Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.09.2007, Az.: L 4 KR 242/05
Schadensersatzansprüche einer gesetzlichen Krankenkasse gegen einen Apotheker wegen der Abgabe eines Medikaments aufgrund gefälschter Rezepte; Auswirkungen der Einlösung eines gefälschten Rezepts durch den Apotheker; Einordnung der Vorlage eines Kassenrezeptes an einen Apotheker durch einen Versicherten als Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages zwischen dem Apotheker und der Krankenkasse des Versicherten; Folgen einer Übergabe des Medikaments an den Versicherten; Annahme des Angebots zum Abschluss eines Kaufvertrages zu den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung durch den Apotheker; Voraussetzungen für eine Verpflichtung des Apothekers zur Nichtabgabe eines Medikaments
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 12.09.2007
- Aktenzeichen
- L 4 KR 242/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2007, 40391
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2007:0912.L4KR242.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hannover - 29.06.2005 - AZ: S 11 KR 1313/01
Rechtsgrundlagen
- § 276 Abs. 1 S. 1 Hs. 1 BGB
- § 276 Abs. 2 BGB
- § 433 BGB
- § 2 Abs. 2 S. 2 ApBetrO
- § 17 Abs. 5 S. 2 u. 3 ApBetrO
Fundstellen
- AB 2008, 14
- GesR 2008, 100-102
Redaktioneller Leitsatz
Eine gesetzliche Krankenkasse hat gegen einen Apotheker einen Anspruch auf Schadensersatz, wenn dieser Medikamente aufgrund gefälschter Rezepte abgibt und hierdurch schuldhaft vertragliche leistungsbegründende Nebenpflichten der zwischen ihnen geschlossenen Kaufverträge über Arzneimittel verletzt.
Tenor:
Die Berufung des Beklagten wird zurückgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 2005 geändert. Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin insgesamt 175.479,92 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 12. Juli 2001 zu zahlen.
Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin aus beiden Rechtszügen.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft Schadensersatzansprüche einer gesetzlichen Krankenkasse gegen einen Apotheker wegen der Abgabe von INTRON A PEN 30 MIO ILO 8 ST N2 (im Folgenden INTRON A) aufgrund gefälschter Rezepte.
Der bei der Klägerin versicherte E. (im Folgenden: Versicherter) ist HIV-positiv. In der streitbefangenen Zeit wurde er von dem Arzt Dr. F. ohne Verwendung des Medikaments INTRON A mit einer dreifachen Kombinationstherapie behandelt. Der Versicherte benötigte INTRON A also nicht.
Erstmals am 14. Oktober 1999 suchte er den Facharzt für Allgemeinmedizin Dr. G. in H. auf. Der Versicherte gab an, dass er im Charité Universitätsklinikum in Berlin behandelt werde und legte ein gefälschtes Schreiben einer Ärztin Dr. I., Charité Universitätsklinikum in Berlin, vom 1. August 2000 vor, wonach er seit 1990 HIV-positiv sei und mit dem Medikament INTRON A behandelt werde. Dr. G. verließ sich auf diese Angaben, untersuchte den Versicherten nicht selbst und stellte ihm am 14. Oktober 1999 ein Kassenrezept auf INTRON A aus.
Der Versicherte übergab das Rezept seinem Bekannten J ... J. fälschte das Rezept, indem er mit Kugelschreiber vor "INTRON A" den Zusatz "4x" einfügte. In der K. -Apotheke in Hannover legte er das gefälschte Rezept vor und erhielt auf das gefälschte Rezept 4x das Medikament INTRON A. Die Kosten hierfür betrugen 24.514,92 DM (also 4x den Preis einer Einzelpackung INTRON A á 6.128,73 DM).
J. gelang es, das Medikament an die Großhandelsfirma L. Pharma Handel AG & Co. zu verkaufen, weil er es zu einem niedrigeren Preis als handelsüblich anbot. Die Firma L. Pharma Handel AG & Co. nahm das Medikament in ihren Bestand ohne Rücksicht darauf, dass es kühlkettenpflichtig ist und ohne die Einhaltung der Kühlkette geprüft zu haben.
Dieser Vorgang wiederholte sich. J. löste in der K. -Apotheke gefälschte Rezepte von Dr. G. vom 28. Oktober 1999, 11. November 1999, 23. November 1999, 9. Dezember 1999, 6. Januar 2000, 17. Januar 2000, 1. Februar 2000, 17. Februar 2000, 2. März 2000, 16. März 2000, 30. März 2000, 13. April 2000 und 18. April 2000 ein. Am 14. Dezember 1999 löste er ein ungefälschtes Rezept von Dr. G. ein. Die K. -Apotheke rechnete insgesamt einen Betrag von 349.337,61 DM gegenüber der Klägerin ab, die diesen Betrag auch bezahlte.
Der Beklagte behauptet, dass der Inhaber der K. -Apotheke nach Vorlage des Rezeptes vom 18. April 2000 Rücksprache mit Dr. G. gehalten und die Klägerin mit Schreiben vom 9. Mai 2000 entsprechend informiert und ihr mitgeteilt habe, dass er ein auf den Versicherten ausgestelltes Rezept über INTRON A wegen des Verdachts auf eine Unregelmäßigkeit nicht mehr eingelöst habe.
Ab Mai 2000 löste J. die von ihm gefälschten Rezepte von Dr. G. für den Versicherten bei der M. -Apotheke in Hannover ein. Inhaber der M. -Apotheke ist der Beklagte. Er war Mitglied des Landesapothekerverbandes Niedersachsen.
Es handelte sich um die Rezepte vom 22. Mai 2000, 30. Mai 2000, 8. Juni 2000 (2 Rezepte), 6. Juli 2000, 20. Juli 2000, 4. August 2000, 17. August 2000, 29. August 2000, 12. September 2000, 26. September 2000, 10. Oktober 2000, 24. Oktober 2000 und 21. November 2000. Der Gesamtpreis betrug 343.208,88 DM. Der Beklagte rechnete diesen Betrag gegenüber der Klägerin ab, die ihn auszahlte.
Nachdem sich eine Regelmäßigkeit bei der Rezepteinlösung eingestellt hatte, handelte der Beklagte mit der Firma L. Pharma Handel AG & Co. Rabatte in Höhe von 252,94 DM pro Packung N2 aus.
Im November 2000 teilte die Kassenärztliche Vereinigung Niedersachsen Dr. G. im Wege des sog. Mailing-Systems mit, dass ihm eine Überschreitung des praxisbezogenen Medikamentenbudgets drohe. Die daraufhin von Dr. G. durchgeführten Recherchen beim Charité Universitätsklinikum in Berlin ergaben, dass dort keine Ärztin Dr. I. bekannt war. Die Klägerin beantragte nun polizeiliche Ermittlungen. Es kam zur Anklage gegen den Versicherten und J ... Beide wurden vom Landgericht Hannover durch Urteil vom 3. Juni 2003 zu mehrjährigen Freiheitsstrafen wegen Betruges und Urkundenfälschung verurteilt (Az.: StK 2/40a 27/02).
Am 12. Juli 2001 hat die Klägerin beim Sozialgericht (SG) Hannover Klage gegen den Beklagten erhoben und seine Verurteilung zur Zahlung von 343.208,88 DM nebst Zinsen begehrt. Sie meint, dass dem Beklagten die handschriftlichen Änderungen der Rezepte ebenso hätten auffallen müssen wie die ungewöhnlich hohe Menge des verordneten Medikamentes INTRON A. In einer Packung INTRON A seien 8 PENS mit je 30 Mio. Einheiten. Bei einer bereits als hoch einzuschätzenden Dosierung von 15 Mio. Einheiten täglich hätte 1 PEN etwa 2 Tage gereicht. Die ursprünglich verordnete Menge von 8 PENs hätte demnach etwa 2 Wochen vorgehalten. In diesem Rhythmus habe Dr. G. die Rezepte ausgestellt. Die Verordnung der vierfachen Menge hätte dem Beklagten bzw. seinen Mitarbeitern auffallen und Veranlassung zur Rücksprache mit Dr. G. geben müssen. Eine solche Rücksprache mit Dr. G. habe der Beklagte aber pflichtwidrig unterlassen. Damit habe er nicht nur gegen den zwischen dem Apothekerverband Niedersachsen e. V. und den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen in Niedersachsen geschlossenen Arzneimittel-Lieferungsvertrag (Nds.ALV) verstoßen, sondern auch gegen die Bestimmungen der Apothekenbetriebsordnung (ApBetrO). Zwar seien die Krankenkassen nach § 4 Abs. 9 Satz 1 Nds.ALV verpflichtet, gefälschte, unbefugt oder missbräuchlich ausgestellte Verordnungen zu bezahlen, sofern der Apotheker die Fälschung oder missbräuchliche Ausstellung nicht habe erkennen können. Diese Zahlungsverpflichtung entfalle jedoch gemäß § 4 Abs. 9 Satz 2 Nds.ALV, wenn der Apotheker begründeten Zweifeln nicht nachgegangen sei. So liege es hier.
Der Beklagte meint demgegenüber, dass nach dem Erscheinungsbild der Rezepte für ihn keine Veranlassung zum Misstrauen bestanden habe. Die Bezeichnungen "4x" seien jeweils mit einem Kugelschreiber der Farbe eingefügt worden, die auch Dr. G. bei seiner Unterschrift auf den Rezepten verwendet habe. Außerdem komme es häufig vor, dass der behandelnde Arzt ein Rezept, in dem die Mengenangabe bewusst offen gelassen werde, handschriftlich ergänze. Im Übrigen habe der Mitarbeiter N. der K. -Apotheke bei der erstmaligen Vorlage eines von Dr. G. ausgestellten Rezeptes in dessen Praxis angerufen und dort bestätigt bekommen, dass es mit dem Rezept seine Richtigkeit habe. Hätte er - der Beklagte - seinerseits eine derartige Anfrage an Dr. G. gerichtet, hätte er exakt dieselbe Information erhalten. Die Klägerin trage ein erhebliches Mitverschulden an dem entstandenen Schaden. Sie habe die ihr obliegende Prüfungspflicht über die abgerechneten Rezepte nicht ordnungsgemäß wahrgenommen, sondern massiv verletzt. Gleiches gelte für die Großhandelsfirma L. Pharma Handel AG & Co., die dem Beklagten die Medikamente geliefert und gleichzeitig die Medikamente auf dem "grauen" Markt von den Betrügern zu geringeren Preisen zurückgekauft habe.
Das SG Hannover hat der Klage durch Urteil vom 29. Juni 2005 überwiegend stattgegeben und den Beklagten zur Zahlung von 131.609,94 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab dem 12. Juli 2001 an die Klägerin verurteilt. In Höhe dieses Betrages stehe der Klägerin gegen den Beklagen einöffentlich-rechtlicher Anspruch auf Erstattung des Preises der gefälschten Verordnungsmenge zu. Entgegen § 4 Abs. 9 Satz 2 Nds.ALV sei der Beklagte begründeten Zweifeln in Bezug auf die vorgelegten Rezepte in der Zeit vom 22. Mai bis 21. November 2000 nicht nachgegangen. Die Verfälschung der Verordnungsmenge sei für jedermann auf den ersten Blick erkennbar. Bei gehöriger Sorgfalt habe der Beklagte daher Zweifel an der Richtigkeit der verordneten Menge des Arzneimittels haben müssen. Diesen Zweifeln hätte er nachgehen müssen. Ein eventuelles Verschulden seiner Mitarbeiter müsse er sich entsprechend § 278 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) zurechnen lassen. Nach § 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV seien Änderungen bezogen auf die Menge des verordneten Medikamentes nur abrechnungsfähig, wenn die Änderung vom ausstellenden Arzt mit Unterschrift und Datum auf der Vorderseite des Rezeptformulars bestätigt worden sei. Ein Mitverschulden der Klägerin liege nicht vor. Angesichts der Vielzahl der zu bearbeitenden ärztlichen Rezepte erfolge eineÜberprüfung nur auf maschinellem Wege mit Hilfe sog. Images. Eine visuelle Überprüfung durch Mitarbeiter der Klägerin finde weder statt noch sei sie dazu verpflichtet. Der Beklagte sei der Klägerin aber nur insoweit erstattungspflichtig, als die Klägerin über die ursprüngliche Verordnung hinaus zur Zahlung herangezogen worden sei. Der Zinsanspruch beruhe auf §§ 288 Abs. 1 Satz 2 und 291 Satz 1 BGB.
Gegen dieses der Beklagten am 29. Juli 2005 und der Klägerin am 1. August 2005 zugestellte Urteil haben beide Beteiligten am 24. August 2005 Berufung eingelegt.
Der Beklagte macht u.a. geltend, die Klägerin habe die in§ 10 Nds.ALV geregelten Bestimmungen über sachlich-rechnerische Berichtigungen, Taxbeanstandungen und Beanstandungen über fehlende Verordnungsblätter nicht eingehalten. Dabei handele es sich im Hinblick auf die Beanstandung von Arzneimittellieferungen um abschließende vertragliche Regelungen, die keinen Raum mehr für einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch ließen. Die handschriftliche Änderung von Mengenangaben auf Rezepten sei durchaus üblich. Vor diesem Hintergrund scheide eine Verletzung von Sorgfaltspflichten aus. Die verfälschte Verordnungsmenge sei unter Berücksichtigung der Produktinformationen zu dem Medikament INTRON A auch plausibel. Zu Unrecht habe das SG das erhebliche Mitverschulden der Großhandelsfirma L. Pharma Handel AG & Co. an dem Schaden unberücksichtigt gelassen. Ihr Verhalten habe auf den Sorgfaltsmaßstab Einfluss, den der Beklagte gegen sich gelten lassen müsse. Soweit es nach den Bekundungen der Mitarbeiter der Großhandelsfirma L. Pharma Handel AG & Co. üblich sei, Medikamente vom grauen Markt so günstig wie möglich von Vertriebsfirmen zu beziehen, werde dem widersprochen. Für den Beklagten sei es unter den gegebenen Umständen nicht erkennbar gewesen, ob und inwieweit für das Medikament INTRON A ein grauer Markt vorhanden gewesen sei. Denn die darauf angewiesenen Patienten hätten INTRON A ohne weiteres von den Krankenkassen oder über das Sozialamt erhalten. Obwohl der Inhaber der K. -Apotheke die Klägerin mit Schreiben vom 9. Mai 2000 darüber informiert habe, dass er ein auf den Versicherten ausgestelltes Rezept über INTRON A nach Rücksprache mit dem Dr. G. nicht eingelöst habe, habe sich die Klägerin nicht zu Prüfungen veranlasst gesehen. Auch deshalb trage sie ein Mitverschulden an dem entstandenen Schaden. Der Beklagte habe das seinerseits Mögliche getan und könne nicht in Anspruch genommen werden.
Der Beklagte, Berufungskläger und Berufungsbeklagte beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen sowie
- 2.
die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Die Klägerin, Berufungsklägerin und Berufungsbeklagte beantragt,
- 1.
das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 29. Juni 2005 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin insgesamt 175.479,92 Euro nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz ab dem 12. Juli 2001 zu zahlen sowie
- 2.
die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.
Sie trägt vor, dass der Beklagte erheblich gegen seine Pflichten aus dem Nds. ALV und dem pharmazeutischen Berufsrecht verstoßen habe, als er von Mai bis November 2000 die 14 auf den Versicherten ausgestellten Rezepte eingelöst habe, ohne wegen der handschriftlichen Änderungen auf dem Rezeptformular mit Dr. G. Rücksprache zu nehmen. Dazu habe in Anbetracht der Umstände erhebliche Veranlassung bestanden. Vor diesem Hintergrund sei sie - die Beklagte - zur Zahlung auf die vom Beklagten vorgelegten Rezepte nicht verpflichtet gewesen. Der Beklagte habe die ohne Rechtsgrund erhaltenen Beträge zurückzuerstatten. Das gelte im Hinblick auf die gesamten Zahlungen, weil schon eine erste Rückfrage bei Dr. G. offenbart hätte, dass die Rezeptänderungen nicht von ihm stammten.
Die Prozessakten der ersten und zweiten Instanz, die Verwaltungsakten der Klägerin und die Akten der Staatsanwaltschaft Hannover: StK 2/40a 27/02 haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Auf sie wird wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des Vorbringens der Beteiligten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Berufung des Beklagten ist zulässig, aber nicht begründet.
Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.
Der Klägerin steht ein Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von insgesamt 175.479,92 Euro (= 343.208,88 DM) nebst 5 % Zinsenüber dem Basiszinssatz ab dem 12. Juli 2001 wegen schuldhafter Verletzung vertraglicher leistungsbegründender Nebenpflichten aus Positiver Vertragsverletzung der zwischen ihnen geschlossenen Kaufverträgeüber Arzneimittel zu.
Zwischen dem Beklagten und der Klägerin sind Kaufverträge bürgerlich-rechtlicher Natur über die Versorgung des Versicherten mit INTRON A zustande gekommen.
Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung liegt in der Vorlage eines Kassenrezeptes an einen Apotheker durch einen Versicherten bzw. seinen Beauftragten das Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages zwischen dem Apotheker und der Krankenkasse des Versicherten. Dieses Angebot schließt die Beachtung der Rechte und Pflichten der Vertragspartner gemäß dem Recht der gesetzlichen Krankenversicherung und der Verträge zwischen den Krankenkassen und den Verbänden der Apotheker ein (Bundessozialgericht -BSG-, Urteil vom 3. August 2006, AZ: B 3 KR 6/06 R mwN, veröffentlicht auf der Internetseite des BSG). Mit der Übergabe des Medikaments an den Versicherten bzw. seinen Beauftragten nimmt der Apotheker das Angebot zum Abschluss eines Kaufvertrages zu den Bedingungen der gesetzlichen Krankenversicherung an. Die Rechte und Pflichten aus dem Kaufvertrag ergeben sich aus § 433 BGB in Verbindung mit § 129 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) einschließlich der zwischen den Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und den Landesapothekerverbänden geschlossenen Verträge. Das gilt jedenfalls dann, wenn der Apotheker - wie hier - Mitglied des Landesapothekerverbandes ist.
Mit der Vorlage der von Dr. G. ausgestellten Rezepte durch den Versicherten bzw. durch J. und der Aushändigung der Medikamente durch den Beklagten sind jeweils Kaufverträge zwischen der Klägerin und dem Beklagten auf der Basis des zwischen den niedersächsischen Landesverbänden der gesetzlichen Krankenkassen und dem Landesapothekerverband Niedersachsen e.V. geschlossenen und ab 1. Januar 1997 geltenden Niedersächsischen Arznei-Liefervertrages (Nds.ALV) über das Medikament INTRON A zustande gekommen, und zwar handelt es sich um 14 Einzelverträge.
Bei der Abwicklung dieser 14 Kaufverträge hat der Beklagte nach den Grundsätzen des Rechtsinstituts der Positiven Vertragsverletzung leistungsbezogene Nebenpflichten verletzt.
Das Rechtsinstitut der Positiven Vertragsverletzung ist in dem hier streitbefangenen Zeitraum des Jahres 2000 anwendbar. Es ist gewohnheitsrechtlich entwickelt worden und war im Jahre 2000 noch nicht kodifiziert. Erst seit dem 1. Januar 2002 ist es in § 280 Abs. 1 BGB gesetzlich geregelt. Nach § 69 Satz 1 und 3 SGB V gelten für Apotheker im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung die Vorschriften des BGB entsprechend, soweit die Vorschriften des BGB mit den Vorgaben des § 70 SGB V und den übrigen Aufgaben und Pflichten aus den Beziehungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungserbringern der gesetzlichen Krankenversicherung vereinbar sind (Art. 1 Nr. 26 des Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung vom 22. Dezember 1999, BGBl I 2626). Der entsprechenden Anwendung der Vorschriften des BGB stehen im vorliegenden Fall keine Besonderheiten des Rechts der Leistungserbringer entgegen, so dass das Rechtsinstitut der Positiven Vertragsverletzung hier entsprechend anwendbar ist.
Der Beklagte hat seine Pflichten aus dem Nds.ALV verletzt.
§ 4 Nds.ALV regelt die Abgabe- und Lieferbestimmungen für den Apotheker, der aufgrund eines Kassenrezepts ein Medikament zulasten einer gesetzlichen Krankenkasse abgibt, bei Unvollständigkeit, Ungenauigkeit und Änderung einer Verordnung.§ 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV bestimmt: Hinsichtlich der Mengen erhöhte Verordnungen sind nur abrechnungsfähig, wenn der Arzt die Änderung durch seine Unterschrift und Datum auf der Vorderseite des Musters 16 bestätigt hat. Diese Regelung korrespondiert mit § 29 Abs. 6 Bundesmantelvertrag-Ärzte vom 19. Dezember 1994 in der hier geltenden Fassung (BMV-Ä in DÄBl 1995, 455). Danach bedürfen Änderungen und Ergänzungen einer Verordnung von Arzneimitteln der erneuten Arztunterschrift mit Datumseingabe. Eine Ausnahme von § 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV macht § 4 Abs. 9 Nds.ALV. Danach sind die Krankenkassen verpflichtet, gefälschte Verordnungen zu bezahlen, sofern der Apotheker die Fälschung nicht erkennen konnte (Satz 1). Die Zahlungsverpflichtung der Krankenkassen entfällt, wenn der Apotheker begründeten Zweifeln nicht nachgegangen ist (Satz 2).
Der Beklagte hat bei der Abgabe von jeweils 4x INTRON A an J. seine Vertragspflichten gegenüber der Klägerin aus § 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV verletzt. Er hat die ihm vorgelegten Verordnungen in der gefälschten Menge eingelöst und gegenüber der Klägerin abgerechnet, obwohl der ausstellende Arzt Dr. G. dieÄnderung der Menge in keinem der 14 Rezepte durch Unterschrift und Datum bestätigt hat.
Ein Fall des § 4 Abs. 9 Satz 1 Nds.ALV liegt nicht vor. Denn entgegen seiner Ansicht hat der Beklagte nicht davon ausgehen können und dürfen, dass die geänderten Mengenangaben deshalb von den Rezeptunterschriften des Dr. G. unten rechts auf dem Praxisstempel abgedeckt waren, weil sie von einem Kugelschreiber mit der gleichen Farbe stammten. Grundsätzlich deckt die erste ärztliche Unterschrift auf einem maschinell erstellten Rezept lediglich die Verordnung an sich ab. Soweit eine Mengenerhöhung auf demselben Rezept erfolgt, muss sie durch eine weitere Unterschrift nebst Datum ausdrücklich bestätigt werden. Nur diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck der Regelung in § 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV. Der Beklagte musste aber nicht nur wegen der fehlenden zweiten ärztlichen Unterschrift begründete Zweifel an der Richtigkeit des Rezeptes haben. Zweifel lagen auch deshalb auf der Hand, weil die angeblich verordnete Menge an INTRON A pro Einzelrezept außergewöhnlich hoch war. Hinzu kam, dass der Beklagte diese hohe Dosierung pro Rezept nicht nur einmal, sondern über ein halbes Jahr hinweg regelmäßig etwa alle zwei Wochen für denselben Versicherten abgegeben hat. Auf den ersten Blick musste sich jedem redlichen und objektiven Beobachter aufdrängen, dass die Verordnung einer so hohen Dosis für einen einzigen Versicherten nicht mit rechten Dingen zuging, zumal der Preis pro Rezept immerhin 24.514,92 DM betrug - eine hohe Summe pro Rezept für eine Apotheke, für einen Patienten und für die Solidargemeinschaft. An dieser Offenkundigkeit ändert die Behauptung des Beklagten nichts, er habe nicht wissen können, dass ein grauer Markt für INTRON A existierte.
Mit der Einlösung der gefälschten Rezepte hat der Beklagte auch gegen § 17 Abs. 5 Satz 2 und 3 ApBetrO verstoßen. Danach darf ein Arzneimittel nicht abgegeben werden, wenn eine Verschreibung einen für den Abgebenden erkennbaren Irrtum enthält, unleserlich ist oder sich sonstige Bedenken ergeben; zunächst muss die Unklarheit beseitigt sein. Dabei hat der Apotheker jede Änderung auf der Verschreibung zu vermerken und zu unterschreiben.
Ist somit die Einlösung des gefälschten Rezepts ohne Bestätigung der Mengenänderung durch Dr. G. mit Unterschrift und Stempel als vertragswidriges Verhalten des Beklagten anzusehen, kommt es auf die Frage nicht an, ob ein Mitarbeiter der K. -Apotheke Rücksprache mit der Praxis Dr. G. genommen hat. Im Übrigen ist für den Senat nicht ersichtlich, inwiefern das Verhalten von Mitarbeitern der K. -Apotheke für den Beklagten als Inhaber der O. -Apotheke von Bedeutung sein könnte. Aus beiden Gründen bestand deshalb in dieser Hinsicht kein Anlass für den Senat, entsprechend Beweis zu erheben.
Der Beklagte hat die Vertragsverletzungen auch schuldhaft begangen.
Nach § 276 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 BGB hat der Schuldner eines Vertrages Vorsatz und Fahrlässigkeit zu vertreten. Fahrlässig handelt nach § 276 Abs. 2 BGB, wer die im Verkehr erforderliche Sorgfalt außer Acht lässt. Der Beklagte hat bei der Abgabe des Medikamentes INTRON A die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet. Das SG hat zu Recht darauf hingewiesen, dass für jeden Betrachter bereits auf den ersten Blick auf die von Dr. G. maschinell ausgestellten Rezepte erkennbar war, dass der handschriftliche Vermerk "4x" zusätzlich angebracht war. Auch der Beklagte hat das ohne weiteres erkennen können und müssen. Es ist daher zumindest grob fahrlässig, wenn er das Rezept trotz handschriftlich geänderter Mengenangabe ohne eine zweite Unterschrift des Dr. G. eingelöst hat.
Der Beklagte kann sich nicht darauf berufen, dass er die Rezepte nicht selbst eingelöst hat, sondern einer seiner Mitarbeiter für ihn tätig geworden ist. Nach § 278 Abs. 1 BGB hat der Vertragsschließende ein Verschulden der Personen, der er sich zur Erfüllung seiner Verbindlichkeiten bedient, in gleichem Umfang zu vertreten wie eigenes Verschulden. Berufsrechtlich sieht § 2 Abs. 2 Satz 2 ApBetrO vor, dass der Apotheker dafür verantwortlich ist, dass die Apotheke unter Beachtung der geltenden Vorschriften betrieben wird.
Der Beklagte ist nach den Grundsätzen der Positiven Vertragsverletzung zum Schadensersatz in Höhe der Kosten aller abgegebenen Medikamente verpflichtet. Denn in dieser Höhe ist der Klägerin ein Schaden entstanden. Hätte der Beklagte seine Pflichten nach § 4 Abs. 1 Satz 3 Nds.ALV eingehalten, hätte er schon die Belieferung des ersten gefälschten Rezepts vom 22. Mai 2000, aber auch die aller 13 Folgerezepte verweigert. Der Senat vermag sich nicht der Ansicht des SG anzuschließen, dass der Klägerin kein Schaden entstanden ist, soweit es sich um die einfache Menge INTRON A pro Rezept handelt. Ein mengengefälschtes Rezept ist - von dem Ausnahmefall des § 4 Abs. 9 Satz 1 Nds.ALV abgesehen - überhaupt nicht zulasten der Krankenkasse abgabefähig und abrechnungsfähig, auch nicht hinsichtlich der einfachen Menge des verordneten Medikaments. Nach den Prinzipen des Leistungserbringungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung sind rechtswidrig bewirkte Leistungen nicht vergütungsfähig. Wäre das Gegenteil der Fall, könnten die Regeln des Leistungserbringungsrechts zu bestimmten formalen oder inhaltlichen Voraussetzungen der Leistungserbringung ihre Steuerungsfunktion nicht erfüllen und würden ins Leere gehen (vgl. BSG a.a.O., Umdruck Seite 9).
Entgegen der Auffassung des Beklagten scheidet eine Schadensminderung aus.
Ein mögliches Mitverschulden der Firma L. Pharma Handel AG& Co. an der Entstehung des Schadens der Klägerin ist nicht schadensmindernd zu berücksichtigen. Denn die Firma L. Pharma Handel AG& Co. war an den zwischen der Klägerin und dem Beklagten geschlossenen Kaufverträgen über die Abgabe von INTRON A für den Versicherten P. nicht beteiligt.
Es entfällt auch ein Mitverschulden der Klägerin, das schadensmindernd zu berücksichtigen wäre. Soweit der Beklagte ein solches Mitverschulden darin sieht, dass der Inhaber der K. -Apotheke die Klägerin mit Schreiben vom 9. Mai 2000 auf das betrügerische Verhalten des Versicherten und J. aufmerksam gemacht habe, die Klägerin aber passiv geblieben sei, vermag ihm der Senat nicht zu folgen. Zu Recht hat bereits das SG ausgeführt, dass nach den Abrechnungsregelungen der gesetzlichen Krankenversicherung die Krankenkassen die von den Apothekern abgerechneten vertragsärztlichen Verordnungen grundsätzlich nicht auf Fälschungen prüfen. Die Rezepte werden vielmehr elektronisch anhand von sog. Images z.B. darauf geprüft, ob die Verordnung von einem Vertragsarzt stammt und einen bei der Krankenkasse versicherten Patienten betrifft. Eine andere Handhabung wäre bei dem Massenbetrieb einer gesetzlichen Krankenkasse nicht durchführbar und daher auch nicht zumutbar. Eine Krankenkasse ist auch weder verpflichtet noch ist es ihr möglich, einen bestimmten einzelnen Versicherten darauf zu beobachten, ob er Rezepte fälscht und sich mit den gefälschten Rezepten in rechtswidriger Weise Medikamente verschafft. Die Kontrolle, ob es sich um ordnungsgemäß ausgestellte und ungefälschte Rezepte handelt, die eingelöst werden, obliegt im Gegenteil gerade den Apothekern. Wie§ 4 Nds.ALV klar und eindeutig belegt, tragen grundsätzlich die Apotheker und nicht die Krankenkassen die Verantwortung dafür, dass Medikamente auf offensichtlich gefälschte Rezepte nicht abgegeben werden.
Der Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs gegen den Beklagten steht § 10 Abs. 1 Satz 1 Nds.ALV nicht entgegen. Der gegenteiligen Ansicht des Beklagten folgt der Senat nicht.
§ 10 Nds.ALV betrifft "Rechnungs- und Taxbestimmungen". Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nds. ALV sind sachliche und rechnerische Berichtigungen, Taxbeanstandungen sowie Beanstandungen wegen fehlender Verordnungsblätter innerhalb von 18 Monaten nach Eingang der Verordnungsblätter möglich. Der Anspruch der Klägerin betrifft aber weder eine sachliche oder rechnerische Berichtigung, eine Taxbeanstandung oder eine Beanstandung wegen fehlender Verordnungsblätter, sondern einen Schadensersatzanspruch aus Positiver Vertragsverletzung. Der Tatbestand des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nds.ALV liegt daher nicht vor. Damit gilt keine Frist von 18 Monaten für die Klägerin, innerhalb derer sie ihre Ansprüche gegen den Beklagten geltend machen müsste.
§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nds.ALV ist aber auch nicht sinngemäß anwendbar. Denn weder dem Wortlaut des§ 10 Nds.ALV noch einer anderen Bestimmung des Nds.ALV noch seiner Systematik lässt sich eine Absicht der Vertragsparteien des Nds.ALV entnehmen, die allgemeinen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche wegen der Verletzungen von Pflichten aus dem Einzelvertrag zwischen einer Krankenkasse und einem Apotheker bei der Abgabe von Medikamenten auszuschließen. Deshalb braucht der Senat nicht der Frage nachzugehen, ob die Vertragsparteien des Nds.ALV einen derartigen Ausschluss zulasten der Solidargemeinschaft überhaupt rechtswirksam vereinbaren könnten. Die allgemeinen zivilrechtlichen Schadensersatzansprüche gelten daher neben den Bestimmungen des Nds.ALV.
Der Beklagte ist der Klägerin zum Schadensersatz wegen Positiver Vertragsverletzung in Verbindung mit § 69 Satz 1 und 3 SGB V verpflichtet. Somit kommt es nicht mehr auf die Frage an, ob außerdem noch ein Anspruch der Klägerin aus ungerechtfertigter Bereicherung gegeben ist. Der Senat war demzufolge weder gehalten, einen rechtlichen Hinweis auf einen diesbezüglichen Anspruch zu geben noch musste er auf die Einrede des Beklagten auf Entreicherung eingehen.
Der Ausspruch über die Zinsen beruht auf § 69 Satz 1 und 3 SGB V in Verbindung mit der entsprechenden Anwendung des § 291 BGB und des § 288 Abs. 1 BGB.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der bis zum 1. Januar 2002 geltenden Fassung.
Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen ( § 160 Abs. 2 SGG).