Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 15.06.2024, Az.: 10 B 2442/24

Generation Islam; Muslim Interaktiv; Realität Islam; Versammlungsverbot; Anforderungen an ein Versammlungsverbot einer sog. pro-palestinensischen Versammlung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.06.2024
Aktenzeichen
10 B 2442/24
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2024, 16843
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2024:0615.10B2442.24.00

Amtlicher Leitsatz

Voraussetzung für ein Versammlungsverbot nach § 8 Abs. 2 NVersG ist eine tragfähige Gefahrenprognose, die tatsächliche Anhaltspunkte für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für einer unmittelbaren Gefahr für die öffentliche Sicherheit, die nicht anders abgewendet werden kann. Hierfür muss die Antragsgegnerin hinreichend darlegen, die die vom Antragsteller angemeldete Versammlung einen unfriedlichen Verlauf nehmen wird und dabei Leben und körperliche Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmer und/oder Dritter gefährdet werden. Das Verbot konnte auch nicht darauf gestützt werdenl, dass die angemeldete Versammlung in der Art und Weise ihrer Durchführung geeignet wäre, ein militantes Erscheinungsbild zu vermitteln und dadurch den öffentliches Frieden zu stören. Weder hat die Antragsgegnerin nachvollziehbar dargelegt, dass auf der Versammlung eine israelfeindliche Stimmung verbreitet würde, noch, dass eine Propagierung der Vernichtung des Staates Israels und/oder der Aufforderung zur Tötung seiner Bewohner zu befürchten steht, was eine erhebliche Unfriedlichkeit indizieren würde. Soweit die Antragsgegnerin ein Verbot damit rechtfertigen möchte, dass die Versammlung in den sozialen Medien von den Gruppierungen "Realität Islam", "Generation Islam" und "Muslim Interaktiv" beworben werde, trägt ihre Gefahrenprognose nicht. Soweit sie auf vergangene Versammlungen der Gruppierungen verweist, sind diese - nach ihren eigenen Angaben - offenkundig ohne eine unmittelbare Gefährdung oder Störung der öffentlichen Ordnung abgehalten wurden. Vor einem Verbot sind jedoch Auflagen, u.a. in Bezug auf Redeverbote, Verbot des Zeigens bestimmter Symbole und gewisser Viorgehensweisen, zu prüfen.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 15. Juni 2024 gegen das mit Bescheid vom 14. Juli 2024 verfügte Versammlungsverbot wird wiederhergestellt.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 5.000,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antragsteller hat mit seinem heute gestellten Antrag,

die aufschiebende Wirkung seiner ebenfalls heute erhobenen Klage 10 A 2441/24 gegen die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom 14. Juni 2024 wiederherzustellen,

Erfolg. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Versammlungsverbots vom 14. Juni 2024 ist zwar formal nicht zu beanstanden, genügt insbesondere den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Aber die nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gebotene Interessenabwägung fällt zu Lasten der Antragsgegnerin aus.

Gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1, 2. Alt. VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung der Klage gegen einen Verwaltungsakt wiederherstellen, dessen sofortige Vollziehung die Behörde - wie hier die Antragsgegnerin - gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet hat. Die Entscheidung des Gerichts hängt von einer Abwägung des öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehbarkeit mit dem privaten Interesse des Antragstellers an einem vorläufigen Aufschub der Vollziehung ab. Für die Interessenabwägung fallen die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs, dessen aufschiebende Wirkung wiederhergestellt werden soll, wesentlich ins Gewicht. Ist der Verwaltungsakt bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung offensichtlich rechtswidrig, so hat der Antrag Erfolg, da in diesem Fall kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit bestehen kann. Stellt sich der Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig dar, überwiegt in der Regel das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Maßnahme. Zusätzlich muss ein besonderes Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts bestehen, da § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO gegenüber dem Regelfall des § 80 Abs. 1 VwGO eine zusätzliche Hürde in Form des überwiegenden Vollzugsinteresses aufstellt. Erweisen sich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache dagegen bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage als offen, findet eine Abwägung der für und gegen die sofortige Vollziehung sprechenden Interessen statt.

Unter Anwendung dieser Maßstäbe überwiegt vorliegend das Interesse des Antragstellers das öffentliche Interesse an einer sofortigen Vollziehung des Versammlungsverbots. Denn bei der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes allein möglichen und gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage erweist sich die Verbotsverfügung der Antragsgegnerin vom gestrigen Tag, mit welcher dem Antragsteller die für heute im Zeitraum vom 16:00 Uhr bis 17:00 Uhr angezeigte Versammlung zu dem Thema "Leid der Palästinenser. Aktuelle Lage in Gaza (Rafah)" verboten worden ist, als voraussichtlich rechtswidrig.

Gemäß § 8 Abs. 2 Niedersächsisches Versammlungsgesetz (NVersG) kann die zuständige Behörde eine Versammlung verbieten, wenn ihre Durchführung die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet und die Gefahr nicht anders abgewehrt werden kann.

Die öffentliche Sicherheit ist gefährdet, wenn eine konkrete Sachlage vorliegt, die nach dem gewöhnlichen Verlauf der Dinge den Eintritt eines Schadens mit hoher Wahrscheinlichkeit erwarten lässt und daher bei ungehindertem Geschehensablauf zu einem Schaden für die der Versammlungsfreiheit entgegenstehenden Rechtsgüter führt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.12.2007 - 1 BvR 2793.04 -, juris, Rn. 20).

Ist eine versammlungsbehördliche Verfügung auf eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit gestützt, erfordert die von der Behörde und den befassten Gerichten angestellte Gefahrenprognose tatsächliche Anhaltspunkte, die bei verständiger Würdigung eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Gefahreneintritts ergeben. Bloße Verdachtsmomente oder Vermutungen reichen nicht aus. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen von Gründen für eine Auflage oder ein Verbot liegt grundsätzlich bei der Behörde (Vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 20.12.2012 - 1 BvR 2794.10 -, juris, Rn. 17, vom 12.05.2010 - 1 BvR 2636/04 -, juris, Rn. 17). Eingriffe in die Versammlungsfreiheit sind nur zum Schutz gleichgewichtiger anderer Rechtsgüter unter strikter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zulässig. Insbesondere Versammlungsverbote dürfen nur verhängt werden, wenn mildere Mittel nicht zur Verfügung stehen und soweit der hierdurch bewirkte tiefgreifende Eingriff in das Grundrecht aus Art. 8 Abs. 1 GG auch in Ansehung der grundlegenden Bedeutung der Versammlungsfreiheit für das demokratische und freiheitliche Gemeinwesen insgesamt nicht außer Verhältnis steht zu den jeweils zu bekämpfenden Gefahren und dem Beitrag, den ein Verbot zur Gefahrenabwehr beizutragen vermag (vgl. BVerfG, Beschluss vom 30.08.2020 - 1 BvQ 94.20 -, juris, Rn. 16). Für eine Gefahrenprognose können Ereignisse im Zusammenhang mit früheren Versammlungen als Indizien herangezogen werden, soweit sie bezüglich des Mottos, des Ortes, des Datums sowie des Teilnehmer- und Organisatorenkreises Ähnlichkeiten zu der geplanten Versammlung aufweisen.

Gemessen an diesen Maßstäben ist die Annahme der Antragsgegnerin, es bestünden bei Durchführung der Versammlung hinreichende tatsachengestützte Anhaltspunkte für eine unmittelbare Gefahr für die öffentliche Sicherheit, voraussichtlich rechtswidrig.

a. Soweit die Antragsgegnerin auf den Nahostkonflikt verweist, rechtfertigt dies kein Verbot der durch den Antragsteller angezeigten Versammlung.

Die Kammer verkennt nicht, dass aufgrund der durch das Massaker der Hamas an der israelischen Bevölkerung am 7. Oktober 2023 verursachten Eskalation des Nahostkonflikts derzeit nicht nur bei pro-palästinensischen Demonstrationen ein sehr hohes Mobilisierungs- und Emotionalisierungspotential besteht und jederzeit mit einer dynamischen Veränderung der Stimmungslage der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zu rechnen ist. Auch erkennt das Gericht das - politische - Bestreben gerade der Antragsgegnerin an, nach außen eine einheitlich wirkende Einstellung der Bevölkerung des Bundesgebiets zu diesem Themenbereich darstellen zu wollen, um Antisemitismus in jeder Form entgegenzuwirken. Die Antragsgegnerin hat jedoch als Voraussetzung für ein Verbot der Versammlung nicht zureichend dargelegt, dass die von dem Antragsteller angemeldete Versammlung einen unfriedlichen Verlauf nehmen wird und dabei Leben und körperliche Unversehrtheit der Versammlungsteilnehmerinnen und Versammlungsteilnehmer oder Dritter gefährdet werden; soweit die Antragsgegnerin explizit darauf verweist, dass jüdische Personen die Versammlung besuchen könnten und es dann zu Gefahren der vorgenannten Art kommen könnte, gilt Selbiges. Ebenso wenig ist die Begehung von Äußerungsdelikten dargelegt.

Die Antragsgegnerin kann ihr Verbot auch nicht darauf stützen, dass die angemeldete Versammlung in der Art und Weise ihrer Durchführung geeignet wäre, ein militantes Erscheinungsbild zu vermitteln und dadurch den öffentlichen Frieden zu stören. Es ist aus der Sicht des erkennenden Gerichts weder zureichend dargelegt, dass auf der Versammlung eine israelfeindliche Stimmung verbreitet würde, noch konnte dargelegt werden, dass eine Propagierung der Vernichtung des Staates Israels und/oder der Aufforderung zur Tötung seiner Bewohner zu befürchten steht, was eine erhebliche Unfriedlichkeit indizieren würde. Sofern die Antragsgegnerin befürchtet, dass sich einzelne Teilnehmerinnen oder Teilnehmer aufgrund der aggressiven Grundstimmung zu Straftaten hinreißen lassen könnten, sind Maßnahmen zuvörderst gegen diesen Teilnehmerkreis zu richten.

b. Soweit die Antragsgegnerin darauf verweist, dass die Versammlung in den sozialen Medien von den Gruppierungen "Realität Islam" und "Generation Islam" sowie "Muslim Interaktiv" beworben wird, die allesamt dem salafistischen Milieu entstammen, und dass deshalb zu erwarten stünde, dass das Versammlungsthema nur vorgeschoben sei und auf der Versammlung u.a. die Errichtung eines Kalifats auf deutschem Boden propagiert und für einen Umsturz der verfassungsmäßigen Ordnung geworben würde, führt dies auf kein anderes Ergebnis. Die diesbezügliche Gefahrenprognose trägt nicht.

Die Antragsgegnerin hat insoweit auf die Teilnahme von D. und auf vergangene Versammlungen der vorgenannten Gruppierungen in Essen und Hamburg verwiesen. Hinsichtlich der letztgenannten Versammlungen ist zu sagen, dass diese offenkundig ohne eine unmittelbare Gefährdung oder Störung der öffentlichen Sicherheit abgehalten wurden. Die Antragsgegnerin führt selbst aus, dass die dort gezeigten Symbole und die getätigten Parolen nicht verboten waren und sind. Die Versammlungen liefen emotional, aber friedlich ab. Soweit die Antragsgegnerin noch darauf verweist, dass 95 Prozent der Teilnehmenden männlich waren und Frauen und Kinder am Ende des Demonstrationszuges laufen mussten, könnte ein entsprechendes Vorgehen erforderlichenfalls durch Auflagen untersagt werden. Soweit die Antragsgegnerin konkrete Äußerungen von strafrechtlicher Relevanz, etwa im Rahmen des Auftritts von D. erwarten sollte - wie etwa die Forderung des Sturzes der deutschen Regierung oder einer Änderung der deutschen Gesellschaftsordnung und Einführung eines Kalifats - hätten diese im Wege der Auflage untersagt werden können. Insoweit ist die Beschränkung der durch Art. 5 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleisteten Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 2 GG gerechtfertigt, nicht jedoch das Verbot der Versammlung insgesamt. Es ist auch nicht dargelegt worden, dass der Antragsteller nicht zur Kooperation bereit wäre. Aus dem Verwaltungsvorgang lässt sich vielmehr entnehmen, dass der Antragssteller mit der Antragsgegnerin kommuniziert hat und auf deren Forderungen auch eingegangen ist. Er ist zudem als Versammlungsleiter bisher nicht negativ in Erscheinung getreten.

c. Soweit die Antragsgegnerin Kapazitätsgrenzen bei der Polizei anführt, um ein Verbot der Versammlung zu rechtfertigen, trägt auch dieser Grund nicht.

Das Gericht erkennt an, dass die Polizei gegenwärtig äußerst belastet ist. In der Bundesrepublik Deutschland findet seit gestern die Fußballeuropameisterschaft statt. Hierneben werden aufgrund der vielen weltweiten Krisen täglich neue Versammlungen angemeldet und durchgeführt, die durch die Antragsgegnerin begleitet werden müssen. Allerdings kann dies nicht dazu führen, dass Versammlungen schlicht verboten werden. Sollte es der Antragsgegnerin tatsächlich nicht möglich sein, die Sicherheit der wie hier angemeldeten Versammlung auf dem Steintor in A-Stadt zu gewähren, dann ist sie gehalten, durch Auflagen hinsichtlich der Versammlungsgröße oder des Standorts dafür Sorge zu tragen, dass sie durchführbar wird. Die Antragsgegnerin hat nicht ausreichend dargelegt, dass sie dies getan oder sich hierum bemüht hätte. Solange sie dies nicht getan hat, kann sie die von dem Antragsteller angezeigte Versammlung nicht verbieten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG und trägt dem Umstand Rechnung, dass die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen wird.