Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 22.11.2012, Az.: 1 Ws 458/12 (StrVollz)
Verletzung des Diskriminierungsverbots bei Ablehnung der Überstellung eines auf den Rollstuhl angewiesenen Gefangenen zwecks Besuchszusammenführung wegen eines unverhältnismäßigen Aufwands
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 22.11.2012
- Aktenzeichen
- 1 Ws 458/12 (StrVollz)
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2012, 32122
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2012:1122.1WS458.12STRVOLLZ.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Osnabrück - 09.03.2012 - AZ: 17 StVK 200/12 M
Rechtsgrundlagen
- § 10 Abs. 2 NJVollzG
- Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG
Fundstellen
- NStZ 2013, 360-361
- StRR 2013, 122
- StRR 2013, 197-199
- StV 2013, 645-646
Amtlicher Leitsatz
Die Ablehnung der Überstellung eines auf den Rollstuhl angewiesenen Gefangenen zwecks Besuchszusammenführung mit der Begründung, dass der hierfür nötige Einzeltransport einen unverhältnismäßigen Aufwand bedeute, kann eine Verletzung des Diskriminierungsverbots nach Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG darstellen.
In der Strafvollzugssache
des D. S.,
geboren am xxxxxx 1979 in N.,
zurzeit in der Justizvollzugsanstalt M.,
Antragstellers und Beschwerdeführers,
- Prozessbevollmächtigter: Rechtsanwalt A. aus L. -
gegen die Justizvollzugsanstalt M.,
vertreten durch den Anstaltsleiter,
Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin,
wegen Besuchsüberstellung
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die Rechtsbeschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Osnabrück beim Amtsgericht Lingen vom 13. September 2012 durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und die Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und xxxxxx am 22. November 2012
beschlossen:
Tenor:
Der angefochtene Beschluss und der Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. März 2012 werden aufgehoben.
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden.
Die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens und der ersten Instanz sowie die dem Antragsteller insgesamt entstandenen notwendigen Auslagen hat die Landeskasse zu tragen.
Der Streitwert wird für beide Instanzen auf 300 € festgesetzt.
Gründe
I.
Der Antragsteller verbüßt in der Justizvollzugsanstalt M. eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren. Da seine Ehefrau in Bayern wohnt, beantragte er mit Schreiben vom 27. Dezember 2011 eine Besuchsüberstellung nach Bayern. Diesen Antrag lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 9. März 2012 ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, dass für eine Überstellung des Antragstellers wegen seines Gesundheitszustandes ein Einzeltransport nötig wäre und die vom Antragsteller angeführten Gründe für die Überstellung, nämlich die große Entfernung, die Berufstätigkeit seiner Ehefrau und die Schulpflicht des Kindes, den damit verbundenen personellen, zeitlichen und finanziellen Aufwand für die Antragsgegnerin nicht rechtfertigten. Da die Entfernung zum Wohnort der Ehefrau ca. 430 km betrage und mit dem Auto in etwa viereinhalb Stunden zu bewältigen sei, bestehe "keine Notwendigkeit einer Besuchsüberstellung".
Den hiergegen gerichteten Antrag des Antragstellers auf gerichtliche Entscheidung vom 14. März 2012 hat die Strafvollstreckungskammer mit Beschluss vom 13. September 2012 als unbegründet zurückgewiesen, weil der Aufwand für eine Besuchsüberstellung nach Bayern unverhältnismäßig hoch sei. Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer ist der Antragsteller auf den Rollstuhl angewiesen und daher nicht sammeltransportfähig. Die Ehefrau habe zwar weder ein Auto noch eine Fahrerlaubnis. Mit dem im gerichtlichen Verfahren gemachten Angebot, dem Antragsteller mehrere Sonderbesuche an einem Wochenende zu gewähren, so dass seine Ehefrau mit einer Anreise gleich mehrere Besuchstermine wahrnehmen könne, und der Alternative einer Besuchsüberstellung in die für seine Ehefrau näher gelegene Justizvollzugsanstalt H. habe die Antragsgegnerin ihrer Pflicht, Lösungswege zu prüfen und anzubieten, jedoch genügt.
Gegen diese Entscheidung wendet sich der Antragsteller mit seiner Rechtsbeschwerde. Er rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts, insbesondere des Verbots der Diskriminierung Behinderter.
II.
Das Rechtsmittel hat Erfolg.
1.
Die Rechtsbeschwerde ist zulässig, weil es geboten ist, die Nachprüfung der angefochtenen Entscheidung zur Fortbildung des Rechts und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zu ermöglichen (§ 116 Abs. 1 StVollzG).
2.
Die Rechtsbeschwerde ist auch begründet. Sie deckt mit der Sachrüge durchgreifende Rechtsfehler auf.
a)
Nach § 10 Abs. 2 NJVollzG darf die oder der Gefangene aus wichtigem Grund in eine andere Anstalt überstellt werden. Die Vorschrift stimmt inhaltlich mit § 8 Abs. 2 StVollzG überein, zu dem das Oberlandesgericht Celle bereits entschieden hat, dass ein wichtiger Grund u.a. dann vorliegt, wenn die Überstellung zur Besuchszusammenführung dienen soll, sofern ein Besuch in der zuständigen Anstalt nicht oder nur mit erheblichen Schwierigkeiten möglich ist (OLG Celle, 3. Strafsenat, Beschluss vom 17. Februar 1988 - 3 Ws 46/88 (StrVollz), BlStVKunde 1990, Nr. 4-5, 4). Diese Rechtsprechung ist auf 10 Abs. 2 NJVollzG zu übertragen.
Dementsprechend haben die Vollzugsbehörden bei ihrer Entscheidung, ob und ggfs. wie oft eine Überstellung zu diesem Zweck zu gestatten ist, zunächst zu ermitteln, ob derartige Schwierigkeiten vorliegen. Sie haben dabei die Besonderheiten des Einzelfalls festzustellen und mitzuteilen, weil die Entscheidung, ob ein wichtiger Grund vorliegt, gerichtlich voll überprüfbar ist. Entfernung und erforderlicher Zeitaufwand für die Reise, die dafür aufzuwendenden Kosten und die Beziehungen zu den Personen, zu denen Besuchskontakt gewünscht wird, sowie deren Anzahl können den Einzelfall ebenso prägen, wie etwa die Tatsache, dass es sich um Kinder handelt, mit denen schriftlicher Kontakt nicht möglich ist, oder um alte oder kranke Personen. In den letztgenannten Fällen kann auch die voraussichtliche Dauer des Vollzuges von Bedeutung sein(OLG Celle aaO).
Erst wenn unter Berücksichtigung der angestellten Ermittlungen vom Vorliegen eines wichtigen Grundes auszugehen ist, setzt - in der zweiten Stufe - das Ermessen der Vollzugsbehörde ein, bei dem sowohl die Belange des Gefangenen als auch vollzugsorganisatorische Gründe zu berücksichtigen sind. Dabei können die Behandlung des Gefangenen, die Teilnahme an Ausbildungs- oder sonstigen Maßnahmen, der Arbeitseinsatz, die Erforderlichkeit möglichst ununterbrochener Einbindung in eine soziale Gruppe, das Hinwirken auf die Lösung von Gruppen mit negativem Einfluss aus dem früheren kriminellen Umfeld der Überstellung ebenso entgegenstehen wie allgemein vollzugsorganisatorische Gründe. Eine häufige Fluktuation kann sowohl Reise-, Belegungs- und Kostenprobleme verursachen als auch Unruhe und Sicherheitsprobleme mit sich bringen, die im Einzelfall die Überstellung verbieten (OLG Celle aaO).
b)
Gemessen an diesen Grundsätzen erweist sich der Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. März 2012 schon deshalb als rechtsfehlerhaft, weil ihm nicht mit der gebotenen Eindeutigkeit zu entnehmen ist, ob die Antragsgegnerin bereits auf der Tatbestandsebene das Vorliegen eines wichtigen Grundes für die beantragte Überstellung verneint hat oder - nach Bejahung eines wichtigen Grundes - die Überstellung erst nach Ausübung ihres pflichtgemäßen Ermessens abgelehnt hat. Für Ersteres könnte sprechen, dass die Antragsgegnerin "keine Notwendigkeit einer Besuchsüberstellung" sieht, für Letzteres, dass die Ablehnung auf einen unverhältnismäßigen Aufwand gestützt wird.
c)
Darüber hinaus hält der Bescheid einer rechtlichen Überprüfung auch deshalb nicht stand, weil er nicht erkennen lässt, dass den grundrechtlich geschützten Belangen des Antragstellers im Verhältnis zu den vollzugsorganisatorischen Gründen das gebotene Gewicht beigemessen worden ist.
aa)
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts folgt sowohl aus Art. 6 Abs. 1 GG, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt, als auch aus der Verpflichtung des Staates zu einem am Ziel der Resozialisierung orientierten Strafvollzug der Anspruch Gefangener darauf, dass Kontakt zu ihren Angehörigen in angemessenem Umfang ermöglicht wird (vgl. BVerfGE 42, 95, 101 [BVerfG 06.04.1976 - 2 BvR 61/76]; 89, 315, 322; 116, 69, 85). Zwar liegt es in der Natur des Freiheitsentzugs, dass Besuchskontakte zwischen Gefangenen und Angehörigen nur mit Einschränkungen möglich sind, und der Gefangene kann nicht verlangen, dass unbegrenzt personelle und sonstige Mittel aufgewendet werden, um Beschränkungen seiner grundrechtlichen Freiheiten zu vermeiden (vgl. BVerfGE 42, 95, 100 f. [BVerfG 06.04.1976 - 2 BvR 61/76]; BVerfGK 13, 487). Andererseits ist der Staat verpflichtet, die Vollzugsanstalten sachlich und personell in der zur Wahrung der Grundrechte erforderlichen Weise auszustatten (vgl. BVerfGE 40, 276, 284 [BVerfG 29.10.1975 - 2 BvR 812/73]; 45, 187, 240; BVerfGK 13, 487 m.w.N.). Drohen aufgrund unzureichender Ausstattung von Haftanstalten Beeinträchtigungen, die normalerweise von Rechts wegen nicht hinnehmbar sind, so sind den Anstalten besondere Anstrengungen zum Ausgleich des Mangels und zur zügigen Abhilfe abzuverlangen; das Niveau der "zumutbaren Anstrengungen" (vgl. BVerfGE 42, 95, 102 [BVerfG 06.04.1976 - 2 BvR 61/76]) bemisst sich insoweit nach der staatlichen Verantwortung für die Ausstattung des Vollzuges mit den für die rechtmäßige Erfüllung seiner Aufgaben erforderlichen Mitteln. Unter anderem kann es geboten sein, räumlich und personell bedingte Engpässe hinsichtlich der Ermöglichung von Besuchen durch den Einsatz von Überstunden auszugleichen (vgl. BVerfG NJW 1995, 1478 [BVerfG 25.07.1994 - 2 BvR 806/94]) und alle Möglichkeiten der Problementschärfung durch Verlegung von Gefangenen - soweit sich diese als das grundrechtsschonendere Mittel darstellt - auszuschöpfen (vgl. BVerfG NStZ 1993, 404 [BVerfG 16.03.1993 - 2 BvR 202/93]; EuGRZ 2008, 83).
Diesen Grundsätzen wird der Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. März 2012 nicht gerecht. Er legt nicht in der gebotenen Weise dar, dass es der Antragsgegnerin auch bei Aufbietung der nach Art. 6 Abs. 1 GGzu fordernden besonderen Anstrengungen nicht möglich ist, die beantragte Überstellung zu ermöglichen. So ist schon nicht nachvollziehbar, warum bei einem Einzeltransport für die Vollzugsbediensteten eine Übernachtung notwendig wäre, während die Fahrzeit von der Anstalt bis zum Wohnort der Ehefrau des Antragstellers mit dem Auto auf etwa viereinhalb Stunden bemessen wird. Demgegenüber wird nicht ausgeführt, ob es der Ehefrau tatsächlich überhaupt möglich ist, die Strecke mit dem Auto zurückzulegen. Die Kosten und der Zeitaufwand für eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln sind nicht dargelegt worden.
bb)
Rechtlichen Bedenken unterliegt der Bescheid auch im Hinblick auf eine mögliche Verletzung von Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG; danach darf niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Mit der Erwägung, dass beim Antragsteller aufgrund seines "Gesundheitszustandes" ein Einzeltransport von Nöten sein werde, der einen unzumutbaren Aufwand erfordere, lässt der Bescheid jedoch besorgen, dass die Ablehnung der Überstellung letztendlich zum Nachteil des Antragstellers an seine Behinderung anknüpft.
Nach den Feststellungen der Strafvollstreckungskammer ist der Antragsteller auf einen Rollstuhl angewiesen. Die Annahme einer Behinderung liegt deshalb nahe. Eine Behinderung i.S.v. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GGist die Auswirkung einer nicht nur vorübergehenden Funktionsbeeinträchtigung, die auf einem regelwidrigen körperlichen, geistigen oder seelischen Zustand beruht (vgl. BVerfGE 96, 288, 301 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]). Worin die Beeinträchtigung des Antragstellers genau besteht und ob sie nur vorübergehend ist, lässt sich den Feststellungen nicht entnehmen.
Auch eine Benachteiligung kommt in Betracht. Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GGverstärkt den Schutz des allgemeinen Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GGfür bestimmte Personengruppen und gibt der staatlichen Gewalt insoweit engere Grenzen vor, als die Behinderung nicht als Anknüpfungspunkt für eine - benachteiligende - Ungleichbehandlung dienen darf (vgl. BVerfGE 96, 288, 302 [BVerfG 08.10.1997 - 1 BvR 9/97]). Eine Benachteiligung liegt jedenfalls bei Regelungen und Maßnahmen vor, die die Situation des Behinderten wegen seiner Behinderung verschlechtern, indem ihm etwa der tatsächlich mögliche Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt wird oder Leistungen, die grundsätzlich jedermann zustehen, verweigert werden. Eine Benachteiligung kann aber auch bei einem Ausschluss von Entfaltungs- und Betätigungsmöglichkeiten durch die öffentliche Gewalt gegeben sein, wenn dieser nicht durch eine auf die Behinderung bezogene Förderungsmaßnahme hinlänglich kompensiert wird (BVerfGE aaO).
Nach der Begründung des Bescheides der Antragsgegnerin ist nicht auszuschließen, dass dem Antragsteller ohne seine gesundheitliche Beeinträchtigung, die möglicherweise eine Behinderung darstellt, die Besuchsüberstellung nicht versagt worden wäre. Damit läge eine Benachteiligung vor.
Es ist auch nicht erkennbar, dass diese Benachteiligung wegen behinderungsbezogener Besonderheiten zwingend erforderlich (vgl. dazu BVerfGK 3, 74) oder sonst gerechtfertigt wäre.
3.
Aufgrund der vorgenannten Rechtsfehler hebt der Senat nicht nur den angefochtenen Beschluss der Strafvollstreckungskammer, sondern auch den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. März 2012 auf und verpflichtet die Antragsgegnerin, den Antragsteller unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu bescheiden, weil die Sache insoweit spruchreif ist (§ 119 Abs. 4 Satz 2 StVollzG).
III.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 121 Abs. 4 StVollzG i. V. m. § 467 Abs. 1 StPO.
Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 1 Abs. 1 Nr. 8, 63 Abs. 3, 65 GKG.