Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.08.2022, Az.: 3 Ws 383/22

Gleiche Anforderungen an Inhalt von Beschlüssen der Strafvollstreckungskammer wie bei Strafurteilen; Verständlichkeit von gerichtlichen Entscheidungen; Darstellung persönlicher und gesetzlicher Grundlagen bei Anordnung einer Sicherungsverwahrung

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
30.08.2022
Aktenzeichen
3 Ws 383/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 32160
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2022:0830.3WS383.22.00

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - AZ: 75 StVK 51/22

Fundstelle

  • StV 2023, 115-116

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer nach § 119a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 StVollzG müssen den Anforderungen genügen, die § 267 StPO an die Begründung strafrechtlicher Urteile stellt.

  2. 2.

    Es ist erforderlich, dass die Gründe, die für die richterliche Überzeugungsbildung zum Sachverhalt und für dessen rechtliche Beurteilung maßgebend gewesen sind, so wiedergegeben werden, dass sie sowohl vom Betroffenen, der Vollzugsbehörde, als auch von künftigen Gerichten ohne aufwändige eigene Bemühungen erfasst und verstanden werden können.

  3. 3.

    Hierzu gehört zunächst die Darstellung, auf welcher Grundlage die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten erfolgt ist. Zur Zusammenstellung des Sach- und Streitstands gehört auch die Vorstellung der Person des Verurteilten, soweit sie für die Beurteilung der Behandlungsindikation und Therapieplanung erforderlich ist.

Tenor:

Der angefochtene Beschluss wird aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung - auch über die Kosten und Auslagen des Beschwerdeverfahrens - an die Strafvollstreckungskammer zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Landgericht Hannover verurteilte den Beschwerdeführer am 12. Dezember 2019 wegen schwerer sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung und mit Bedrohung zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren. Zugleich ordnete die Strafkammer die Sicherungsverwahrung an. Mit Beschluss vom 18. Mai 2020 verwarf der Bundesgerichtshof die gegen dieses Urteil gerichtete Revision des Beschwerdeführers mit der Maßgabe, dass die tateinheitliche Verurteilung wegen Bedrohung entfiel.

Seit dem 19. Mai 2020 befindet sich der Beschwerdeführer in Strafhaft, wobei die Freiheitsstrafe bis zum 23. Juni 2020 in der JVA H., im Anschluss bis zum 3. Mai 2021 in der JVA S. und seit dem 4. Mai 2021 wieder in der JVA H. vollstreckt wird. Zwei Drittel der Strafe werden am 25. Mai 2023 vollstreckt sein; als Strafende ist der 25. Mai 2025 notiert. Im Anschluss ist der Vollzug der Sicherungsverwahrung vorgesehen.

Mit dem angefochtenen Beschluss vom 10. Juni 2022 hat die 2. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover nach Einholung einer Stellungnahme der JVA H. vom 28. April 2022 festgestellt, dass die dem Verurteilten von der Vollzugsbehörde in dem Zeitraum vom 19. Mai 2020 bis zum 10. Juni 2022 angebotene Betreuung den gesetzlichen Anforderungen des § 66c Abs. 2, Abs. 1 Nr. 1 StGB entsprochen habe.

Gegen diesen Beschluss wendet sich der Verurteilte mit seiner Beschwerde.

II.

1. Die Beschwerde des Verurteilten ist zulässig, insbesondere nach § 119a Abs. 5 StVollzG statthaft und rechtzeitig erhoben.

2. Sie hat auch in der Sache (zumindest vorläufigen) Erfolg und führt zur Aufhebung des Beschlusses des Landgerichts sowie zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Entscheidung.

Denn der angefochtene Beschluss erweist sich als durchgreifend verfahrensfehlerhaft. Die tatsächlichen Feststellungen im Beschluss des Landgerichts genügen nicht den strengen gesetzlichen Anforderungen, im Verfahren der vollzugsbegleitenden gerichtlichen Kontrolle.

a) Nach § 119a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 2 StVollzG ist in der gerichtlichen Entscheidung der Sach- und Streitstand seinem wesentlichen Inhalt nach gedrängt zusammenzustellen (§ 119a Abs. 6 S. 3 iVm § 115 Abs. 1 S. 2). Bei der Frage, welche Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer zu stellen sind, ist in den Blick zu nehmen, dass nach § 119a Abs. 7 StVollzG alle Gerichte bei nachfolgenden Entscheidungen an die rechtskräftigen Feststellungen im Überprüfungsverfahren nach § 119a StVollzG gebunden sind. Vor diesem Hintergrund ist es unerlässlich, dass der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer die Reichweite der Bindungswirkung aus der Begründung heraus entnommen werden kann. Es handelt sich bei der gesetzlichen Darstellungsverpflichtung nach § 119a Abs. 6 Satz 3 i.V.m. § 115 Abs. 1 Satz 2 StVollzG bereits deshalb nicht um eine die Qualität der juristischen Arbeitsweise charakterisierende Stilfrage, sondern um einen elementaren Verfahrensbestandteil (KG Berlin, Beschluss vom 25. Februar 2020 - 2 Ws 183/19 -, juris).

Daher ist es erforderlich, dass die Gründe, die für die richterliche Überzeugungsbildung zum Sachverhalt und für dessen rechtliche Beurteilung maßgebend gewesen sind, in der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer so wiedergegeben werden, dass sie sowohl vom Betroffenen, der Vollzugsbehörde, als auch von künftigen Gerichten ohne aufwändige eigene Bemühungen erfasst und verstanden werden können (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Beschluss vom 16. Dezember 2021 - 2 Ws 111/21 -, juris; KG Berlin, Beschl. v. 6. Dezember 2018 - 2 Ws 233/18 -, juris; BeckOK Strafvollzugsrecht Bund, Graf, 21. Edition, Stand: 01.02.2022, § 119a, Rn. 9). Hierzu gehört zunächst die Darstellung, auf welcher Grundlage die Anordnung der Sicherungsverwahrung gegen den Verurteilten erfolgt ist (OLG Koblenz, Beschluss vom 6. Februar 2020 - 4 Ws 859/19 -, juris). Es bedarf weiter einer nachvollziehbaren Darstellung des Störungsbildes und der Defizite des Gefangenen, denen mit der Behandlung begegnet werden soll, der Wiedergabe des Ergebnisses der Behandlungsuntersuchung und aller - den Überprüfungszeitraum betreffenden - Vollzugspläne; soweit indizierte Betreuungsmaßnahmen nicht angeboten wurden oder angebotene Betreuungsmaßnahmen nicht umgesetzt werden konnten, sind die Gründe hierfür differenziert zu erläutern (vgl. KG Berlin a.a.O). Zur Zusammenstellung des Sach- und Streitstands gehört auch die Vorstellung der Person des Verurteilten, soweit sie für die Beurteilung der Behandlungsindikation und Therapieplanung erforderlich ist (OLG Koblenz a.a.O.). Beschlüsse der Strafvollstreckungskammer nach § 119a Abs. 1 und Abs. 2 Satz 2 StVollzG müssen insgesamt den Anforderungen genügen, die § 267 StPO an die Begründung strafrechtlicher Urteile stellt (Brandenburgisches Oberlandesgericht a.a.O., KG Berlin a.a.O.), und sind Bezugnahmen daher grundsätzlich nicht statthaft.

b) Den dargestellten Anforderungen wird der angefochtene Beschluss in mehrfacher Hinsicht nicht gerecht.

Der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist bereits nicht zu entnehmen, warum gegen den Beschwerdeführer überhaupt die Maßregel der Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Die Beschlussgründe erschöpfen sich in einer kurzen Wiedergabe des der Verurteilung vom 12.12.2019 zugrundeliegenden Tatgeschehens sowie dem Hinweis, dass bei dem Verurteilten ein lange eingeschliffenes Verhaltensmuster vorliege und dieser Merkmale einer hoch ausgeprägten Psychopathie aufweise. Die erforderlichen Ausführungen zu § 66 Abs. 1 Nr. 2-4 StGB, mithin zu den Vorstrafen des Beschwerdeführers, zu der Frage, ob er in der Vergangenheit schon wegen Straftaten der in § 66 Abs. 1 Nr. 1 StGB genannten Art Freiheitsstrafe verbüßt oder sich im Vollzug einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung befunden hat und warum die Gesamtwürdigung seiner Taten ergibt, dass er infolge eines Hanges zu erheblichen Straftaten, namentlich zu solchen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich schwer geschädigt werden, zum Zeitpunkt der Verurteilung für die Allgemeinheit gefährlich war, fehlen jedoch gänzlich.

Darüber hinaus mangelt es insgesamt an einer hinreichenden Darlegung der Person des Verurteilten, denn diese wäre hier erforderlich gewesen, um überhaupt eine Beurteilung der Behandlungsindikation und Therapieplanung vornehmen zu können.

Der Beschluss lässt ferner eine hinreichende Wiedergabe der den Überprüfungszeitraum betreffenden Vollzugspläne vermissen. Insoweit erschöpfen sich die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer in einer nicht ausreichenden stichwortartigen Mitteilung der "im Vollzugsplan" vorgesehenen Behandlungsziele und Behandlungsmaßnahmen sowie der Angabe, der Verurteilte sei mit der Vollzugsplankonferenz vom 16. März 2021 der sozialtherapeutischen Abteilung der JVA Hannover zugewiesen worden. Diese Schilderung legt zwar nahe, dass es sich insoweit um den ersten, nach Durchführung des Aufnahmeverfahrens erstellten Vollzugsplan handelte; die angefochtene Entscheidung lässt jedoch die Angabe vermissen, ob eine Fortschreibung des erwähnten Vollzugsplanes erfolgte und wenn ja, welchen Inhalt die Fortschreibung hatte. Dies wäre vorliegend erforderlich gewesen, denn es erscheint äußerst naheliegend, dass im maßgeblichen Prüfungszeitraum eine Fortschreibung des Vollzugsplanes erfolgte. Zwar ist den Beschlussgründen nicht zu entnehmen, welche Frist zur Fortschreibung des Vollzugsplanes durch die Justizvollzugsanstalt festgelegt wurde. § 9 Abs. 3 S. 2 NJVollzG enthält zudem keine gesetzliche Frist, innerhalb derer der Vollzugsplan fortzuschreiben ist. Dies bleibt vielmehr der Anstalt vorbehalten, die je nach Vollzugsdauer und Umständen des Einzelfalles die Überprüfungsfrist festzulegen hat (vgl. OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 04935). Insoweit wird jedoch teilweise eine Höchstfrist von nur 6 Monaten angenommen und nur bei sehr langen Haftstrafen wird eine Jahresfrist für angemessen erachtet (vgl. BeckOK Strafvollzug Nds/Gescher/Gittermann, 19. Ed. 1.3.2022, NJVollzG § 9 Rn. 23).

Es mangelt weiter an einer hinreichend präzisen Wiedergabe, welche Diagnose bei dem Verurteilten gestellt wurde und welche Persönlichkeitscharakteristika bei ihm vorliegen. Der pauschale Hinweis darauf, der Verurteilte weise Merkmale einer hoch ausgeprägten Psychopathie auf, ist unzureichend, denn der Beschluss lässt die Wiedergabe der entsprechenden Urteilsausführungen ebenso vermissen wie die Mitteilung der genauen Ergebnisse des in der JVA durchgeführten diagnostischen Verfahrens sowie der Ausführungen des im Erkenntnisverfahrens mit der Exploration des Beschwerdeführers beauftragten Sachverständigen.

Schließlich erweist sich auch die Darstellung der dem Verurteilten im Überprüfungszeitraum zugekommenen Betreuungsmaßnahmen als unzureichend. Insoweit ist im Ausgangspunkt zu bemerken, dass dem Senat die Beurteilung, ob die erwähnten Behandlungsangebote den gesetzlichen Anforderungen aus § 66c StGB entsprochen haben, angesichts der defizitären Beschreibung der Person des Verurteilten im angefochtenen Beschluss nicht möglich ist. Zudem fehlen jegliche Informationen dazu, wann die erwähnten Einzelgespräche mit der zuständigen Psychologin begonnen wurden und in welchem Zeitraum der Verurteilte an der persönlichkeitsorientierten Gruppe teilnahm. Ob und wenn ja welche Betreuungsangebote dem Verurteilten während des Vollzuges der Freiheitsstrafe vom 23. Juni 2020 bis zum 3. Mai 2021 in der JVA S. gemacht wurden, bleibt unklar. Zudem fehlt die erforderliche Mitteilung, warum die psychotherapeutische Einzeltherapie am 20. Dezember 2021 zunächst beendet werden musste.

c) Die aufgezeigten Mängel nötigen zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung an die Strafvollstreckungskammer zur erneuten Entscheidung.

Ein dies gestattender Verfahrensmangel liegt im Kontrollverfahren gem. § 119a StVollzG trotz der dem Senat an sich zustehenden umfassenden Prüfungs- und Entscheidungskompetenz vor, wenn die erstinstanzliche Entscheidung Mängel aufweist, die dazu führen, dass von einer den maßgeblichen Sachverhalt berücksichtigenden und den relevanten Verfahrensgegenstand betreffenden Sachentscheidung nicht mehr gesprochen werden kann (KB Berlin a.a.O., Koblenz a.a.O.). So liegt der Fall hier. Denn anhand der Entscheidungsbegründung wird deutlich, dass die Strafvollstreckungskammer elementare Bestandteile des ihr gesetzlich zugewiesenen Prüfungsauftrages missachtet hat. Eine erstmalige Sachentscheidung durch den Senat würde insoweit eine Umgehung des gesetzlich vorgesehenen Instanzenzuges darstellen und den verfassungsrechtlich verbürgten Anspruch des Verurteilten auf Gewährung umfassenden Rechtschutzes verkürzen.

Für die neu zu treffende Entscheidung weist der Senat darauf hin, dass eine Ausdehnung des zutreffend festgestellten Beginns des gesetzlich bestimmten Überprüfungszeitraums über zwei Jahre hinaus nicht in Betracht kommt (Senat, Beschluss vom 23. Juni 2022, Az.: 3 Ws 147/22). Im Übrigen wird die Strafvollstreckungskammer bei der neu zu treffenden Entscheidung das Gebot bestmöglicher Sachaufklärung zu beachten haben. Dieses erfordert eine lückenlose Aufklärung der Behandlungsangebote im gesamten Prüfungszeitraum, d.h. auch des Zeitraumes vor Antritt einer Sozialtherapie. Hierzu bedarf es jedenfalls der Einholung sämtlicher Vollzugspläne im Prüfungszeitraum sowie etwaiger erstatteter Gutachten im Verlaufe des Vollzuges.