Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 17.05.1995, Az.: 4 B 4097/95
Verhängung schulischer Ordnungsmaßnahmen; "Notkompetenz" des Schulleiters in dringenden Eilfällen ; Dreimonatiger Unterrichtsausschluß durch den Schulleiter; Mitwirkung eines Studiendirektors bei der Beratung und Beschlußfassung einer Konferenz trotz Individualbetroffenheit; Gefährdung der Sicherheit anderer Personen durch den Schulbesuch; Nachhaltige und schwere Beeinträchtigung des Unterrichts ; Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bei Verhängung der Ordnungsmaßnahme
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 17.05.1995
- Aktenzeichen
- 4 B 4097/95
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1995, 17202
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:1995:0517.4B4097.95.0A
Rechtsgrundlagen
- § 80 Abs. 5 VwGO
- § 61 Abs. 2 Nr. 4 SchG,NI
- § 43 Abs. 2 Nr. 6 SchG,NI
- § 41 Abs. 1 SchG,NI
Verfahrensgegenstand
Ordnungsmaßnahmen nach § 61 NdsSchG,
Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO.
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Ein verfügter dreimonatige Unterrichtsausschluß läßt sich schon alleine in Anbetracht seiner Dauer nicht auf die Notkompetenz des Schulleiters stützen, zumal auch kein Grund ersichtlich ist, warum nicht die zuständige Klassenkonferenz nach Ablauf einer kurzfristigen Eilmaßnahme in eigener Zuständigkeit über die hier erlassene schulrechtliche Maßnahme hätte entscheiden können.
- 2.
Berät ein Geschädigter über eine Ordnungsmaßnahme gegen den vermeintlichen Schädiger mit, so reicht dies für die Annahme eines Mitwirkungsverbotes eines Studiendirektors bei der Beratung und Beschlußfassung der Konferenz betreffend der Verhängung von schulischen Ordnungsmaßnahmen.
- 3.
Führt ein Schüler an mehreren Schultagen entgegen der ihm bekannten einschlägigen Erlaßlage ein Messer mit, so stellt diese Tatsache für sich genommen noch keine ernstliche Gefährdung der Sicherheit anderer Personen dar.
In dem Rechtsstreit
hat die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Göttingen
am 17. Mai 1995
beschlossen:
Tenor:
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 20. März 1995 wird mit der Maßgabe wiederhergestellt, daß bis zum Ablauf der Klagefrist gegen den Bescheid vom 20. März 1995 in der Fassung des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 26. April 1995 Klage erhoben wird.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.000,00 DM festgesetzt.
Gründe
I.
Der am 19.12.1976 geborene Antragsteller ist Schüler der Antragsgegnerin. Er besucht derzeit das Berufsvorbereitungsjahr im Berufsfeld Metalltechnik. Nachdem er aus Rumänien ausgesiedelt war, besuchte er zuvor im Schuljahr 1989/90 die ... und anschließend bis zu seinem Wechsel an die Antragsgegnerin am 01.09.1994 die ..., ohne hier einen Schulabschluß zu erlangen.
In der Zeit von Ende Februar bis zum 08.03.1995 ist der Antragsteller von verschiedenen Lehrern der Antragsgegnerin ermahnt worden, weil er in der Schule ein Messer bei sich führte. Am 02.03.1995 verließ der Antragsteller eigenmächtig den Unterricht, was eine Eintragung ins Klassenbuch zur Folge hatte. In anschließenden Gesprächen zwischen Lehrern der Antragsgegnerin und dem Antragsteller ist der Antragsteller ermahnt worden, den Unterricht nicht mehr eigenmächtig zu verlassen.
Am 14.03.1995 schloß der Klassenlehrer des Antragstellers, Studiendirektor ... den Antragsteller wegen ungebührlichen Benehmens vom Unterricht aus. Etwa 1 1/2 Stunden später erhielt der Klassenlehrer Mitteilung davon, daß sämtliche Reifen seines Kfz zerstochen worden seien. Studiendirektor ... brachte den Antragsteller, der sich zu dieser Zeit im Schulgebäude aufhielt, mit dieser Tat in Verbindung. Während der Geschädigte und der Antragsteller auf die benachrichtigte Polizei warteten, soll der Antragsteller nach Beobachtungen des Schulassistenten ein Messer versteckt haben, das in den Besucherstühlen vor dem Dienstzimmer des Klassenlehrers gefunden wurde und das laut Aussagen von Mitschülern dem Antragsteller gehört. Der Antragsteller bestritt die Tat. Am 15.03.1995 fand ein Gespräch zwischen Studiendirektor ... dem Antragsteller und dessen Eltern über die Vorfälle statt. Auch hierbei bestritt der Antragsteller, die ihm vorgeworfene Tat begangen zu haben. Studiendirektor ... drohte dem Antragsteller pädagogische Maßnahmen wegen der Sachbeschädigung an.
Am 16.03.1995 soll der Antragsteller nach Aussagen von Mitschülern auf dem Schulgelände an einem Motorroller Stoßdämpfer ausgebaut und entwendet haben. Bei der anschließenden polizeilichen Durchsuchung im Hause des Antragstellers, die in Anwesenheit der Lehrer ... und ... stattfand, fand die Polizei Stoßdämpfer der entwendeten Marke und einen Meßschieber der Schule. Daraufhin bat Studiendirektor ... den Leiter der Antragsgegnerin, den Antragsteller bis zum 20.06.1995 vom Schulbesuch auszuschließen. Diese Maßnahme beschloß der Schulleiter entsprechend und teilte sie dem Antragsteller am 17.03.1995 zunächst mündlich mit. Mit Bescheid vom 20.03.1995 bestätigte der Schulleiter der Antragsgegnerin unter Hinweis auf die Vorkommnisse vom 14. und 16.03.1995 dies schriftlich und erteilte dem Antragsteller gleichzeitig ein Hausverbot.
Gegen diese Verfügung legte der Antragsteller mit Schreiben vom 24.03.1995 Widerspruch ein. Er rügte, daß entgegen den gesetzlichen Bestimmungen nicht die Klassenkonferenz entschieden habe und die Verfügung selbst ermessenfehlerhaft sei. Daraufhin berief der Schulleiter der Antragsgegnerin am Tage des Widerspruchseingangs (27.03.1995) eine Klassenkonferenz für den 30.03.1995 ein. Wesentlicher Tagesordnungspunkt war die Ordnungsmaßnahme gemäß § 61 Niedersächsisches Schulgesetz - NSchG - gegen den Antragsteller. An dieser Klassenkonferenz nahmen u.a. der Klassenlehrer des Antragstellers ... als vom Schulleiter der Antragsgegnerin mit der Feststellung des Sachverhaltes beauftragte Lehrkraft und zunächst auch der Schülervertreter teil. Nachdem der Antragsteller, dessen ebenfalls anwesender Prozeßbevollmächtigter sowie seine Eltern den Sitzungssaal verlassen hatten, faßte die Konferenz auf Antrag eines beteiligten Lehrers den Beschluß, den Schülervertreter von der Abstimmung zu befreien; entsprechend wurde anschließend verfahren. Im weiteren Verlauf der Konferenz zählte der Klassenlehrer des Antragstellers trotz einer zuvor vom Prozeßbevollmächtigten des Antragstellers geäußerten Befangenheitsrüge folgende, aufgrund von Beobachtungen und Recherchen gewonnene, dem Antragsteller zur Last gelegte Vorkommnisse auf:
"
- Kriminalisierung von Mitschülern und Aufruf zur Sachbeschädigung,
- Gefährdung von Kollegen,
- Diebstahl eines Meßschiebers aus der Werkstatt der BBS II, Göttingen,
- Körperverletzung eines Schülers einer anderen Schule,
- Hausverbot bei der KGS Göttingen, der vorherigen Schule des Antragstellers,
- Diebstahl von Stoßdämpfern auf dem Schulgelände,
- Mitführen eines stehenden Messers an mehreren Schultagen,
- Androhen von Sachbeschädigungen mit dem Messer gegenüber Mitschülern,
- Sachbeschädigung an einem Fahrzeug auf dem Schulparkplatz,
- Druckausübung auf Mitschüler, um an Straftaten teilzunehmen,
- Druckausübung auf Mitschüler, um sie zu falschen Aussagen zu verleiten,
- Diebstahl von Mopeds auf dem Gelände des FKG."
Der Antragsteller bestritt, bis auf den Diebstahl eines Meßschiebers und das Mitführen eines Messers an einem Tag, die ihm vorgeworfenen Tatbestände. Die Klassenkonferenz beschloß anschließend, dem Widerspruch nicht abzuhelfen, befürwortete die getroffene Entscheidung des Schulleiters und erklärte, daß sie sie ausdrücklich für richtig halte.
Mit Schreiben vom 31.03.1995, bei der Antragsgegnerin am 03.04.1995 eingegangen, ergänzte der Antragsteller daraufhin seine Widerspruchsbegründung und berief sich im wesentlichen auf formelle Mängel des Verfahrens. Gleichzeitig kündigte er an, nach Ende der Osterferien am 20.04.1995 wieder die Schule besuchen zu wollen.
Als der Antragsteller am 20.04.1995 seinen Schulbesuch bei der Antragsgegnerin wieder aufnehmen wollte, ordnete der Schulleiter der Antragsgegnerin mit Bescheid vom selben Tage die sofortige Vollziehung seiner Verfügung vom 20.03.1995 an. Er begründete dies damit, der Antragsteller werde dadurch von seinen Mitschülern im Schulbetrieb ferngehalten. Es bleibe zu vermuten, daß der Antragsteller seine Mitschüler weiterhin zu kriminellen Handlungen verleite und damit die Ausbildung und den beruflichen Werdegang der Mitschüler gefährde. Es sei weiter zu besorgen, daß diese Gefährdung fortbestehe, da der Antragsteller bereits eine ähnliche Situation an der ... erzeugt habe, indem er Mitschüler kriminalisiere, Bandenbildung betreibe und Diebstahl von Mopedteilen und Autoradios auf Bestellung erwirke bzw. begehe. Mildere Erziehungsmaßnahmen hätten an der ... ebenfalls keinen Erfolg gezeigt. Eine geplante Klassenkonferenz mit dem Ziel, den Antragsteller vom Unterricht auszuschließen sei aufgrund der Abmeldung aus der ... dort nicht durchgeführt worden.
Hiergegen hat der Antragsteller am 24.04.1995 um einstweiligen gerichtlichen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung wiederholt er zunächst sein Vorbringen aus dem Widerspruchsverfahren. Er ist darüber hinaus der Ansicht, die Anordnung der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung sei rechtswidrig, weil eine Eilbedürftigkeit nicht bestehe. Die Antragsgegnerin sei vielmehr einen Monat lang untätig gewesen, ohne die sofortige Vollziehung anzuordnen. Sie habe dem Antragsteller damit rechtzeitigen gerichtlichen Rechtsschutz abgeschnitten. Die Vorwürfe gegen den Antragsteller seien nicht konkretisiert worden. In der Klassenkonferenz vom 30.03.1995 sei lediglich eine Liste pauschaler Vorwürfe vorgelesen worden, konkrete Angaben dazu, was dem Antragsteller vorgeworfen werde, seien jedoch verweigert worden. Darüber hinaus habe der Antragsteller am 14.03.1995 die Reifen am Kfz des Studiendirektors ... nicht zerstochen. Er habe an diesem Tag überhaupt kein Messer bei sich geführt. Er habe auch niemals eine entsprechende Sachbeschädigungsabsicht geäußert. Die bei ihm gefundenen Stoßdämpfer stammten von einem seiner Mitschüler, wofür der Antragsteller eine entsprechende schriftliche Bestätigung des Mitschülers vorlegt.
Mit Widerspruchsbescheid vom 26.04.1995 wies die Bezirksregierung Braunschweig den Widerspruch des Antragstellers vom 24.03.1995 zurück. Der Antragsteller habe seine schulischen Pflichten grob verletzt. Die Vorwürfe im einzelnen seien ihm am 17.03.1995 mündlich mitgeteilt worden. Vorhergehende Ermahnungen seien erfolglos geblieben. Aus diesem Grunde sei die getroffene Maßnahme verhältnismäßig. Schließlich sei die getroffene schulordnungsrechtliche Maßnahme auch formell rechtmäßig ergangen.
Während des gerichtlichen Verfahrens fand am 04.05.1995 eine weitere Klassenkonferenz statt. Ihr wesentlicher Tagesordnungspunkt war die Beschlußfassung zur Anordnung des Sofortvollzuges. Auch an dieser Konferenz nahm der Lehrer ... teil. Ausweislich des Konferenzprotokolls wiederholte der Schulleiter der Antragsgegnerin die gegen den Antragsteller erhobenen Vorwürfe im einzelnen wie folgt:
"
- Mitführen eines stehenden Messers an mehreren Schultagen,
- demontierte Stoßdämpfer, die zu Hause im Keller gefunden wurden,
- Entwenden eines Meßschiebers aus der Werkstatt,
- versuchter Diebstahl eines Mopeds auf dem Gelände des FKG-Göttingen,
- Sachbeschädigung auf dem Parkplatz der ...
Anschließend beschloß die Konferenz, daß die Entscheidung des Schulleiters, den Sofortvollzug anzuordnen, für richtig gehalten werde und befürwortete in diesem Fall im Interesse der Schüler und Lehrer der BBS II die getroffene Maßnahme ausdrücklich.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung seines am 24.03.1995 erhobenen Widerspruchs gegen die Verfügung der Antragsgegnerin vom 20.03.1995 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie tritt dem Vorbringen des Antragstellers im wesentlichen unter Hinweis auf die Begründung des Widerspruchsbescheides vom 26.04.1995 entgegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin und die über den Antragsteller geführten Schülerakten der ... Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der Beratung gewesen.
II.
Der zulässige Antrag ist begründet.
Die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Abwägung zwischen dem Interesse des Antragstellers, einstweilen von der Vollziehung der angefochtenen Verfügung vom 20.03.1995 verschont zu bleiben gegenüber dem Interesse der Antragsgegnerin an der sofortigen Vollziehung dieser Verfügung geht zugunsten des Antragstellers aus.
Dies ist der Fall, weil sich die angefochtene Verfügung bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung als rechtswidrig darstellt.
Die von der Antragsgegnerin gegen den Antragsteller verhängte schulische Ordnungsmaßnahme leidet an formellen und an materiell-rechtlichen Mängeln.
Sowohl die Ausgangsverfügung vom 20.03.1995 als auch der Bescheid vom 20.04.1995, mit dem die sofortige Vollziehung dieser Verfügung angeordnet worden ist, sind zunächst vom Schulleiter der Antragsgegnerin getroffen worden. Rechtmäßig ist diese auf § 61 Abs. 2 Nr. 4 des Niedersächsischen Schulgesetzes - NSchG - i.d.F. vom 27.09.1993 (Nds. GVBl S. 383) i.V.m. § 43 Abs. 2 Nr. 6 NSchG gestützte Maßnahme nur, wenn es sich um eine notwendige Maßnahme in einem Eilfall handelt, in dem die vorherige Entscheidung der zuständigen Konferenz oder des zuständigen Ausschusses nicht eingeholt werden kann und die Konferenz oder der Ausschuß vom Schulleiter hiervon unverzüglich unterrichtet wird. Zuständig für die Verhängung der hier streitigen Ordnungsmaßnahme ist gemäß § 61 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. § 61 Abs. 2 Nr. 4 NSchG die Klassenkonferenz als Teilkonferenz i.S.v. § 36 Abs. 3 NSchG. Von seiner "Notkompetenz" darf der Schulleiter nur in dringenden Eilfällen Gebrauch machen, d.h. wenn eine nicht aufschiebbare Entscheidung sofort oder innerhalb einer bestimmten Frist getroffen werden muß, die zur Herbeiführung eines Beschlusses durch die dafür an sich zuständige Konferenz zu kurz ist, (vgl. Seyderhelm/Nagel, NSchG, Komm., Stand: Juli 1994, § 43 Rn. 2.2.3; Woltering/Bräth, NSchG, 3. Aufl., § 43 Anm. 13). Eine derartige Notkompetenz mag dem Schulleiter bei einem, für wenige Tage geltenden Schulausschluß zustehen (vgl. insoweit auch den dem Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 24.03.1993 - 6 A 61275/92 - zugrunde liegenden Sachverhalt) Der hier nach § 61 Abs. 2 Nr. 4 NSchG verfügte dreimonatige Unterrichtsausschluß läßt sich demgegenüber schon alleine in Anbetracht seiner Dauer nicht auf die Notkompetenz des Schulleiters stützen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum nicht die zuständige Klassenkonferenz nach Ablauf einer kurzfristigen Eilmaßnahme in eigener Zuständigkeit über die hier erlassene schulrechtliche Maßnahme hätte entscheiden können.
Die gleichen Erwägungen treffen dem Grunde nach auf die vom Schulleiter der Antragsgegnerin verfügte Anordnung der sofortigen Vollziehung mit Bescheid vom 20.04.1995 zu, die die zuständige Klassenkonferenz durch Beschluß vom 04.05.1995 ausdrücklich befürwortete. Auch insoweit kann sich der Schulleiter der Antragsgegnerin nicht auf seine aus § 43 Abs. 2 Nr. 6 NSchG abgeleitete Notkompetenz berufen. Seit dem 03.04.1995, dem Eingang der Widerspruchsbegründung des Antragstellers, war dem Schulleiter bekannt, daß der Antragsteller am 1. Schultag nach den Osterferien pünktlich zum Unterrichtsbeginn zu erscheinen gedachte. Zu diesem Zeitpunkt bestand für den Schulleiter, worauf der Antragsteller zu Recht hinweist, die Möglichkeit, die Klassenkonferenz entweder in den Osterferien oder in der ersten Woche nach Wiederbeginn der Schule einzuberufen. Die Entscheidung, die sofortige Vollziehung der angefochtenen Verfügung anzuordnen war zu diesem Zeitpunkt nicht unaufschiebbar i.S.v. § 43 Abs. 2 Nr. 6 NSchG. Dies mag zwar am 20.04.1995, dem ersten Tag nach Wiederbeginn der Schule, so gewesen sein; die Tatsache, daß mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung bis zu diesem Zeitpunkt zugewartet worden ist, darf jedoch nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. Das, die sofortige Vollziehung rechtfertigende besondere öffentliche Interesse stellte sich aus Sicht der Antragsgegnerin am 03.04.1995 in gleicher Weise dar, wie am 20.04.1995. Der dringende Eilfall i.S.v. § 43 Abs. 2 Nr. 6 NSchG ist somit vom Schulleiter der Antragsgegnerin ohne sachlichen Grund herbeigeführt worden. Dies kann nicht zur Ausschaltung der eigentlichen Kompetenz der Klassenkonferenz nach § 61 Abs. 5 NSchG führen, die, wie sich insbesondere aus der Zusammensetzung dieser Konferenz gemäß § 36 Abs. 3 NSchG ergibt, auch im Interesse des betroffenen Schülers grundsätzlich über die streitbefangene Ordnungsmaßnahme zu entscheiden hat.
Das Überschreiten der dem Schulleiter der Antragsgegnerin zustehenden Notkompetenz ist im Hinblick auf die Grundverfügung vom 20.03.1995 und die Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 20.04.1995 durch die Konferenzbeschlüsse vom 30.03.1995 und 04.05.1995 nicht geheilt worden. Entgegen der Ansicht des Antragstellers ist allerdings unbeachtlich, daß die Konferenz nicht selbst die entsprechende Ordnungsmaßnahme bzw. deren Sofortvollzug verfügt, sondern lediglich die vom Schulleiter getroffene Maßnahme befürwortet und ausdrücklich für richtig gehalten hat. Abgesehen davon, daß der Schulleiter die Schule gemäß § 43 Abs. 2 Nr. 2 NSchG nach außen vertritt und deshalb die schulrechtlichen Maßnahmen erläßt entspricht dies inhaltlich der von § 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG geforderten Entscheidung der Klassenkonferenz über die Ordnungsmaßnahme.
Sowohl der Konferenzbeschluß vom 30.03.1995 als auch derjenige vom 04.05.1995 sind bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Rechtmäßigkeitsprüfung indes rechtswidrig.
Dies ergibt sich zunächst aus der Mitwirkung des Studiendirektors ... bei der Beratung und Beschlußfassung beider Konferenzen. Seine Teilnahme erfolgte unter Verstoß gegen § 41 Abs. 1 NSchG. Danach dürfen Mitglieder von Konferenzen bei der Beratung und Beschlußfassung über diejenigen Angelegenheiten, die sie selbst oder ihre Angehörigen persönlich betreffen, nicht anwesend sein.
Bei der gegen den Antragsteller verhängten Ordnungsmaßnahme handelt es sich um eine solche, die den Studiendirektor ... persönlich betrifft. Unter persönlichen Angelegenheiten eines Lehrers sind im Rahmen des § 41 Abs. 1 NSchG solche privaten Angelegenheiten zu verstehen, die gleichzeitig schulische Angelegenheiten sind. Gemeint ist eine Individualbetroffenheit (vgl. Seyderhelm/Nagel a.a.O., § 41 Anm. 4; Woltering/Bräth a.a.O., § 41 Rn. 4). Die Individualbetroffenheit des Studiendirektors ... ergibt sich hier daraus, daß dem Antragsteller im wesentlichen vorgeworfen wird, eine im Eigentum des Studiendirektors ... stehende Sache zerstört zu haben. Die Regelung in § 41 Abs. 1 NSchG hat die gleiche Funktion wie § 20 Abs. 1 VwVfG, der gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 3 des Nds. VwVfG allerdings für die Tätigkeit der Schule keine Anwendung findet. Sinn und Zweck dieser Regelung ist es, das Handeln der Schule im Interesse der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung und des Rechtsschutzes des Bürgers nach Möglichkeit von persönlich-subjektiven Einflüssen freizuhalten. Derartige persönlich-subjektive Einflüsse sind für den Fall, daß ein Geschädigter über eine Ordnungsmaßnahme gegen den vermeintlichen Schädiger mitberät und abstimmt, nicht auszuschließen. Schon dies reicht nach Überzeugung der Kammer für die Annahme eines Mitwirkungsverbot für Studiendirektor ... aus.
Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, daß der Verstoß gegen dieses Mitwirkungsverbot ursächlich für die gegen den Antragsteller verhängte Ordnungsmaßnahme gewesen ist. Studiendirektor ... hat in der Konferenz vom 30.03.1995 die gegen den Antragsteller erhobenen Vorwürfe vorgetragen und somit maßgeblich zur Meinungsbildung der Konferenz beigetragen.
Die Kammer hat auch Zweifel, ob es zulässig war, in der Klassenkonferenz vom 30.03.1995 den Schülervertreter durch Beschluß der Konferenz auf Antrag eines Mitglied des Lehrkörpers von der Abstimmung zu befreien. Mögen hierfür sinnvolle Gründe vorgelegen haben, so dürfte diese Maßnahme dennoch § 36 Abs. 3 Nr. 3 NSchG zuwiderlaufen. Wie sich aus § 36 Abs. 7 NSchG im Umkehrschluß ergibt, hat der Schülervertreter in der Konferenz, die über Ordnungsmaßnahmen nach § 61 NSchG entscheidet (§ 36 Abs. 5 Nr. 4 NSchG) ein eigenes Stimmrecht, das gleichsam eine gesetzliche Pflicht zur Teilnahme bedeutet, wenn auch diese Pflicht nicht erzwungen werden kann (vgl. Seyderhelm/Nagel a.a.O., § 36 Anm. 4.3 und 6; Woltering/Bräth a.a.O., § 36 Anm. 21 und 24). Dieses gesetzlich normierte Teilnahme- und Abstimmungsrecht kann nicht durch Beschluß der Klassenkonferenz aufgehoben werden. Unbenommen bliebe dem Schülervertreter allerdings eine Stimmenthaltung. Auf diese Zweifel kommt es entscheidungserheblich jedoch nicht an, weil sich die angefochtene Verfügung auch aus den nachstehenden Gründen als rechtswidrig erweist.
Die Kammer kann bei der in diesem Verfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht feststellen, daß die Voraussetzungen des § 61 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Nr. 4 NSchG im Falle des Antragstellers vorliegen. Der gegen den Antragsteller verhängte Unterrichtsausschluß von drei Monaten setzt danach voraus, daß die Schülerin oder der Schüler durch den Schulbesuch die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet oder den Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat. Die Sicherheit anderer Personen ist immer dann ernsthaft gefährdet, wenn ein Angriff auf die körperliche Integrität erfolgt ist, versucht wird oder unmittelbar bevorsteht (vgl. Woltering/Bräth, § 81 Rn. 16). Die Kammer vermag eine derartige Gefahr nicht zu erkennen, wobei die Zweifel an der ordnungsgemäßen Ermittlung des Sachverhaltes, mit der gemäß § 61 Abs. 4 NSchG der in eigener Person betroffene Studiendirektor Wölk beauftragt worden ist, hintenanstehen können. Selbst wenn man eine unbefangene Sachverhaltsermittelung durch den Ermittlungsführer unterstellt, ist die Sicherheit anderer Personen nicht ernstlich gefährdet, soweit dem Antragsteller Eigentumsdelikte vorgeworfen werden. Diese stellen, selbst wenn sie vom Antragsteller begangen worden sein sollten, keine Eingriffe in die körperliche Integrität der Betroffenen dar.
Soweit dem Antragsteller weiter eine Kriminalisierung von Mitschülern und Aufruf zur Sachbeschädigung, Gefährdung von Kollegen und Druckausübung auf Mitschüler, um an Straftaten teilzunehmen bzw. um sie zu falschen Aussagen zu verleiten, vorgeworfen wird, sind dies möglicherweise Handlungen, die die Sicherheit anderer Personen ernstlich gefährden können. Für derartige Taten des Antragstellers finden sich in den Verwaltungsvorgängen der Antragsgegnerin indes keine tatsächlichen Anhaltspunkte. Die Akte enthält weder entsprechende konkrete Feststellungen noch diesbezügliche Zeugenaussagen. Bezeichnenderweise wurden diese Vorwürfe in der Klassenkonferenz vom 04.05.1995 auch nicht wiederholt. Die Tatsache, daß der Antragsteller an mehreren Schultagen entgegen der ihm bekannten einschlägigen Erlaßlage ein Messer mitgeführt hat, stellt für sich genommen noch keine ernstliche Gefährdung der Sicherheit anderer Personen dar. Außer Betracht bleiben muß insoweit auch die behauptete Körperverletzung eines Schülers der ... an der dortigen Schule. Unabhängig davon, ob dem Antragsteller diese Tat zu Recht vorgeworfen wird, fand sie - im übrigen ebenso wie ein angeblicher Moped-Diebstahl des Antragstellers - auf dem Gelände der ... statt. Gegenstand von Ordnungsmaßnahmen nach § 61 NSchG kann demgegenüber nur das Verhalten eines Schülers im Unterricht, in der Pause, unmittelbar vor und nach dem Unterricht auf dem Schulgelände und in dessen unmittelbarer Nähe sein (Woltering/Bräth, a.a.O. § 61 Rdnr. 5; Seyderhelm/Nagel, § 61 Anm. 3.1). Die Ahndung eines außerhalb dieses Bereichs liegenden Verhaltens kommt nur in Ausnahmefällen, etwa bei erheblichen Angriffen gegen die Schule und ihre Lehrkräfte in Betracht. Ein derartiger Fall ist hier nicht erkennbar.
Ebensowenig hat die Kammer Anhaltspunkte dafür, daß der Antragsteller den Unterricht nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat. Derartiges wird von der Antragsgegnerin auch nicht geltend gemacht. Gelegentliche Unterrichtsausschlüsse wegen ungebührlichen Benehmens rechtfertigen eine entgegenstehende Annahme jedenfalls nicht.
Die gegen den Antragsteller verhängte Ordnungsmaßnahme verstößt darüber hinaus gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Nach diesem Grundsatz muß die Maßnahme unter erzieherischen Gesichtspunkten im rechten Verhältnis zum Fehlverhalten des Schülers stehen. Ein Übermaß ist verboten. Eine bestimmte Maßnahme darf nur dann verhängt werden, wenn eine den Schüler weniger belastende Maßnahme sich bereits als erfolglos erwiesen hat, voraussichtlich erfolglos bleiben würde oder nach Lage des Einzelfalles nicht als ausreichend anzusehen ist. Dies gilt wegen der weitreichenden Folge der Maßnahme nach § 61 Abs. 2 Nr. 4 NSchG insbesondere in diesem Fall. Dem Ausschluß vom Unterricht hat deshalb in der Regel die Androhung dieser Maßnahme als selbständige Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 2 Nr. 3 NSchG vorauszugehen (Woltering/Bräth, a.a.O. § 61 Rn. 6). Es ist für die Kammer nicht ersichtlich und von der Antragsgegnerin auch nicht glaubhaft vorgetragen, daß dieses mildere Mittel nicht geeignet gewesen wäre, den Zweck, den Antragsteller zur Einhaltung seiner Schülerpflichten anzuhalten, nicht erreicht hätte. Der Hinweis der Antragsgegnerin auf vorangegangene, ohne Erfolg an den Antragsteller gerichtete Erziehungsmittel, wie Ermahnungen, Eintragungen ins Klassenbuch oder Androhung pädagogischer Maßnahmen, geht in diesem Zusammenhang fehl. Derartige pädagogische Mittel stellen keine Ordnungsmaßnahmen i.S.v. § 61 Abs. 2 NSchG dar, so daß ihre Mißachtung durch den Antragsteller keinen Schluß auf die Wirkung der Androhung des Unterrichtsausschlusses nach § 61 Abs. 2 Nr. 3 NSchG auf den Antragsteller zuläßt. Selbst wenn man annehmen wollte, eine Androhung der entsprechenden Maßnahme hätte das gewünschte Ziel nicht erreicht, so bleibt nicht erklärlich, weshalb die Antragsgegnerin gegen den Antragsteller die Höchstdauer des Unterrichtsausschlusses von drei Monaten und nicht einen kürzeren Unterrichtsausschluß verhängt hat. Ebensowenig hat eine Abwägung der widerstreitenden schulischen- und Schülerinteressen stattgefunden, die sich hier insbesondere wegen des Abschlusses des Berufsvorbereitungsjahres durch den Antragsteller zum Schuljahresende aufgedrängt hätte.
Ohne, daß es für die Entscheidung nicht darauf ankommt, wäre die durch den Schulleiter der Antragsgegnerin verfügte Anordnung der sofortigen Vollziehung, die als Eilmaßnahme, wie oben ausgeführt, unzulässig ist, deshalb nicht durch den Beschluß der Klassenkonferenz vom 04.05.1995 geheilt worden, weil dieser Beschluß mit anderen Erwägungen begründet wurde, als sie die Verfügung vom 20.04.1995 enthält. Der Schulleiter hat das öffentliche Interesse am Sofortvollzug mit der Vermutung begründet, der Antragsteller werde seine Mitschüler weiterhin zu kriminellen Handlungen verleite und damit die Ausbildung und den beruflichen Werdegang der Mitschüler gefährden und hat darauf hingewiesen, der Antragsteller habe eine ähnliche Situation an der Geschwisterscholl-Gesamtschule erzeugt; insbesondere habe er Mitschüler kriminalisiert, Bandenbildung betrieben und Diebstahl von Mopedteilen und Autoradios auf Bestellung bewirkt bzw. begangen. Demgegenüber waren Gegenstand des Konferenzbeschlusses vom 04.05.1995 neben dem Mitführen eines stehenden Messers an mehreren Schultagen ausschließlich Eigentumsdelikte, die dem Antragsteller vorgeworfen worden sind. Zwar bleibt es der Klassenkonferenz im Rahmen ihrer Entscheidung nach § 61 Abs. 5 NSchG unbenommen, die sofortige Vollziehung einer Ordnungsmaßnahme mit einer derartigen Begründung in originärer Zuständigkeit anzuordnen, soweit die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 61 NSchG erfüllt sind. Mit dem Beschluß vom 04.05.1995 hat die Konferenz der durch den Schulleiter verfügten Anordnung der sofortigen Vollziehung jedoch eine andere Begründung als dieser gegeben. Ein derartiges Nachschicken von Gründen ist - jedenfalls, nachdem wie hier, ein einstweiliger gerichtlicher Rechtsschutzantrag gestellt ist - in Anwendung der Grundsätze des § 45 Abs. 2 VwVfG wegen der Schutzfunktion, die die Begründung für den Betroffenen entfaltet, unzulässig. Eine Heilung der Überschreitung der Notkompetenz durch den Schulleiter konnte daher durch diesen Konferenzbeschluß nicht eintreten.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 1 GKG. Dabei bewertet die Kammer das Interesse des Antragstellers von der gegen ihn verhängten Ordnungsmaßnahme einstweilen verschont zu bleiben im Gefüge der Streitwerte des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (DVBl. 1991 S. 1239, 1243) mit 6.000,00 DM. Für eine Verminderung dieses Streitwertes im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes sieht die Kammer im Hinblick auf die faktische Vorwegnahme der Hauptsache keine Veranlassung.
Streitwertbeschluss:
Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 6.000,00 DM festgesetzt.
Richter Dr. Rudolph, der an der Beschlußfassung mitgewirkt hat, kann wegen Urlaubsabwesenheit nicht unterschreiben, Kaiser
Dr. Wenderoth