Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 26.10.2005, Az.: 4 B 181/05

Angehöriger; Aserbaidschan; Asylbewerber; Aufenthaltsgestattung; Aushändigung; Auslandsreise; Beisetzung; Beschränkung; Drittstaat; Einreiseerlaubnis; Heimatstaat; Härte; Rechtsschutzinteresse; Reisepass; Russische Föderation; räumliche Beschränkung; Schwester; Teilnahme; unbillige Härte; Verlassenserlaubnis

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
26.10.2005
Aktenzeichen
4 B 181/05
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2005, 51025
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. § 58 Abs. 1 AsylVfG gilt auch für Auslandsreisen des Asylbewerbers.

2. Es bedeutet für den Asylbewerber eine unbillige Härte, wenn ihm die Teilnahme an der Beisetzung eines in einem Drittstaat verstorbenen nahen Angehörigen unter Hinweis auf die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung versagt wird.

Gründe

1

I. Die 1992 in das Bundesgebiet eingereiste Antragstellerin ist aserbaidschanische Staatsangehörige russisch-jüdischer Abstammung, deren Asylantrag vom Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit einem Bescheid vom 10. Oktober 1994 abgelehnt worden ist. Ihre beim Verwaltungsgericht Göttingen anhängige Asylklage ist auf den übereinstimmenden Antrag der Beteiligten des Asylklageverfahrens mit einem Beschluss vom 5. Mai 1998 zum Ruhen gestellt - 4 A 4028/96 -. Mit Urteil vom 30. Oktober 2003 hat das Verwaltungsgericht Göttingen die Antragsgegnerin verpflichtet, der Antragstellerin als jüdischen Emigrantin aus der ehemaligen Sowjetunion eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis zu erteilen - 4 A 4093/01 -. Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Die von der Kammer zugelassene Berufung ist beim Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zum Az. 13 LC 467/03 anhängig.

2

Die Antragstellerin befindet sich im Besitz einer von der Antragsgegnerin erteilten Aufenthaltsgestattung, in der ihr Aufenthalt auf das Gebiet der Stadt D. beschränkt ist. Ihr am . .1992 ausgestellter sowjetischer Reisepass wird ersichtlich von der Antragsgegnerin verwahrt.

3

Aus Anlass der Erkrankung ihrer in Moskau wohnhaften Schwester beantragte die Antragstellerin unter dem 11. Oktober 2005 bei der Antragsgegnerin die Erlaubnis, den Geltungsbereich der ihr erteilten Aufenthaltsgestattung verlassen und nach Moskau reisen zu dürfen. Die Antragsgegnerin hat mit Schreiben vom 17. Oktober 2005 angekündigt, diesen Antrag ablehnen zu wollen, der Antragstellerin jedoch Gelegenheit zur Äußerung bis 30. November 2005 gegeben.

4

Die Antragstellerin versichert am 25. Oktober 2005 nunmehr an Eides statt, dass ihre Schwester am 24. Oktober 2005 in Moskau verstorben sei. Sie beabsichtige, zu der Beerdigung ihrer Schwester in die Russische Föderation ausreisen und anschließend wieder nach Deutschland einreisen zu wollen. Die russischen Behörden würden sie auch ohne gültigen Reisepass einreisen lassen.

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Hierzu beantragte sie am 25. Oktober 2005 bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Erlaubnis zum Verlassen der Bundesrepublik Deutschland für die Dauer von zehn Tagen.

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Mit einem ebenfalls am 25. Oktober 2005 beim Verwaltungsgericht Göttingen eingegangenen Schriftsatz begehrt die Antragstellerin den Erlass einer einstweiligen Anordnung, in der sie geltend macht, dass die Beerdigung ihrer Schwester unmittelbar bevorstehe und sie einen Anspruch auf Erteilung der von ihr nachgesuchten Erlaubnis habe.

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Die Antragstellerin beantragt,

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die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr für die Dauer einer Woche eine Erlaubnis nach § 58 Abs. 1 AsylVfG für eine Fahrt nach Moskau zu erteilen,

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hilfsweise

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es wird festgestellt, dass sie - die Antragstellerin - gemäß § 58 Abs. 4 AsylVfG berechtigt ist, ohne Genehmigung aus Deutschland auszureisen und wieder einzureisen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Sie hält den Antrag für unzulässig. Die Antragstellerin sei wegen ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit nicht gehindert, auszureisen. Umgekehrt sei die Antragsgegnerin nicht in der Lage, die Einreise der Antragstellerin in die Russische Föderation zu gewährleisten. Dessen ungeachtet habe die Antragstellerin keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht, weil ihr kein Anspruch auf Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer zustehe. Jedenfalls sei das der Ausländerbehörde eingeräumte Ermessen nicht auf „Null“ reduziert. Schließlich habe die Antragstellerin auch den Anordnungsgrund nicht belegt.

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Wegen der übrigen Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Retents im Verfahren 4 A 4093/01 verwiesen.

15

II. Das vorläufige Rechtsschutzbegehren nach § 123 VwGO hat mit seinem Hauptantrag Erfolg.

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Streitgegenstand ist nach der Antragstellung, über die das Gericht gemäß § 88 VwGO nicht hinausgehen darf, ausschließlich die nachgesuchte Erlaubnis zum vorübergehenden Verlassen des zugewiesenen Aufenthaltsbereichs nach § 58 des Asylverfahrensgesetzes (AsylVfG). Da es sich um ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren nach dem Asylverfahrensgesetz handelt, entscheidet gemäß § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG der Einzelrichter. Die Antragstellerin ist nach wie vor Asylbewerberin und befindet sich im Besitz einer von der Antragsgegnerin ausgestellten Aufenthaltsgestattung mit räumlicher Beschränkung auf deren Stadtgebiet.

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Der Antragstellerin kann das Rechtsschutzbedürfnis für ihren Antrag nicht deshalb abgesprochen werden, weil sie außer der von ihr nachgesuchten Erlaubnis zum Verlassen des ihr zugewiesenen Aufenthaltsbereichs auch noch zusätzlich der durch russische Behörden zu erteilenden Einreiseerlaubnis in die Russische Föderation bedarf. Denn es bleibt der Antragstellerin unbenommen, die Erteilung einer solchen - außerhalb der Zuständigkeit deutscher Behörden und Gerichte stehenden - Einreiseerlaubnis bei den russischen Behörden zu beantragen (ebenso VGH Kassel, Beschluss vom 13.3.1990, NVwZ-RR 1990, S. 514). In dieser Hinsicht hat sich die Antragstellerin auch eingelassen und auf die Kontaktierung der russischen Auslandsvertretungen sowie entsprechende mündliche Zusagen verwiesen. Ebenso wenig kann ihr das Rechtsschutzbedürfnis deshalb abgesprochen werden, weil sie über die streitbefangene Erlaubnis nach § 58 AsylVfG hinaus jedenfalls zur Ermöglichung der Wiedereinreise ersichtlich der - hier nicht streitgegenständlichen - Ausstellung eines geeigneten Passersatzes bedarf (ebenso VGH Kassel, ebd.). Denn der Antragstellerin bleibt es unbenommen, bei der Antragsgegnerin die Ausstellung eines Reiseausweises für Ausländer nach § 6 Satz 1 Nr. 4, Satz 2, §§ 5, 8 Abs. 2, 9 Abs. 2, 10 der Aufenthaltsverordnung (AufenthV) zu beantragen. Im Gegensatz zur früheren Rechtslage hat der Verordnungsgeber mit diesen Vorschriften Auslandsreisen von Asylbewerbern grundsätzlich wieder ermöglicht (vgl. zur früheren Rechtslage: VG Meiningen, Beschluss vom 24.5.1995, AuAS 1995, S. 174).

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Gemäß § 123 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Gemäß § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit § 920 Abs. 2 ZPO sind Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund vom Antragsteller glaubhaft zu machen.

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Grundsätzlich darf eine einstweilige Anordnung die Hauptsache nicht vorwegnehmen. Ausnahmsweise darf allerdings das Vorwegnahmeverbot durchbrochen werden, wenn der Hauptsacherechtsschutz zu spät käme und dies für den Antragsteller zu schlechthin unzumutbaren Nachteilen führen würde, die sich auch bei einem späteren Erfolg im Hauptsacheverfahren nicht mehr abwenden oder ausgleichen ließen. In derartigen Fällen ist die Vorwegnahme der Hauptsache geboten, weil andernfalls die durch Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes nicht gewährleistet wäre (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 4. Aufl., Rdnr. 212). So verhält es sich hier. Der Antragstellerin ist ein Verweis auf ein Klageverfahren nicht zuzumuten, weil dieses zu spät käme, um dem Anlass ihres Begehrens Rechnung zu tragen.

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Das vorläufige Rechtsschutzgesuch ist auch begründet.

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Die Antragsstellerin hat einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht. Nach der von ihr vorgelegten eidesstattlichen Versicherung vom 25. Oktober 2006 steht die Beisetzung ihrer Schwester in Moskau unmittelbar bevor.

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Die Antragstellerin hat auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Antragsgegnerin darf der Antragstellerin die von ihr am 25. Oktober 2005 nachgesuchte Erlaubnis nach § 58 Abs. 1 AsylVfG zum vorübergehenden Verlassen des Geltungsbereichs der Aufenthaltsgestattung nicht vorenthalten.

23

Im Gegensatz zu der im Anhörungsschreiben vom 17. Oktober 2005 von der Antragsgegnerin geäußerten Rechtsauffassung gilt die Vorschrift des § 58 Abs. 1 AsylVfG auch für Auslandsreisen des Asylbewerbers. Dies folgt bei einer systematischen Auslegung aus § 65 Abs. 2 AsylVfG, der die Ausländerbehörde ermächtigt, dem Asylbewerber den von ihm nach § 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylVfG der Behörde überlassenen Reisepass vorübergehend auszuhändigen, wenn dies in den Fällen des § 58 Abs. 1 AsylVfG „für eine Reise“ erforderlich ist, da die Bescheinigung über die Aufenthaltsgestattung, mit der der Asylbewerber gemäß § 64 Abs. 1 AsylVfG seiner inländischen Ausweispflicht genügt, nach § 64 Abs. 2 AsylVfG nicht zum Grenzübertritt berechtigt (ebenso zur früheren Rechtslage nach § 25 Abs. 1 AsylVfG a.F.: BVerwG, Beschluss vom 23.8.1985, NVwZ 1986, S. 133 [BVerwG 23.08.1985 - BVerwG 1 B 163/84]). Entsprechendes folgt aus den oben zitierten Vorschriften der §§ 5 ff. AufenthV.

24

Die Antragstellerin hat nach § 58 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG auch einen Anspruch auf Erteilung der nachgesuchten Erlaubnis im tenorierten Umfang. Nach dieser Vorschrift ist die Erlaubnis zwingend zu erteilen, wenn ihre Versagung für den Asylbewerber eine unbillige Härte bedeuten würde. Das gerichtlich voll überprüfbare Tatbestandsmerkmal der „unbilligen Härte“ (vgl. VGH Kassel, ebd.) läge hier vor, wenn der Antragstellerin die Möglichkeit zur Teilnahme an der Beerdigung ihrer am 24. Oktober 2005 in Moskau verstorbenen Schwester verwehrt würde. Dies gebieten bereits ethische Erwägungen. Hinzu kommt, dass die Antragstellerin nicht in ihren Herkunftsstaat Aserbaidschan, sondern in den Drittstaat Russische Föderation reisen will, ihr Asylantrag danach nicht gemäß § 33 Abs. 2 AsylVfG als zurückgenommen gilt und keinerlei Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der vorübergehende Aufenthalt in Russland ihr ruhendes Asylklageverfahren beeinträchtigen könnte. Hinzu kommt die bereits lange Dauer ihres Asylverfahrens und der ersichtlich beanstandungsfrei verlaufende Aufenthalt der Antragstellerin im Bundesgebiet seit 13 Jahren. Vor dem Hintergrund, dass die Rechtsprechung zugunsten des Asylbewerbers bereits die Ermöglichung der Teilnahme an einer im Ausland stattfindenden Klassenfahrt in Gestalt einer Skifreizeit als zwingenden Grund für die Erteilung der Verlassenserlaubnis ansieht (VGH Kassel, ebd.), ist kein schützenswertes öffentliches Interesse ersichtlich, der Antragstellerin die Teilnahme an der Beisetzung ihrer Schwester in Moskau zu versagen.

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Dem Antrag war deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylVfG.