8994, 29, 67). Aus der Begründung ergibt sich, dass es dem Gesetzgeber darum ging, eine Regelung nur für das Sozialrecht zu schaffen, um die inländische Rechtslage ausländischen Rechtsordnungen anzupassen, in denen zwar die gerichtliche Änderung von Geburtsdaten möglich ist, dies aber im Bereich der sozialen Sicherung überwiegend ohne Auswirkung bleibt. Demzufolge heißt es in der Begründung: "Die Festlegung gilt nur für den Bereich des Sozialgesetzbuchs. Die Bedeutung der jeweiligen ausländischen Entscheidung außerhalb dieses Bereichs bleibt unberührt." Ist eine gesetzliche Regelung, wie hier § 33a SGB I, aber bewusst und gewollt auf einen bestimmten Anwendungsbereich beschränkt, verbietet sich ein Analogieschluss auf andere Fälle. Es fehlt an einer planwidrigen Unvollständigkeit. Der Zweck der Vorschrift, eine Regelung für den Bereich des Sozialrechts zu schaffen, wird erreicht.
Es ist auch nicht etwa so, dass bei der Neureglung des Kindergeldrechts übersehen wurde, eine dem § 33a SGB I vergleichbare Vorschrift im Einkommensteuergesetz zu schaffen. § 33a SGB I mit der Abkehr von dem unbedingten Anknüpfen an das eigentliche Geburtsdatum ist zum 1. Januar 1998 in Kraft getreten. Die Zahlung des Kindergelds als Steuervergütung erfolgt bereits seit dem 1. Januar 1996.
Einer Entscheidung, inwieweit der Kindergeldanspruch auf einen Sozialleistungsträger übergegangen ist, bedarf es nicht. Sollte insoweit Streit be- oder entstehen, muss die Behörde zunächst durch Abrechnungsbescheid (§ 218 Abs. 2 AO) entscheiden.
Die Ausrechnung des festzusetzenden Kindergeldes nach Maßgabe der berücksichtigungsfähigen Kinder wird der Beklagten übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) zugelassen, weil die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des Bundesfinanzhofs erfordert. Die Rechtsfragen, welche Bedeutung § 33a SGB I oder das in amtlichen Dokumenten ausgewiesene Geburtsdatum des Kindes für den Kindergeldbezug haben, ist höchstrichterlich noch nicht entschieden.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO). Ausgehend von dem ursprünglichen Begehren, für die Monate Juni 2004 bis Februar 2005 Kindergeld zu erhalten, ist der Kläger zu 4/9 unterlegen.