Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 17.06.2024, Az.: 1 B 1565/24
Abschiebungsandrohung; Asylunerheblich; EuGH C-484/22; faktischer Inländer; Asyl (Armenien); Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 17.06.2024
- Aktenzeichen
- 1 B 1565/24
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2024, 18292
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGHANNO:2024:0617.1B1565.24.00
Rechtsgrundlagen
- AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1
- AsylG § 34 Abs. 1 Nr. 4
- EMRK Art. 8
- Rückführungsrichtlinie Art. 5
Amtlicher Leitsatz
Die Figur des faktischen Inländers steht der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Az. C-484-22) nicht entgegen, weil nur die in Art. 5 der Rückführungsrichtline und § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG abschließend aufgelisteten Gründe zu berücksichtigen und Art. 8 Abs. 1 EMRK nicht umfassend zu prüfen ist.
Tenor:
Der Antrag wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege vorläufigen Rechtsschutzes gegen seine Abschiebung nach Armenien.
Der Antragsteller ist armenischer Staatsangehöriger, jesidischen Glaubens. Er ist im Jahr 2000 in Jerewan, Armenien geboren. Nach seinem Vorbringen in der persönlichen Anhörung vom 26. März 2024 sei er im Jahre 2002 zusammen mit seinen Eltern in das Bundesgebiet eingereist. Im Jahr 2019 sei sein armenischer Reisepass abgelaufen, bis dahin habe er durchgehend in Deutschland gelebt und sei im Besitz einer Niederlassungserlaubnis gewesen. Er habe ein Abgangszeugnis von der Hauptschule, aber keinen Beruf erlernt. Zur Erneuerung des armenischen Reisepasses sei er dann mit seinem Bruder nach Armenien gereist, da die armenische Botschaft wegen seiner Wehrdienstpflicht keinen Reisepass ausgestellt habe. Die Formalitäten mit der Klärung der Wehrdienstpflicht und der Ausstellung eines neuen Reisepasses hätten über ein Jahr gedauert. Während dieser Zeit habe er bei seinen Großeltern gelebt; auch sein Bruder lebe noch in Armenien. Wo sich seine Eltern aufhalten, wisse er nicht. Für eine Rückkehr nach Deutschland habe er ein Visum benötigt, entsprechende Anträge seien in den Jahren 2020 und 2021 jedoch abgelehnt worden. Schließlich sei er mit einem griechischen Visum im August 2022 in das Bundesgebiet eingereist und habe sich bei der zuständigen Ausländerbehörde anmelden wollen. Diese habe ihn aufgefordert, das Bundesgebiet zu verlassen. Er habe daraufhin keinen anderen Ausweg gesehen und einen Asylantrag gestellt. Die Rückkehr nach Armenien könne er sich nicht vorstellen, da er sein ganzes Leben in Deutschland verbracht habe. Auf Nachfrage bestätigte er, dass ihm in Armenien nichts zugestoßen sei.
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) lehnte den Asylantrag sowie den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz mit Bescheid vom 2. April 2024 als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Armeniens vorliegen. Es drohte die Abschiebung nach Armenien an und ordnete ein Einreise- und Aufenthaltsverbot an, das es auf 30 Monate befristete.
Unter dem 12. April 2024 hat der Antragsteller Klage erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist (1 A 1564/24), und zugleich um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung macht er geltend, dass ihm in Armenien Verelendung drohe. Er habe 2019 die Einbürgerung beantragt und dafür die Identität und Staatsangehörigkeit klären müssen. Eine Integration in Armenien sei nicht möglich. Er sei zwar registriert worden, habe aber wegen seiner jesidischen Religions- und Volkszugehörigkeit weder Arbeit noch Wohnung finden können. Er spreche kein armenisch, sondern Kurdisch-Kurmanci und Deutsch. Er habe die prägenden Jahre in Deutschland verbracht. In Armenien hätten ihn seine Großeltern aufgenommen. Er sei faktischer Inländer. Das ungewöhnliche Schicksal und die Folgen daraus seien im Verfahren der Hauptsache zu regeln und daher solange von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen.
Der Antragsteller beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung in dem Bescheid vom 2. April 2024 anzuordnen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 AsylG der Einzelrichter entscheidet, hat keinen Erfolg.
Der gem. § 80 Abs. 5 VwGO und § 36 Abs. 3 AsylG statthafte und auch ansonsten zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid vom 2. April 2024 enthaltene Abschiebungsandrohung ist unbegründet.
Im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung in Ziffer 5. des Bescheides vom 2. April 2024.
Gegenstand des gerichtlichen Eilverfahrens ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG die mit einer Ausreisefrist von einer Woche (§ 36 Abs. 1 AsylG) verbundene Abschiebungsandrohung. Die mit der Entscheidung bezweckte umgehende Beendigung des Aufenthalts im Bundesgebiet stützt sich auf die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet und ist deren Folge. Gem. § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts bestehen. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 - 2 BvR 1516/93 -, BVerfGE 94,166, 194).
Die Rechtmäßigkeit der Ablehnung der Anträge des Antragstellers auf Asylanerkennung, auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz sowie die Offensichtlichkeitsfeststellung i. S. v. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG im Bescheid vom 2. April 2024 sind im Ergebnis nicht ernstlich zweifelhaft. Die Voraussetzungen der Asylanerkennung bzw. des internationalen Schutzes liegen ersichtlich nicht vor; der Antragsteller hat insoweit auch nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind.
Zur Begründung verweist der Einzelrichter zunächst auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen Bescheid (§ 77 Abs. 3 AsylG). Die tatsächlichen Feststellungen und rechtlichen Bewertungen der Antragsgegnerin sind zutreffend. Hinsichtlich des Antrags auf Asyl und die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sowie des subsidiären Schutzes hat der Antragsteller bereits keine fluchtrelevanten Ausführungen gemacht. Vielmehr hat er im Rahmen seiner persönlichen Anhörung ausdrücklich bestätigt, dass ihm während seines Aufenthalts in Armenien nicht zugestoßen sei. Auch seine jesidische Religions- und Volkszugehörigkeit sollen nach eigener Aussage zwar zu einer erschwerten Integration, aber nicht zu Verfolgungshandlungen geführt haben. Eine fluchtrelevante Verfolgung von Jesiden in Armenien ergeben auch die aktuellen Erkenntnismittel nicht. Der aktuelle Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 5. März 2024 führt ausdrücklich aus: "Angehörige der jesidischen Minderheit berichteten in der Vergangenheit vereinzelt über Diskriminierungen; systematische und zielgerichtete staatliche Repressionen sind jedoch nicht bekannt." (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Armenien, 5.3.2024, S. 7). Einen anderen Schluss lassen auch die sonstigen aktuellen Erkenntnismittel nach Auffassung des Einzelrichters nicht zu. Der vom Antragsteller geschilderte Werdegang mit dem Aufwachsen in Deutschland und der Reise nach Armenien knüpfen nicht an zielstaatsbezogene Gründe an. Der Asylantrag ist anderen Aufenthaltsmotiven zuzuschreiben. Das Vorbringen ist letztlich inlandsbezogen und damit vornehmlich ausländerrechtlich von Belang. Eine persönliche Verfolgung oder ein ernsthafter Schaden i. S. v. §§ 3, 4 AsylG kann daher aus dem Vorbringen des Klägers nicht folgen. Damit ist das Vorbringen asylunerheblich i. S. v. § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
Auch Abschiebungsverbote gem. § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG sind nicht festzustellen.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten - EMRK - (BGBl. 1952 II S. 685) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Unter bestimmten Voraussetzungen können auch schlechte humanitäre Verhältnisse eine Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK darstellen. Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen ein gewisses "Mindestmaß an Schwere" erreichen. Diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Die Unmöglichkeit der Sicherung des Lebensunterhalts kann auf der Verhinderung eines Zugangs zum Arbeitsmarkt oder auf dem Fehlen staatlicher Unterstützungsleistungen beruhen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 23.8.2018 - BVerwG 1 B 42.18 -, juris Rn. 11). Es bedarf insoweit der Würdigung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 - BVerwG 1 B 25.18 -, juris). Zu den Umständen und Faktoren gehören etwa das Alter, das Geschlecht, der Gesundheitszustand, die Volkszugehörigkeit, die Ausbildung, das Vermögen und die familiären oder freundschaftlichen Verbindungen des Betroffenen (siehe Nds. OVG, Beschl. v. 28.1.2022 - 4 LA 250/20 -, juris unter Verweis auf OVG Saarland, Beschl. v. 15.7.2021 - 2 A 96/21 -, juris).
Eine Verletzung von Art. 3 EMRK setzt die tatsächliche Gefahr der Folter oder unmenschlichen Behandlung voraus. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte muss demnach eine ausreichend reale, nicht nur auf bloßen Spekulationen, denen eine hinreichende Tatsachengrundlage fehlt, gegründete Gefahr bestehen. Die tatsächliche Gefahr einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung muss aufgrund aller Umstände des Falles hinreichend sicher und darf nicht hypothetisch sein (EGMR, Urt. v. 28.6.2011 - Az. 8319/07 und 11449/07 -, Sufi u. Elmi v. the United Kingdom, NVwZ 2012, 681 ff.; Urt. v. 27.5.2008 - Az. 26565/05 -, N. v. the United Kingdom, NVwZ, 2008, 1334 ff. [EGMR 27.05.2008 - EGMR (Große Kammer) Nr. 26565/05] und Urt. v. 6.2.2011 - Az. 44599/98 -, NVwZ, 2002, 453 ff..; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 17.12.2020 - A 11 S 2042/20 -, juris Rn. 27; OVG NRW, Urt. v. 18.06.2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn. 43; Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 52). Der Prognosemaßstab der tatsächlichen Gefahr entspricht dem der beachtlichen Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019 - BVerwG 1 B 2.19 -, juris Rn. 6, und Urt. v. 27.4.2010 - BVerwG 10 C 5.09 -, juris Rn. 22). Es ist eine "qualifizierende" Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen (BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019 - BVerwG 1 B 2.19 -, juris Rn. 6, und Urt. v. 20.2.2013 - 10 C 23.12 -, juris Rn. 32). Dabei ist ein gewisser Grad an Mutmaßung dem präventiven Schutzzweck des Art. 3 EMRK immanent. Ein eindeutiger, über alle Zweifel erhabener Beweis, dass der Betroffene im Falle seiner Rückkehr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre, kann daher nicht verlangt werden (BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019 - BVerwG 1 B 2.19 -, juris Rn. 6 mit Verweis auf EGMR, Urt. v. 9.1.2018 - 36417/16 -, X v. Sweden, Rn. 50; Nds. OVG, Urt. v. 29.1.2019 - 9 LB 93/18 -, juris Rn. 52).
Gemessen an diesen hohen Maßstäben droht dem Antragsteller nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verletzung seiner in Art. 3 EMRK niedergelegten Menschenrechte.
Die nach den dargelegten Grundsätzen geforderten Anforderungen sind nicht erfüllt. In Armenien ist ein breites Warenangebot in- und ausländischer Herkunft vorhanden. Auch umfangreiche ausländische Hilfsprogramme tragen zur Verbesserung der Lebenssituation von benachteiligten Gruppen bei. Die Gas- und Stromversorgung ist grundsätzlich gewährleistet. Leitungswasser steht dagegen in manchen Gegenden, auch in einigen Vierteln der Hauptstadt, insbesondere während der Sommermonate nicht immer 24 Stunden am Tag zur Verfügung. Die Wasserversorgung wird jedoch laufend verbessert. Die durchschnittliche Wasserversorgung in der Hauptstadt dürfte bei etwa 95 % liegen, dies entspricht 23 Stunden täglich. Ein beachtlicher Teil der Bevölkerung ist nach wie vor finanziell nicht in der Lage, seine Versorgung mit den zum Leben notwendigen Gütern ohne Unterstützung durch humanitäre Organisationen sicherzustellen. Ein Großteil der Bevölkerung wird finanziell und durch Warensendungen von Verwandten im Ausland unterstützt. Der Großteil der Armenierinnen und Armenier geht mehreren Erwerbstätigkeiten und darüber hinaus privaten Geschäften und Gelegenheitstätigkeiten nach (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien vom 25.7.2022, S. 18). Auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles ist davon auszugehen, dass der Antragsteller bei einer Ausreise nach Armenien seinen Lebensunterhalt - wenn auch auf niedrigem Niveau - sichern könnte. Der Antragsteller ist jung und hat nicht dargelegt, dass er nicht grundsätzlich arbeitsfähig wäre. Er hat bereits im Zeitraum nach seiner Ausreise nach Armenien und vor seiner Einreise in das Bundesgebiet im August 2022 eine längere Zeit bei seinen Großeltern verbracht. Auch sein Bruder lebt nach eigener Aussage noch in Armenien. Das Gericht verkennt nicht, dass der Antragsteller in Deutschland aufgewachsen ist und keinen Berufsabschluss hat. Rückkehrende aus dem Ausland werden in Armenien jedoch auch grundsätzlich nach der Ankunft in die Gesellschaft integriert. Rückkehrende aus Deutschland nutzen häufig die erworbenen Deutschkenntnisse bzw. ihre in Deutschland geknüpften Kontakte. Sie haben Zugang zu allen Berufsgruppen, auch im Staatsdienst (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Armenien, 5.3.2024, S. 17). Es gibt verschiedene Projekte, um armenische Staatsangehörige bei der Rückkehr nach Armenien und der Eingliederung zu unterstützen (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, 16.10.2023, S. 37). Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass diese Möglichkeiten für Jesiden grundsätzlich ausgeschlossen wären. Im Bedarfsfalle wäre der Antragsteller darauf zu verweisen, die Unterstützung seiner Angehörigen in Anspruch zu nehmen und die Möglichkeiten des armenischen Sozialsystems auszuschöpfen. Die konkrete Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK kann der Einzelrichter daher nicht erkennen.
Es bestehen auch keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in seinem Beschluss vom 15. Februar 2023 (Az. C-484-22) und § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
Nach § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG in der nunmehr geltenden Fassung (vgl. Gesetz zur Verbesserung der Rückführung - Rückführungsverbesserungsgesetz - BGBl. 2024 I Nr. 54 v. 26.02.2024) ist Voraussetzung für den Erlass der Abschiebungsandrohung durch das Bundesamt, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Diese Regelung entspricht vom Wortlaut der Änderung des § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG als unmittelbar maßgeblicher Vorschrift für den Erlass einer Abschiebungsandrohung durch die Ausländerbehörde. Die Gesetzesänderung ist Folge der jüngsten Rechtsprechung des EuGHs. Danach ist Art. 5 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG (nachfolgend: Rückführungsrichtlinie) dahin auszulegen, dass er verlangt, das Wohl des Kindes und seine familiären Bindungen (bereits) im Rahmen eines zum Erlass einer gegen einen Minderjährigen ausgesprochenen Rückkehrentscheidung führenden Verfahrens zu schützen, und es nicht genügt, wenn der Minderjährige diese beiden geschützten Interessen (erst) im Rahmen eines nachfolgenden Verfahrens betreffend den Vollzug dieser Rückkehrentscheidung geltend machen kann, um gegebenenfalls eine Aussetzung deren Vollzugs zu erwirken (EuGH, Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -, Rn. 28).
Der Antragsteller hat keine familiären Bindungen i. S. v. Art. 6 GG und Art. 8 EMRK im Bundesgebiet, die einen Aufenthalt in Deutschland erforderlich machen würde. Auch der vom Antragsteller dargelegte Werdegang in Deutschland und die in Bezug genommene Figur des "faktischen Inländers" steht der Abschiebungsandrohung nicht entgegen.
Gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person u.a. das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens. Nach der obergerichtlichen Rechtsprechung müsste der Ausländer für den besonderen Schutz gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK im Bundesgebiet ein Leben führen, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt ist und er faktisch so stark in die hiesigen Lebensverhältnisse integriert ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.07.2002 - 1 C 8/02 -, juris, Rn. 23; OVG Baden-Württemberg, Beschl. v. 2.3.2020 - 11 S 2293/18 -, juris Rn. 31).
Unabhängig von der Frage, ob der Antragsteller tatsächlich dem besonderen Schutz eines "faktischen Inländers" unterliegt, erschöpft sich der Regelungsgehalt von Art. 5 der Rückführungsrichtlinie und § 34 AsylG in der Berücksichtigung des Kindeswohls, der familiären Belange und des Gesundheitszustands - sowie in Art. 5 der Rückführungsrichtlinie des Grundsatzes der Nichtzurückweisung (Non-Refoulement) - und erfordert gerade keine umfassende Prüfung des Art. 8 Abs. 1 EMRK. Insoweit sind die Vorschriften des Art. 5 der Rückführungsrichtlinie und des § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG gerade nicht mit den tatsächlichen und rechtlichen Gründen, die einer Abschiebung gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK i. V. m. § 60a AufenthG entgegenstehen können, deckungsgleich. Auch der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (Beschl. v. 15.2.2023 - C-484/22 -) und der Entstehung des Rückführungsverbesserungsgesetzes lässt sich nicht entnehmen, dass der Anwendungsbereich von Art. 5 der Rückführungsrichtlinie und § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG über die abschließend aufgezählten Gründe auf andere tatsächliche und rechtliche Abschiebungshindernisse auszudehnen ist. Vielmehr hat die Bundesregierung im Gesetzgebungsverfahren zum Rückführungsverbesserungsgesetz bekräftigt, dass der EuGH "entsprechend der Vorgaben in Art. 5 der Rückführungsrichtlinie über die dort normierten Abschiebungshindernisse befunden und entschieden [hat], dass bei deren Vorliegen keine Rückkehrentscheidung er gehen darf. Sonstige Abschiebungshindernisse sind von der Rechtsprechung nicht umfasst und sind daher auch nicht Teil der von der Bundesregierung vorgenommenen Umsetzung. Bei den sonstigen Abschiebungshindernissen gilt nach wie vor der Grundsatz, dass eine Abschiebungsanordnung ergehen kann und das Abschiebungshindernis der Androhung nicht entgegensteht" (BT-Drs. 20/9642, S. 11). Für eine erweiternde Auslegung von § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG in Bezug auf die Figur des "faktischen Inländers" i. S. v. Art. 8 Abs. 1 EMRK sieht der Einzelrichter vor diesem Hintergrund keinen Raum.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.