Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 26.08.2022, Az.: 2 Ws 181/22
Zeitliche Grenzen des Widerrufs der Strafaussetzung zur Bewährung aus einem nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss wegen Begehung einer neuen Straftat
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 26.08.2022
- Aktenzeichen
- 2 Ws 181/22
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2022, 40558
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2022:0826.2WS181.22.00
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 05.07.2022 - AZ: 71 StVK 40/22
Rechtsgrundlagen
- § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 und S. 2 Alt. 2 StGB
- § 460 StPO
Fundstelle
- NStZ-RR 2023, 136
Amtlicher Leitsatz
Die Aussetzung der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe zur Bewährung durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss kann auch dann gemäß § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB wegen der Begehung einer weiteren Straftat widerrufen werden, wenn die Tatzeit der weiteren Tat lediglich in die Bewährungszeit der zeitlich ersten, in die Gesamtstrafe einbezogenen Verurteilung fällt (Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung des Senats, Beschluss vom 24.08.2010, 2 Ws 285/10).
Tenor:
Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Hannover - 1. Strafvollstreckungskammer - vom 05.07.2022 (Az.: 71 StVK 40/22) wird auf seine Kosten als unbegründet verworfen.
Gründe
I.
1.
Der Verurteilte wurde durch Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 16.07.2018 (Az.: 81 Ds 630 Js 60969/18 - 57/18) wegen Diebstahls, Betruges sowie Computerbetruges (Datum der letzten Tat: 11.08.2017) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt, gebildet aus Einzelfreiheitsstrafen von zwei Monaten, vier Monaten und acht Monaten. Die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt und die Bewährungszeit auf drei Jahre festgesetzt. Weiterhin wurde er mit Strafbefehl des Amtsgerichts Aschaffenburg vom 30.06.2020 (Az.: 308 Ds 135 Js 13532/18) wegen Unterschlagung in neun Fällen (Datum der letzten Tat: 26.06.2018) mit einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Monaten belegt, gebildet aus Einzelfreiheitsstrafen von jeweils einem Monat. Die Vollstreckung dieser Gesamtfreiheitsstrafe wurde gleichfalls zur Bewährung ausgesetzt.
Mit Beschluss vom 17.03.2021 führte das Amtsgericht Delmenhorst diese Freiheitsstrafen im Wege der nachträglichen Gesamtstrafenbildung gemäß § 460 StPO unter Auflösung der jeweiligen Gesamtstrafen auf eine neue Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zurück und setzte deren Vollstreckung wiederum zur Bewährung aus. Der Beschluss ist seit dem 16.07.2021 rechtskräftig.
2.
Zwischenzeitlich war der Verurteilte durch Urteil des Amtsgerichts Hildesheim vom 20.01.2020 (Az.: 119 Ds 14 Js 18867/19) wegen Computerbetruges in vier Fällen, davon in zwei Fällen tateinheitlich mit Urkundenfälschung (Datum der Taten: März 2020) zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr verurteilt worden. Nach Verwerfung der hiergegen eingelegten Berufung durch Urteil des Landgerichts Hildesheim vom 17.07.2020 (Az.: 13 Ns 14 Js 18867/19) ist das Urteil seit dem 29.10.2020 rechtskräftig. Der Verurteilte befindet derzeit seit dem 11.10.2021 zur Verbüßung dieser Freiheitsstrafe in der JVA H.
Zum Zeitpunkt des Erlasses des Beschlusses vom 17.03.2021 über die Bildung einer nachträglichen Gesamtstrafe hatte das Amtsgericht Delmenhorst keine Kenntnis von der zwischenzeitlichen Verurteilung des Verurteilten durch das Amtsgericht Hildesheim oder die diesem Urteil zugrundeliegenden Taten.
3.
Mit Beschluss vom 05.07.2022 widerrief das Landgericht Hannover - Strafvollstreckungskammer - die dem Verurteilten im Gesamtstrafenbeschluss vom 17.03.2021 gewährte Aussetzung der Vollstreckung der hierin neu gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung, da der Verurteilte nach Aussetzung der Strafvollstreckung zur Bewährung durch das Urteil des Amtsgerichts Delmenhorst vom 16.07.2018 innerhalb der dortigen Bewährungszeit weitere Straftaten begangen habe, nämlich diejenigen, die anschließend zu seiner Verurteilung durch das Amtsgericht Hildesheim führten.
Hiergegen richtet sich die sofortige Beschwerde des Verurteilten vom 07.07.2022.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde ist unbegründet. Das Landgericht Hannover - Strafvollstreckungskammer - hat zurecht die Aussetzung der Vollstreckung der im Gesamtstrafenbeschluss vom 17.03.2021 gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr zur Bewährung widerrufen.
1.
Denn der Verurteilte ist innerhalb der vom Amtsgericht Delmenhorst festgelegten Bewährungszeit bereits wenige Monate nach seiner Verurteilung erneut mit einschlägigen Delikten straffällig geworden und hat hierdurch gezeigt, dass sich die in ihn gesetzte Erwartung, er werde auch ohne den Vollzug der Freiheitsstrafe künftig keine weiteren Straftaten begehen, nicht erfüllt hat und stattdessen auch in der Zukunft weitere Straftaten von ihm zu befürchten sind.
2.
a) Dem Widerruf steht nicht entgegen, dass zum Zeitpunkt der neuen Taten der in den Gesamtstrafenbeschluss des Amtsgerichts Delmenhorst einbezogene Strafbefehl des Amtsgerichts Aschaffenburg noch nicht ergangen war.
Bislang ist umstritten, ob der Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung aufgrund einer weiteren Straftat des Verurteilten allenfalls dann möglich sein könne, wenn diese Tat innerhalb der Bewährungszeit sämtlicher dem Gesamtstrafenbeschluss zugrundeliegender Verurteilungen liegt (so: Senat, 2 Ws 285/10, Beschluss v. 24.08.2010; LG Berlin, 528 Qs 90/13, Beschluss v. 16.09.2013; S/S-Kinzig, StGB, § 56f, Rn 5), oder ob es ausreicht, dass diese Tat innerhalb der Bewährungszeit des als erstes ergangenen einbezogenen Urteils, aber noch vor dem bzw. den nachfolgenden einbezogenen Entscheidungen begangen wurde (so: OLG Hamm, 3 Ws 304/14, Beschluss v. 18.09.2014; OLG Stuttgart, 4 Ws 293/18, Beschluss v. 12.12.2018; OLG Bremen, 1 Ws 111/19, Beschluss v. 17.09.2019).
b) Soweit es der Senat bislang aufgrund dogmatischer Bedenken für erforderlich gehalten hatte, dass eine neue Straftat des Verurteilten nur dann den Widerruf einer durch einen nachträglichen Gesamtstrafenbeschluss gewährten Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen könne, wenn die neue Straftat innerhalb der Bewährungszeit sämtlicher einbezogener Entscheidungen begangen wurde (Senat, 2 Ws 285/10, Beschluss v. 24.08.2010), hält der Senat hieran nicht mehr fest.
Denn die besseren Argumente sprechen dafür, die Widerrufsmöglichkeit auch auf Fallkonstellationen zu erstrecken, in denen die neue Tat nur in die Bewährungszeit der zeitlich ersten einbezogenen Entscheidung fällt (vgl. bzgl. allem folgenden: OLG Hamm, a.a.O., OLG Stuttgart, a.a.O., OLG Bremen a.a.O.).
aa) Bereits der Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB streitet hierfür. Denn als Voraussetzung für den Widerruf wird hier ausdrücklich lediglich auf die Begehung einer weiteren Straftat im Zeitraum zwischen der Strafaussetzung zur Bewährung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, nicht aber auf die Strafaussetzung in sämtlichen einbezogenen Urteilen Bezug genommen. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zur Neufassung des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB auch eine Fassung in Betracht gezogen worden war, nach der dementgegen nur Straftaten, die in der Zeit zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung "in den einbezogenen Urteilen" und der Gesamtstrafenentscheidung einen Widerruf ermöglichen sollten (vgl. BT-Drucks. 10/2720, S. 22), zeigt die letztlich geschaffene Regelung, dass der Gesetzgeber sich bewusst unter diesen Alternativen dafür entschieden hat, bereits in der Bewährungszeit einer der einbezogenen Entscheidungen begangene Straftaten für einen Widerruf der Bewährung ausreichen zu lassen (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58). Im Wortlaut des § 56f Abs. 1 S. 1 Alt. 2 StGB kommt daher auch der ausdrückliche Wille des Gesetzgebers zum Ausdruck.
bb) Nicht entgegen steht, dass durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf den Widerrufsgrund des § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB verwiesen wird, wonach eine erneute Straftat nur dann einen Widerruf begründen kann, wenn sie nach der zum Widerrufszeitpunkt maßgeblichen Aussetzungsentscheidung, im Falle einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung also nach dem Gesamtstrafenbeschluss, begangen worden ist. Denn § 56f Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB gilt ausweislich § 56f Abs. 1 S. 2 StGB nur entsprechend, ist also nur sinngemäß anzuwenden. Dies lässt durchaus die Auslegung zu, dass es nach der Bildung einer Gesamtstrafe nicht auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung, sondern auf die erstmalige Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung ankommt. Denn bereits von diesem Zeitpunkt an war der Verurteilte gewarnt und musste sich bewusst sein, dass neue Straftaten zu einer Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe führen können. Dass dem Verurteilten trotz dieser Kenntnis bis zu dem Zeitpunkt einer weiteren Verurteilung, aus der später gemeinsam mit der ersten Verurteilung eine Gesamtstrafe gebildet wird, eine Phase der Konsequenzlosigkeit weiterer Straftaten für die ihm gewährte Bewährung eingeräumt werden soll, erscheint als nicht nachvollziehbar. Dies gilt umso mehr, als dem Verurteilten auch die Begehung der zur zweiten, einbezogenen Verurteilung führenden Straftaten bereits zum Zeitpunkt seiner ersten Verurteilung bekannt war und er deshalb kein schutzwürdiges Vertrauen in den Bestand der Aussetzungsentscheidung haben konnte.
Hierfür spricht auch, dass § 57 Abs. 5 StGB für den Fall des Widerrufs der Aussetzung einer Reststrafe zur Bewährung gleicherweise die entsprechende Anwendung des § 56f StGB anordnet, hierbei aber ausdrücklich auch eine zwischen der Verurteilung und der Entscheidung über die Strafaussetzung begangene weitere Tat für einen Widerruf der Bewährung ausreichen lässt, sofern das aussetzende Gericht von der zwischenzeitlich begangenen Straftat keine Kenntnis hatte. Diese Wertung, dass auch vor der letzten Entscheidung über die Aussetzung der Freiheitsstrafe zur Bewährung begangene Straftaten zu einer Abänderung der Bewährungsentscheidung führen können, wenn zum Zeitpunkt dieser Entscheidung der einer Aussetzung entgegenstehende Umstand der Begehung weiterer Straftaten seit der Verurteilung nicht bekannt war, lässt sich auf die durch § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB gleichfalls angeordnete entsprechende Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 1 StGB übertragen. Denn auch hier liegt der Gewährung einer Strafaussetzung zur Bewährung die Unkenntnis von neuen Straftaten des Verurteilten zugrunde. Auf den Zeitpunkt der Gesamtstrafenbildung ist daher für die Möglichkeit eines Widerrufs aufgrund einer zwischen Verurteilung und Gesamtstrafenbildung begangenen weiteren Straftat nur dann abzustellen, wenn die Entscheidung über die Gesamtstrafenbildung in Kenntnis der zwischenzeitlich begangenen weiteren Tat erfolgte, das Gericht also bewusst trotz der erneuten Tatbegehung weiterhin eine positive Prognoseentscheidung getroffen hat.
cc) Schließlich spricht für die Auffassung, dass bereits die Begehung einer weiteren Straftat nach der zeitlich ersten einbezogenen Verurteilung für einen Widerruf der später durch eine Gesamtstrafenentscheidung gewährten Strafaussetzung zur Bewährung ausreicht, dass § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB sowohl auf eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung durch Beschluss gemäß § 460 StPO als auch auf eine Gesamtstrafenbildung im Rahmen der Einbeziehung einer vorangegangenen Entscheidung durch ein Urteil gemäß § 55 StGB Anwendung findet (vgl. BT-Drucks. 16/3038, S. 58).
Der Gesetzgeber zeigt durch diese Erstreckung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB auf die Fälle des § 55 StGB, dass es für den Widerruf einer zur Bewährung ausgesetzten Gesamtfreiheitsstrafe gerade nicht darauf ankommen soll, ob der Verurteilte die in ihn gesetzte Erwartung eines künftig straffreien Lebens in sämtlichen der Gesamtstrafenentscheidung zugrundeliegenden Urteilen enttäuscht hat (so noch: Senat a.a.O.), sondern bereits die Enttäuschung dieser Erwartung in der ersten Verurteilung zu einem Widerruf der in einer später unter Einbeziehung dieser Verurteilung gebildeten Gesamtfreiheitsstrafe erfolgten Aussetzung zur Bewährung führen kann und die von der ersten Verurteilung ausgehende Warnfunktion ausreichen soll.
Denn im Falle der Gesamtstrafenbildung gemäß § 55 StGB durch ein Urteil ist die zweite Verurteilung mit der Gesamtstrafenentscheidung identisch. Eine weitere Tat zwischen der Entscheidung über die Strafaussetzung in einem einbezogenen Urteil und der Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung, die gemäß § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB einen Widerruf begründen kann, liegt bei einer Gesamtstrafenbildung durch § 55 StGB daher praktisch immer nach der ersten, aber noch vor der zweiten Verurteilung.
Auf Gesamtfreiheitsstrafen, die gemäß § 55 StGB gebildet werden, wäre § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB daher ohne relevanten Anwendungsbereich, wenn zu fordern wäre, dass die weitere Tat nach sämtlichen Verurteilungen, aber noch vor Rechtskraft der Gesamtstrafenentscheidung begangen worden ist. Denkbar wäre eine Anwendung des § 56f Abs. 1 S. 2 Alt. 2 StGB insofern allenfalls noch bei der Begehung einer weiteren Straftat zwischen Verkündung und Rechtskraft der zweiten Verurteilung. Dass der Gesetzgeber aber den Anwendungsbereich derart einschränken wollte, ist nicht anzunehmen.
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 473 StPO.