Sozialgericht Hannover
Urt. v. 28.03.2011, Az.: S 12 KN 205/08
Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit
Bibliographie
- Gericht
- SG Hannover
- Datum
- 28.03.2011
- Aktenzeichen
- S 12 KN 205/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 42137
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:SGHANNO:2011:0328.S12KN205.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 43 Abs. 1 SGB VI
- § 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI
- § 43 Abs. 3 SGB VI
Tenor:
- 1.
Der Bescheid der Beklagten vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2008 wird aufgehoben.
- 2.
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles am 08. Januar 2008 nach Maßgabe der gesetzlichen Vorschriften zu gewähren.
- 3.
Die Beklagte hat dem Kläger seine notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Der am G. geborene Kläger begehrt die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Er war zuletzt als Helfer im Baugewerbe tätig.
Vom 21. Februar 2006 bis zum 14. März 2006 nahm der Kläger zuletzt an einer stationären Reha-Maßnahme teil. Am 23. Oktober 2006 stellte der Kläger erfolglos einen ersten Rentenantrag.
Am 8. Januar 2008 stellte der Kläger bei der Beklagten erneut einen Antrag auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Die Beklagte ließ den Kläger im Rentenverfahren durch ihren H. begutachten. Dieser kam zu dem Schluss, dass der Kläger noch in der Lage sei, unter gewissen qualitativen Einschränkungen einer leichten körperlichen Tätigkeit sechs Stunden und mehr am Tag nachzugehen. Daher lehnte die Beklagte den Antrag mit Bescheid vom 14. April 2008 ab. Der Kläger sei nicht erwerbsgemindert. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit komme für ihn nicht in Betracht, da er auf sämtliche Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes sozial zumutbar verweisbar sei.
Hiergegen erhob der Kläger am 25. April 2008 Widerspruch. Die Beklagte ließ den Kläger im Widerspruchsverfahren ergänzend durch Dr. I. begutachten. Dieser kam zu keiner anderen Einschätzung des verbliebenen Leistungsvermögens des Klägers, so dass die Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2008 zurückwies.
Am 14. Oktober 2008 hat der Kläger Klage erhoben.
Er ist der Meinung, dass ihm eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zu gewähren sei.
Der Kläger beantragt,
- 1.
den Bescheid der Beklagten vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2008 aufzuheben und
- 2.
die Beklagte zu verurteilen, ihm eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab Antragstellung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung der Klageabweisung bezieht sie sich auf die Einschätzung des J ...
Die Kammer hat von dem behandelnden Arzt des Klägers Dr. K. einen Befundbericht eingeholt.
Es ist Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens erhoben worden. Dr. L. hat in seinem orthopädischen Gutachten vom 29. März 2010 auf Grund der eingehenden Untersuchung des Klägers am 17. März 2010 - einschließlich der Fertigung von Röntgenaufnahmen - ausgeführt, dass der Kläger unter gewissen Einschränkungen einer leichten körperlichen Tätigkeit sechs Stunden und mehr am Tag nachgehen könne. Allerdings sollten ihm zusätzliche Pausen von einer Viertelstunde alle zwei Stunden eingeräumt werden. Die festgestellten Einschränkungen bestünden zumindest seit Rentenantragstellung. Der Sachverhalt sei medizinisch geklärt. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit sei dauerhaft.
Bezüglich der vom Sachverständigen Dr. L. für erforderlich gehaltenen zusätzlichen Pausen hat die Kammer eine ergänzende Stellungnahme eingeholt, nachdem die Beklagte zum Gutachten vom 29. März 2010 Stellung genommen hatte. Er hat seine ursprüngliche Einschätzung in seiner Stellungnahme vom 6. Juli 2010 bestätigt.
Weiter hat die Kammer Beweis durch Einholung eines berufskundlichen Gutachtens Beweis erhoben. Der sachverständige M. ist in seinem Gutachten vom 13. August 2010 dazu gekommen, dass für den Kläger mit den festgestellten Einschränkungen keine Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorhanden sei. Die erforderlichen Pausen stünden dem entgegen. Der Sachverständige N. hat in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 26. Januar 2011 ausgeführt, dass die Pausenregelungen auch für eine Tätigkeit von über sechs Stunden Gültigkeit hätten.
Am 22. November 2010 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden. Dieser wurde zunächst vertagt.
Die Beteiligten haben ihr Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf die Gerichtsakte und auf die beigezogene Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen. Diese lagen vor und sind Gegenstand der Entscheidungsfindung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Kammer konnte durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheiden, da die Beteiligten dafür ihr Einverständnis gegeben haben.
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 14. April 2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. September 2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger daher in seinen Rechten. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Dauer unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles am 8. Januar 2008 (Rentenantragstellung) gemäß § 43 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI).
Danach haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung, wenn sie
1. voll erwerbsgemindert sind, 2. in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit haben und 3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.
Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI).
Ein Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung besteht für die Versicherten, die, bei Vorliegen der genannten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch drei, jedoch nicht mehr mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein können (§ 43 Abs. 1 SGB VI).
Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen (§ 43 Abs. 3 SGB VI).
Der Kläger erfüllt die Voraussetzungen für eine Rente wegen voller Erwerbsminderung unter Zugrundelegung eines Leistungsfalles am 8. Januar 2008 auf Dauer. Was das allgemeine Leistungsvermögen des Klägers angeht, so ist der Kläger nicht in der Lage, noch eine Tätigkeit wenigstens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes zu verrichten.
Der Kläger leidet unter folgenden Erkrankungen:
1. Verschleißerscheinungen der Wirbelsäule mit Betonung der HWS und BWS bei leichter anlagebedingter fehlstatischer Aufbaustörung im Sinne einer Seitausbildung mit vermehrter Rundrückenbildung (Kyphoskoliose) mit Bandscheibenvorfall C4/C5 mit knöcherner Einengung, mit operiertem Bandscheibenvorfall und durchgeführter Spondylodese L4/5 mit Fixateur intern sowie Ausbildung eines Postnukleotomiesyndroms bei ruhe- und belastungsabhängiger Beschwerdesymptomatik, Funktionseinschränkung, Minderbelastbarkeit und Nervenwurzelreizerscheinung ohne neurologisch motorische Defizite; 2. beginnendes Verschleißleiden beider Hüftgelenke mit endgradiger Funktionseinschränkung, ausreichender Belastbarkeit und ohne Einschränkung des Gehvermögens allgemein; 3. durchgemachter Oberarmbruch rechtsseitig ohne Funktionseinschränkung; 4. durchgemachte Außenknöchelfraktur rechtsseitig ohne Funktionseinschränkung; 5. Karpaltunnelsyndrom rechtsseits; 6. reaktiv bedingte Schlafstörung; 7. Nikotinabusus; 8. chronisches Schmerzsyndrom mit psychovegetativer Begleitreaktion.
Daraus resultieren für die Leistungsfähigkeit des Klägers gewisse Einschränkungen. So kann der Kläger noch leichte körperliche Tätigkeiten von geistig einfacher oder normaler Beanspruchung ausüben. Arbeiten im Sitzen sind möglich, gegebenenfalls auch im Wechsel mit Gehen und Sitzen. Die Tätigkeiten sollten unter Vermeidung von Kälte, Nässe und Zugluft in wohltemperierten Räumlichkeiten ausgeübt werden. Das Heben und Tragen von Lasten über fünf Kilogramm sind dem Kläger ebenso wenig mehr zumutbar wie das Einnehmen von Zwangshaltungen (z. B. im Knien oder in der Hocke oder mit häufigem Bücken). Auch kann der Kläger nicht mehr auf Leitern, Gerüsten oder über dem Kopf arbeiten. Er sollte keinen zeitlichen Belastungen wie Akkord ausgesetzt sein. Tätigkeiten in Nacht oder Wechselschicht oder an Maschinen sollte er ebenfalls nicht mehr ausüben. Der Kläger sollte keinen Stresssituationen oder psychischen Belastungen allgemeiner Art ausgesetzt werden. Dem Kläger kann zwar eine zeitliche Belastung von sechs Stunden täglich zugemutet werden. Allerdings ist dem Kläger die Möglichkeit einzuräumen, alle zwei Stunden eine Pause von einer Viertelstunde einzulegen. Dies folgt aus der bestehenden Schmerzsymptomatik, der muskulären des Dysbalance und der Minderbelastbarkeit des Achsenskeletts insgesamt.
Der Kläger berichtet über Schmerzen, die die gesamte rechte Seite betreffen. Er werde nachts zwei- bis dreimal wach. Er habe ständig Rückenschmerzen, morgens sei dies besonders unangenehm. Er brauche ca. eine Stunde bis sich die Beschwerden besserten.
Während der Untersuchung bei dem Sachverständigen Dr. L. besteht kein leidensbetontes Verhalten. Das Gangbild zeigt sich sicher und raumgreifend, rechts etwas hinkend. Das Vornüberneigen der Wirbelsäule geschieht zögernd unter Schmerzangabe im LWS-Bereich. Es verbleibt ein Finger-Boden-Abstand in Höhe des körpernahen Drittels des Unterschenkels. Die Wirbelsäule entfaltet sich hierbei unvollständig. Im Bereich der Wirbelsäule finden sich deutliche Druckschmerzen. Beim Durchbewegen der Schultergelenke lassen sich Reibegeräusche feststellen.
Die Röntgenaufnahmen zeigen im Bereich der HWS umformende Veränderungen, die das altersübliche Normmaß teilweise überschreiten. Auch die Röntgenbilder der LWS zeigen insgesamt umformende Veränderungen, die das altersübliche Normmaß überschreiten.
Im Wesentlichen finden sich beim Kläger Umformungsveränderungen im Bereich der HWS und LWS mit Betonung der Bandscheibenfächer C4/5 und L4/5 sowie den kleinen Wirbelgelenken im Bereich der HWS und LWS. Die vorliegenden HWS-Veränderungen im Bereich der kleinen Wirbelgelenke und im Bandscheibenfach C4/C5 bedingen eine Einschränkung der Beweglichkeit in allen Bewegungsrichtungen. Lumbal besteht eine Versteifungssituation im Segment L4/5. Hierdurch bedingt ergeben sich eine Einschränkung der Funktionalität und eine Minderbelastbarkeit bei ruhe- und belastungsabhängigen Beschwerden. Die bestehende chronische Schmerzsituation ist auf die durchgeführte Operation und den bestehenden Restfolgen im Sinne eines Postnukleotomiesyndroms zu sehen.
Die Erkrankungen des Klägers bedingen allerdings, dass er alle zwei Stunden eine Pause von einer Viertelstunde einlegen muss.
Diesbezüglich ist der Kläger nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit von wenigstens drei Stunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes nachzugehen.
Die berufsüblichen Arbeits- und Pausenzeiten richten sich in der Arbeitspraxis nach dem Arbeitszeitgesetz (ArbZG). Gemäß § 4 ArbZG ist vorgesehen, dass die Arbeit durch im Voraus feststehende Ruhepausen von mindestens 30 Minuten bei einer Arbeitszeit von mehr als sechs bis unter neun Stunden zu unterbrechen ist. Bei den für den Kläger erforderlichen Arbeitszeitpausen handelt es sich um eine Arbeitsunterbrechung von insgesamt 30 Minuten innerhalb eines mehr als sechsstündigen Arbeitstages, für den nach dem ArbZG keine Pause vorgesehen ist. Zusätzliche Arbeitsunterbrechungen wirken sich belastend auf die heute übliche Kostenleistungsrechnung aus, erhöhen die Betriebskosten und belasten damit die Wettbewerbskriterien im nationalen und internationalen Konsens. Das bedeutet, dass Arbeitsplatzanbieter unter den heute üblichen Wettbewerbsbedingungen keinerlei Zugeständnisse machen, die zusätzliche Kosten verursachen - wie z. B. das Zugeständnis zusätzlicher, gesetzlich nicht vorgeschriebener Pausen. Dies gilt im Übrigen auch für Arbeitgeber im Dienstleistungsbereich, für gemeinnützige Unternehmen und auch für den öffentlichen Dienst, der unter einem Haushaltsdruck steht, der Zugeständnisse außerhalb der Kostenneutralität ausschließt. Für den Kläger müsste die Arbeitszeitgestaltung so aussehen, dass bei einem angenommenen Arbeitszeitbeginn um 08:00 Uhr bereits um 10:00 Uhr eine 15-minütige Pause, dann um 12:00 Uhr und um 14:00 Uhr jeweils eine weitere Pause zur Linderung der bestehenden Schmerzsymptomatik eingehalten werden müsste, um das Restleistungsvermögen nicht zu gefährden. Eine solche Pausenregelung entspricht weder den betriebsüblichen Arbeitsrhythmen noch den gesetzlichen Mindestforderungen. Sie sind von daher unüblich und führen dazu, dass die von solcherlei Forderungen betroffenen Arbeitsplatzbewerber vom Wettbewerb ausgeschlossen sind. Diese Feststellung betrifft den gesamten Arbeitsmarkt.
Die aktuell festgestellten Einschränkungen der Leistungsfähigkeit bestehen seit Rentenantragstellung. Die Einschränkungen der Leistungsfähigkeit bestehen auf Dauer.
Der Kläger leidet damit unter einer Minderbelastbarkeit, die ihm die Verrichtung von Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht ermöglicht.
Die Kammer stützt ihre Erkenntnisse dabei auf die Feststellungen und Schlussfolgerungen der Sachverständigen Dr. L. und M ... Dr. L. legt in seinem Gutachten die verbliebene Leistungsfähigkeit des Klägers nachvollziehbar und schlüssig und im Einklang mit den erhobenen Befunden ausführlich dar. Der berufskundliche Sachverständige M. hat nachvollziehbar geschildert, dass unter den Gegebenheiten für den Kläger auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt die Ausübung einer beliebigen Tätigkeit nicht denkbar ist.
Der Kläger erfüllt die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen. Er hat in den letzten fünf Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung wenigstens drei Jahre Pflichtbeiträge entrichtet. Er hat auch die allgemeine Wartezeit vor Eintritt der Erwerbsminderung erfüllt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.