Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 26.03.2015, Az.: 10 A 1060/15

A. M. E.; Dublin Verfahren; Durchentscheiden; Italien; Rechtsschutzbedürfnis; systemische Mängel; Systemische Mängel Italien; Tarakhel; Verpflichtungsklage

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.03.2015
Aktenzeichen
10 A 1060/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 45284
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Auf der Basis der tatsächlichen Feststellungen des EGMR (Große Kammer) in der Rechtssache Tarakhel (Nr. 29217/12) sowie des BVerfG in seinen Entscheidungen vom 17.09.2014 (u.a. 2 BvR 732/14) ist unverändert davon auszugehen, dass in Italien systematische Mängel in den Aufnahmebedingungen für (zu überstellende) Asylbewerber bestehen. Abweichende Tatsachenfeststellungen hat die 3. Section des EGMR in der Rechtssache A.M.E. vs. NL (Nr. 51428/10) nicht getroffen.

2. Von den bestehenden systemischen Mängeln wären auch alleinstehende, junge, männliche Flüchtlinge betroffen, die nach der Dublin III VO nach Italien rücküberstellt werden. Für diese Personengruppe ist der Schutzbereich des Art. 3 EMRK in der konkretisierenden Ausgestaltung der Aufnahmerichtlinie (2013/33EU) in gleicher Weise eröffnet wie für alle anderen Flüchtlinge (entgegen EGMR 3. Section vom 05.02.2015, Nr. 51428/10 A.M.E. vs. NL).

3. Auch für die Gruppe alleinstehender, junger, männlicher Asylbewerber ist eine Rücküberstellung auf Basis der Dublin III VO nur zulässig, wenn die zuständigen italienischen Behörden zuvor eine individuelle Garantieerklärung über eine den Anforderungen des Art. 3 EMRK in der konkretisierenden Ausgestaltung der Aufnahmerichtlinie genügende Unterbringung und Versorgung abgeben.

4. Auch im Dublin Verfahren besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage auf Verpflichtung der Beklagten, ein Asylverfahren in der Bundesrepublik durchzuführen. Hierzu ist die Beklagte schon kraft Gesetzes verpflichtet, wenn auf die Anfechtungsklage der Bescheid nach dem Dublin Verfahren aufgehoben wird.

4. Auch im Dublin Verfahren besteht kein Rechtsschutzbedürfnis für die Klage auf Verpflichtung der Beklagten, ein Asylverfahren in der Bundesrepublik durchzuführen. Hierzu ist die Beklagte schon kraft Gesetzes verpflichtet, wenn auf die Anfechtungsklage der Bescheid nach dem Dublin Verfahren aufgehoben wird.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 3. Februar 2015 wird aufgehoben.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 v. H. des aus dem Urteil vollstreckbaren Betrages abwenden, soweit nicht der Kläger zuvor Sicherheit in Höhe von 110 v. H. des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens und begehrt die Prüfung seines Asylbegehrens durch die Beklagte im nationalen Verfahren.

Der 1982 geborene Kläger ist nach eigenen Angaben malischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls nach eigenen Angaben am 7. November 2014 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 14. November 2014 einen Asylantrag.

Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Klägers im EURODAC-System ergab, dass der Kläger am 12. April 2013 in Italien erkennungsdienstlich behandelt worden war und dort am 7. Mai 2013 Asyl beantragt hatte. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Beklagten richtete daher unter dem 7. Januar 2015 ein Übernahmeersuchen an Italien, das es am 13. Januar 2015 wiederholte, nachdem die italienischen Behörden den Eingang nicht bestätigt hatten. Die italienischen Behörden haben auf dieses Ersuchen nicht reagiert.

Mit Bescheid vom 3. Februar 2015 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Klägers als unzulässig ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 9. Februar 2015 durch Aushändigung an eine empfangsberechtigte Mitarbeiterin seines Flüchtlingswohnheims zugestellt.

Mit Fax vom 16. Februar 2015 hat der Kläger Klage erhoben und um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Dem Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz hat das Gericht mit Beschluss vom 20. Februar 2015 – 10 B 1061/15 – stattgegeben.

Zur Begründung der Klage macht der Kläger geltend, dass ihm bei einer Zurückschiebung nach Italien aufgrund systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 3. Februar 2015 zu verpflichten, ein Asylverfahren in Deutschland durchzuführen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei die aktuelle Situation in Italien nicht vergleichbar mit der Situation in Griechenland. Eine generelle Aussetzung von Rücküberstellungen nach Italien sei deshalb nicht erforderlich.

In einem Parallelverfahren hat die Beklagte zudem mitgeteilt, dass die Dublin-Mitgliedsstaaten aufgrund der hohen Zugangszahlen von Asylbewerbern keine konkreten Informationen darüber abgeben könnten, in welcher Einrichtung rückkehrende Personen untergebracht würden, solange noch nicht einmal feststehe, ob und wann eine Rückführung erfolge. Von den italienischen Behörden könne deshalb nicht erwartet werden, eine konkrete individuelle Garantieerklärung für jeden Flüchtling abzugeben.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Kammer entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).

Die Klage hat in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Sie ist zulässig, soweit der Kläger die Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist anerkannt, dass gegen Entscheidungen des Bundesamtes, die Durchführung eines Asylverfahrens nach Maßgabe von § 27 a AsylVfG abzulehnen, eine Anfechtungsklage statthaft ist (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 6.11.2014 - 13 LA 66/14 - juris; OVG NRW, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A - juris; BayVGH, Beschluss vom 2.2.2015 - 13 a ZB 14.50068 - juris).

Mit dem Begehren, die Beklagte zu verpflichten, ein Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland durchzuführen, ist die Klage dagegen unzulässig.

Für eine solche Klage fehlt das Rechtsschutzbedürfnis. Denn bereits die Anfechtungsklage bietet den erforderlichen, aber auch ausreichenden Rechtsschutz, so dass es einer weitergehenden Klage auf Verpflichtung der Beklagten nicht bedarf. Zwar ist bei fehlerhafter oder verweigerter sachlicher Entscheidung der Behörde im Falle eines gebundenen begünstigenden Verwaltungsakts regelmäßig die dem Rechtsschutzbegehren des Klägers allein entsprechende Verpflichtungsklage die richtige Klageart mit der Konsequenz, dass das Gericht die Sache spruchreif zu machen hat und sich nicht auf eine Entscheidung über die Anfechtungsklage beschränken darf, die im Ergebnis einer Zurückverweisung an die Verwaltungsbehörde gleichkäme (vgl. BVerwG, Urteil vom 7.3.1995 – BVerwG 9 C 264.94 –, juris). Dieser auch im Asylverfahren geltende Grundsatz kann jedoch auf behördliche Entscheidungen, die – wie hier – auf der Grundlage von § 27 a AsylVfG ergangen sind, keine Anwendung finden. Denn die Beklagte hat eine Entscheidung in der Sache noch gar nicht getroffen. Es ist auch nicht erkennbar, dass sie eine solche Entscheidung im Falle der Aufhebung des angegriffenen Bescheides verweigern würde. Vielmehr hat die Beklagte für den Fall ihrer Zuständigkeit, die nur anzunehmen ist, wenn in dem als zuständig bezeichneten Mitgliedstaat systemische Mängel bestehen und sich kein anderer vorrangig zuständiger Mitgliedstaat ausmachen lässt, von Amts wegen den Asylantrag sachlich zu prüfen. Eines auf Durchführung des Asylverfahrens gerichteten Verpflichtungsausspruchs oder gar eines „Durchentscheidens“ des Gerichts über den Asylantrag des Klägers bedarf es daher nicht (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris; dem folgend VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16.4.2014 – A 11 S 1721/13 –, juris; vgl. auch VG Düsseldorf, Urteil vom 10.2.2014 - 25 K 8830/13.A -, InfAuslR 2014, 159; VG Karlsruhe, Urteil vom 6.3.2012 - A 3 K 3069/11 -, BeckRS 2012, 53496 m. w. N.; VG Hamburg, Urteil vom 23.4.2014 – 10 A 1242/12 –, juris m. w. N.).

II.

Soweit sie zulässig ist, ist die Klage auch begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Die Beklagte stützt ihre Entscheidungen auf § 27 a und § 34 a AsylVfG. Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylVfG ordnet das Bundesamt die Abschiebung an, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll.

Diese Voraussetzungen liegen nicht (mehr) vor. Zwar ist die Beklagte aufgrund von Art. 13 Abs. 1, Art. 25 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180 – Dublin III VO –) zunächst zutreffend von einer Zuständigkeit Italiens ausgegangen, weil der Kläger aus einem Drittstaat kommend die italienische Grenze überschritten hat und italienischen Behörden nicht innerhalb zweier Wochen auf das Übernahmeersuchen der Beklagten reagiert haben.

Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist gem. § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Halbs. AsylVfG allerdings der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung. Zu diesem Zeitpunkt kann sich die Beklagte auf eine Zuständigkeit Italiens nicht mehr berufen, weil der unter Nummer 2. des angefochtenen Bescheides angeordneten Abschiebung des Klägers dorthin dauerhafte Hindernisse entgegenstehen (1.) und die Beklagte daher entweder – soweit noch möglich – Aufnahmeersuchen an andere infrage kommende Mitgliedsstaaten richten oder das Verfahren in eigener Zuständigkeit führen müsste (2.).

1. Die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebung gem. § 34 a Abs. 1 AsylVfG liegen nicht vor, weil nicht feststeht, dass die Abschiebung durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung der Kammer ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU–Grundrechtecharta mit sich brächten, und die Beklagte die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Klägers wirksam auszuschließen.

Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 21.12.2011 – Rs. C-411/10 u. a. –, Rn. 81 ff., juris) obliegt es den Mitgliedstaaten einschließlich ihrer nationalen Gerichte, einen Asylbewerber nicht an den im Sinne der Dublin-II-Verordnung zuständigen Mitgliedstaat zu überstellen, wenn ihnen nicht unbekannt sein kann, dass systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass der Kläger tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu werden (EuGH – a. a. O –, Rn. 106 und LS 2; ebenso Urteil der Großen Kammer vom 14.11.2013 – Rs. C-4/11, Puid –, NVwZ 2014, 129 Rn. 30). Diese Rechtsprechung des Gerichtshofs liegt auch der Neufassung von Art. 3 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung zugrunde (vgl. BVerwG, Beschluss vom 6.6.2014 – BVerwG 10 B 35.14 –, juris).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat derartige systemische Mängel für das Asylverfahren wie für die Aufnahmebedingungen der Asylbewerber in Fällen der Überstellung von Asylbewerbern im Rahmen des Dublin-Systems nach Griechenland der Sache nach bejaht (vgl. EGMR – Große Kammer, Urteil vom 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M.S.S. – NVwZ 2011, 413) und in Folgeentscheidungen insoweit ausdrücklich auf das Kriterium des systemischen Versagens (‚systemic failure‘) abgestellt (EGMR, Entscheidungen vom 2.4.2013 – Nr. 27725/10, Mohammed Hussein u. a. – ZAR 2013, 336 Rn. 78; vom 4.6.2013 – Nr. 6198/12, Daytbegova u. a. – Rn. 66; vom 18.6.2013 – Nr. 53852/11, Halimi – ZAR 2013, 338 Rn. 68; vom 27.8.2013 – Nr. 40524/10, Mohammed Hassan – Rn. 176 und vom 10.9.2013 – Nr. 2314/10, Hussein Diirshi – Rn. 138).

Ein „systemisches Versagen“ im Sinne dieser Rechtsprechung setzt allerdings nicht voraus, dass ein Systemfehler eine Vielzahl von Asylsuchenden betreffen muss. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer) hat in seinem Urteil vom 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel – vielmehr die dem Betroffenen drohende Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK durch eine drohende unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt und dazu ausgeführt, dass sich die Ursache der drohenden Gefahr weder auf das Schutzniveau auswirkt, das durch die Konvention garantiert wird, noch auf die sich aus der Konvention ergebenden Pflichten des Staates, der die Abschiebung der Person anordnet. Das dem gemeinsamen europäischen Asylsystem zugrunde liegende Prinzip gegenseitigen Vertrauens befreit diesen Staat danach gerade nicht davon, eine gründliche und individuelle Prüfung der Situation der betroffenen Person vorzunehmen und die Durchsetzung der Abschiebungsanordnung auszusetzen, falls die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung festgestellt werden sollte (EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 104). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist auch darauf hin, dass dieser Ansatz auch vom Supreme Court des Vereinigten Königreichs in dessen Urteil vom 19. Februar 2014 – (2014) UKSC 12 – (Rn. 56 ff.) verfolgt wurde.

Im Sinne dieser Rechtsprechung beschreibt der Begriff der „systemischen Mängel“ die Vorhersehbarkeit und Reproduzierbarkeit einer drohenden Rechtsverletzung. Ein systemischer Mangel ist danach eine Systemstruktur oder eine fehlende Struktur, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dazu führt, dass Fälle, die diese Systemstelle durchlaufen, Rechtsverletzungen verursachen (vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107).

In tatsächlicher Hinsicht geht die Kammer übereinstimmend mit dem Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte davon aus, dass aufgrund von Berichten international anerkannter Flüchtlingsschutzorganisationen und des Auswärtigen Amtes belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von erheblichen Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer in Italien bestehen und nicht auszuschließen ist, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden könnte (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 –, juris; EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 106 ff.; ausführlich zum derzeitigen Erkenntnisstand VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 13.11.2014 – 7a L 1718/14.A –, juris Rn. 18 ff.).

Nachdem nicht einmal die italienische Regierung in dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – Nr. 29217/12, Tarakhel – geltend gemacht hat, dass die Kapazitäten des SPRAR-Systems und der CARAs zusammengenommen in der Lage wären, den Großteil, geschweige denn die komplette Nachfrage nach Unterbringung zu absorbieren, zugleich aber auch keine durchgreifenden Ansätze zeigt, die offenkundigen Defizite wenigstens mittelfristig abzustellen, liegen zur Überzeugung der Kammer systemische Mängel im Sinne fehlender oder defizitärer Strukturen in der Ausgestaltung des Asylverfahrens in Italien vor, die bei ungehindertem Geschehensablauf auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dazu führen, dass nach Italien überstellte Flüchtlinge in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden oder sogar gar keine Unterkunft finden.

Die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dessen Urteil vom 4. November 2014 – a. a. O. –, dass die Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien „für sich genommen kein Hindernis für sämtliche Abschiebungen von Asylsuchenden in dieses Land darstelle“, ist angesichts der zugleich getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht dahingehend zu verstehen, dass dort keine systemischen Mängel im Sinne defizitärer Strukturen vorlägen, sondern dass im Gegenteil dem Grunde nach systemische Mängel bestehen, die auch geeignet sind, bei unbeeinflussten Geschehensablauf zu einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK zu führen. Denn der EGMR erachtet eine Überstellung (nur dann) als möglich, wenn eine Rechtsverletzung aufgrund dieser systemischen Mängel durch individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden ausgeschlossen ist. Die Garantieerklärung ist gerade die Einzelfallreaktion auf das systemische Defizit, das zwar ein Indikator, aber – wie vorstehend ausgeführt – keine hinreichende Bedingung für eine drohende Rechtsverletzung ist.

Deshalb kann aus Sicht der Kammer aus den Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Tarakhel nicht der Schluss gezogen werden, dass eine Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK ausgeschlossen ist, wenn Personen nach Italien rücküberstellt werden, die nicht zu den Gruppen besonders schutzbedürftiger Personen gehören. Denn die Verhältnisse, in die solche Personen überstellt werden, sind nicht besser als bei schutzbedürftigen Personen. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger gar keine Unterkunft in Italien findet, sogar höher als bei Familien mit Kindern. Denn Familien mit Kindern werden nach Angaben der italienischen Regierung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als besonders schutzbedürftige Personen behandelt und normalerweise in das SPRAR-Netzwerk übernommen, das ihnen anscheinend Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Italienischkurse, die Vermittlung an soziale Dienste, Rechtsberatung, Berufsbildung, Lehrstellen und Unterstützung bei der Suche einer eigenen Unterkunft garantiert (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 121). Derartige Garantien werden männlichen alleinstehenden Asylsuchenden wie dem Kläger nicht gegeben. Angesichts der offensichtlichen Kapazitätsengpässe sind seine Chancen auf Unterbringung deshalb sogar geringer, je mehr der ohnehin knappen Unterkünfte vorrangig an Familien mit Kindern vergeben werden.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Rechte aus Art. 3 EMRK Personen wie dem Kläger – anders als schutzbedürftigen Personen – nur ein derartig geringes Schutzniveau garantieren, dass es in seinem Fall keine Verletzung dieser Rechte darstellen würde, wenn er unter den beschriebenen Umständen nach Italien überstellt würde, ohne dass die italienischen Behörden eine Garantieerklärung abgeben, dass ihm eine angemessene Unterkunft bereitgestellt wird.

Soweit die 3. Kammer des EGMR mit Beschluss vom 5. Februar 2015 – Nr. 51428/10, A. M. E. – die Beschwerde eines jungen männlichen Asylsuchenden ohne abhängige Angehörige gegen seine Rückführung nach Italien als offensichtlich unbegründet verworfen hat, weil „kein hinreichend reelles und unmittelbares Risiko erkennbar [sei], das die Schwelle zu einer Eröffnung des Schutzbereichs von Artikel 3 EMRK erreicht“, vermag die Kammer dieser Auffassung nicht zu folgen. Der EGMR hat in dieser Entscheidung ohne weitere erkennbare Aufklärung des Sachverhalts „keinen Anhalt“ für die Vermutung gesehen, dass der Kläger außerstande sein würde, die „zur Verfügung stehenden Ressourcen für Asylsuchende“ in Anspruch zu nehmen oder dass die italienischen Behörden nicht in angemessener Weise auf seine Bedürfnisse eingehen würden (sämtlich zitiert nach EGMR, Beschluss vom 5.2.2015 – A. M. E. –, Rn. 36 des amtl. Abdrucks). Dies widerspricht den Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Tarakhel, dass jedenfalls hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Unterkünfte die Ressourcen in Italien derart knapp bemessen sind, dass es nicht genügt, Familien mit Kindern generell bevorzugt zu behandeln, sondern einer individuellen Zusicherung der geordneten Unterbringung bedarf. Dass angesichts dessen alleinstehenden jungen männlichen Asylsuchenden – denen nicht einmal die abstrakt zugesicherte bevorzugte Versorgung zuteil wird – offenkundig keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK droht, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar.

Die Kammer teilt insbesondere nicht die – nicht näher begründete – Auffassung der 3. Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, dass schon nicht ersichtlich sei, dass der Schutzbereich des Art. 3 EMRK berührt sei.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss zwar eine Misshandlung ein notwendiges Minimum an Intensität erreichen, um in den Anwendungsbereich von Artikel 3 EMRK zu fallen, wobei dieses Minimum von den Umständen des Einzelfalls abhängt, beispielsweise der Dauer der Behandlung, ihren physischen und psychischen Auswirkungen sowie, in einigen Fällen, Geschlecht, Alter und dem Gesundheitszustand des Betroffenen (vgl. EGMR, Urteile vom 26.10.1996 (Große Kammer) – Nr. 30210/96, Kudła –, Rn. 91, ECHR 2000-XI, und vom 21.1.2011 – Nr. 30696/09, M. S. S. –, Rn. 249). Weiterhin hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wiederholt entschieden, dass Artikel 3 EMRK die Vertragsparteien nicht allgemein dazu verpflichtet, jedem in ihrem Hoheitsgebiet ein Zuhause zur Verfügung zu stellen oder Flüchtlingen finanzielle Unterstützung zu gewähren, um ihnen einen bestimmten Lebensstandard zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteile vom 18.1.2001 (Große Kammer) – Nr. 27238/95, Chapman –, ECHR 2001-1 Rn. 99; vom 26.4.2005 – Nr. 53566/99, Müslim –, Rn. 85; und vom 21.1.2011 – M. S. S., a. a. O. –, Rn. 249). Zugleich hat der Gerichtshof aber betont, dass Asylsuchende als Angehörige einer besonders unterprivilegierten und verletzlichen Bevölkerungsgruppe besonderen Schutzes bedürfen. Auch das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass von einer Rückführung in sichere Drittstaaten betroffene Ausländer – anders als bei einer Rückführung in ihr Heimatland – regelmäßig weder auf verwandtschaftliche Hilfe noch auf ein soziales Netzwerk bei der Suche nach einer Unterkunft für die Zeit unmittelbar nach ihrer Rückkehr zurückgreifen können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 – a. a. O. –). Das betrifft den Kläger nicht weniger als eine junge Frau oder eine Familie mit Kindern.

In dieser Konstellation sieht auch der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung Art. 3 EMRK verletzt, wenn in einer Situation extremer materieller Armut und vollkommener Abhängigkeit von staatlicher Unterstützung der Betroffene in einer Lage schwerwiegender Entbehrungen oder Not, die nicht mit der Menschenwürde vereinbar ist, mit behördlicher Gleichgültigkeit konfrontiert wird (vgl. EGMR, Entscheidung vom 18.6.2009 – Nr. 45603/05, Budina –). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn die Verpflichtung, Asylsuchenden Unterkunft und anständige materielle Bedingungen zu gewähren, Bestandteil des positiven Rechts geworden und die Behörden gehalten sind, ihre eigene Gesetzgebung zu befolgen, und ein dahingehendes Unterlassen es dem Betroffenen unmöglich macht, diese Rechte in Anspruch zu nehmen und für seine grundlegenden Bedürfnisse zu sorgen.

In diesem Zusammenhang sind die in der Richtlinie 2013/33/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen – Aufnahmerichtlinie – (ABl. L 180 S. 96) genannten Mindeststandards für die Aufnahme von Asylsuchenden in den Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Nach Art. 17 und 18 der Aufnahmerichtlinie tragen die Mitgliedsstaaten dafür Sorge, dass Antragsteller ab Stellung des Antrags auf internationalen Schutz im Rahmen der Aufnahme materielle Leistungen in Anspruch nehmen können, die einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet. Bei vorübergehenden Unterbringungsengpässen erlaubt Art. 18 der Aufnahmerichtlinie für einen angemessenen Zeitraum, der so kurz wie möglich sein sollte, niedrigere Standards der Unterbringung, wobei allerdings unter allen Umständen die Grundbedürfnisse gedeckt werden müssen. Zu diesen Grundbedürfnissen rechnet die Kammer auch die Unterkunft an sich, die Versorgung mit Nahrung, elementare Hygienebedürfnisse und den Schutz vor Übergriffen und geschlechtsbezogener Gewalt einschließlich sexueller Übergriffe und Belästigung in Unterbringungszentren.

Es steht für die Kammer außer Zweifel, dass auch der Kläger diese Grundbedürfnisse tatsächlich hat. Dagegen ist nicht erkennbar, dass der von Art. 3 EMRK gewährte Schutz diese elementaren Grundbedürfnisse nicht auch für die Gruppe der alleinstehenden, jungen und gesunden männlichen Asylsuchenden, der der Kläger angehört, garantiert. Dass Art. 3 EMRK bei schutzbedürftigen Personen im Sinne von Art. 21 der Aufnahmerichtlinie die Berücksichtigung weiterer individueller Bedürfnisse gebietet – etwa hinsichtlich der gemeinsamen Unterbringung von Familien und des Schutzes der Kinder oder des Bedarfs besonderer medizinischer Versorgung –, steht dem nicht entgegen.

Auch der Wortlaut des Art. 17 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie:

„Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass die im Rahmen der Aufnahme gewährten materiellen Leistungen einem angemessenen Lebensstandard entsprechen, der den Lebensunterhalt sowie den Schutz der physischen und psychischen Gesundheit von Antragstellern gewährleistet.

Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass dieser Lebensstandard gewährleistet ist, wenn es sich um schutzbedürftige Personen im Sinne von Artikel 21 und um in Haft befindliche Personen handelt.“

erlaubt keine derartige Differenzierung am untersten Rand der Existenzsicherung. Vielmehr sind eine dauerhafte Obdachlosigkeit und Unterernährung ebenso wie Gewalt und gesundheitsgefährdende Zustände in Unterkünften geeignet, auch einen jungen, alleinstehenden und (bisher) gesunden Asylbewerber an Grenzen der körperlichen und seelischen Belastbarkeit zu bringen, vor deren Überschreitung ihn Art. 3 EMRK schützen soll.

Eine solche Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK droht dem Kläger aufgrund der systemischen Mängel des italienischen Asylverfahrens jedenfalls solange, wie die italienischen Behörden keine individuelle Garantieerklärung dafür abgeben, dass der Kläger einen Platz in einer Unterkunft erhält und seine grundlegenden Bedürfnisse an Nahrung, Hygiene und medizinischer Versorgung gedeckt sind. Das gilt insbesondere in den Fällen, in denen – wie hier – die italienischen Behörden schon das Übernahmeersuchen der Beklagte unbeantwortet gelassen haben und nicht ersichtlich ist, dass der Kläger überhaupt Zugang zu elementarer Versorgung haben wird.

2. Vor diesem Hintergrund ist mittlerweile auch die Ablehnung des Asylantrags als unzulässig rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten aus Art. 51 Abs. 1 Satz 1 1. Alt., Art. 47 Satz 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (ABl. C 364, S. 1). Danach hat jede Person ein Recht darauf, dass bei der Durchführung des Unionsrechts durch die Mitgliedsstaaten seine Sache innerhalb angemessener Frist behandelt wird.

Diese Verfahrensgarantie wird durch eine Situation dauerhafter Unklarheit verletzt, wenn die Beklagte mangels Zuständigkeit die Bearbeitung seines Schutzgesuchs ablehnt, zugleich aber die Voraussetzungen einer Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedsstaat nicht vorliegen, ohne dass dahingehend eine Änderung absehbar ist. Das ist hier der Fall.

Die Beklagte hat in ähnlich gelagerten Verfahren ausdrücklich darauf hingewiesen, dass von den italienischen Behörden aus praktischen Gründen eine individuelle Garantieerklärung nicht verlangt werden könne. Angesichts der hohen Zugangszahlen von Asyl- und Schutzsuchenden sei nicht abzusehen, in welche konkreten Einrichtungen rücküberstellte Antragsteller untergebracht würden, wenn noch gar nicht absehbar sei, ob und wann der Transfer stattfinde.

Angesichts dessen geht die Kammer davon aus, dass auf absehbare Zeit weder die Beklagte noch die italienischen Behörden willens und in der Lage sind, eine den Anforderungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte genügende individuelle Garantieerklärung abzugeben bzw. einzuholen.

Auch eine in weiteren Parallelverfahren vorgelegte – nicht datierte und nicht unterschriebene – Erklärung der italienischen Behörden erfüllt die Anforderungen des EGMR an eine individuelle Zusicherung der sicheren Unterbringung nicht.

Diese Erklärung mit dem Wortlaut

“The Italian Ministry of Interior hereby guarantees that all the families with minors, upon their transfer to Italy in accordance with the Dublin Regulation, will be kept together and accommodated in a facility in which the reception conditions are adapted to the family and to the age of the children. In order to ensure the best accommodation of the applicants, You are requested to inform us, at least 15 days before the supposed transfer will take place, so that Italy will communicate you the specific accommodation facility for the family group and the airport of arrival.
Please, indicate also in your communication that you need the specific guarantees according to the Tarakhel Judgement, by highlighting it in the transmission”

ist schon inhaltlich auf Familien mit Kindern beschränkt. Durch diese Beschränkung und die Bitte, im jeweiligen Überstellungsersuchen auf die Rechtsprechung des EGMR ausdrücklich Bezug zu nehmen, ist die Erklärung erkennbar weder auf eine flächendeckende Anwendung noch auf die Gruppe der alleinstehenden Asylsuchenden wie den Kläger gerichtet.

Sie ist allerdings auch hinsichtlich anderer Personen nicht individualisiert und bezeichnet auch keine konkrete Einrichtung, in der die jeweiligen Antragsteller nach ihrer Überstellung nach Italien konkret untergebracht werden sollen. Eine Prüfung, ob die Unterbringungsverhältnisse für die jeweiligen Antragsteller eine Gefährdung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK ausschließen würden, ist auf dieser Grundlage nicht möglich. Damit ist die Erklärung insgesamt unzureichend und ungeeignet eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-Grundrechtecharta im Falle einer Rückführung nach Italien dauerhaft auszuschließen. Angesichts der Erklärung des italienischen Innenministeriums ist auch nicht erkennbar, dass die italienischen Behörden die festgestellten Defizite in der Unterbringung von Asylsuchenden zeitnah beheben werden.