Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 30.11.2018, Az.: 2 Ws 422/18
Prüfung einer Legalprognose durch Anhörung und persönlichen Eindruck
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 30.11.2018
- Aktenzeichen
- 2 Ws 422/18
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2018, 66540
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Hannover - 02.07.2018 - AZ: 71/79 BRs 17/14
Rechtsgrundlage
- § 240 StPO
Amtlicher Leitsatz
Die Voraussetzungen für die Beendigung einer wegen Nichtbefolgung einer Behandlungsweisung nach § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB angeordneten unbefristeten Führungsaufsicht bestimmen sich gemäß der Verweisung in § 68c Abs. 2 Satz 3 StGB nach § 68e Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 68e Abs. 2 Satz 1 StGB.
Tenor:
Auf die sofortige Beschwerde der Staatsanwaltschaft Hannover wird der Beschluss der 1. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 02.07.2018 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Landgericht Hannover zurückverwiesen.
Gründe
I.
Durch das im Sicherungsverfahren ergangene Urteil des Landgerichts Hannover vom 16.02.2009 (34a KLs 3023 Js 6802/08 - 39/08) ist die Unterbringung des Verurteilten in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB angeordnet und zugleich deren Vollstreckung nach § 67b StGB zur Bewährung ausgesetzt worden.
Dem Urteil liegen zwei vom Verurteilten am 25. und 26.06.2008 im krankheitsbedingt schuldunfähigen Zustand begangene Körperverletzungstaten zu Grunde. Bei der ersten Tat versperrte der Verurteilte, als er in der Mittagszeit fußläufig und sein Fahrrad schiebend in B. unterwegs war, einem ihm auf einem Fahrrad entgegenkommenden seinerzeit 15-jährigen Mädchen den Weg, brüllte sie mit unverständlichen Worten an und schlug ihr, als sie um ihn herumfuhr, unvermittelt mit einem 60 cm langen Holzstock heftig auf den Rücken, wodurch die Geschädigte deutliche Schmerzen erlitt. Bei der am Folgetag verübten Tat traf der Verurteilte ebenfalls in der Mittagszeit und wiederum fußläufig in K. vor einem Altenheim auf ein dort wohnendes Ehepaar. Er fragte zunächst nach dem Weg und bat sodann um etwas Geld. Als das Ehepaar letzteres ablehnte, schlug der Verurteilte wiederum mit einem ca. 60 cm langen Holzstock der damals 79-jährigen Geschädigten unvermittelt auf die Stirn. Die Geschädigte verspürte einen kurzfristigen Schmerz und musste sich übergeben.
Der Verlauf der zunächst auf 5 Jahre befristeten Führungsaufsicht gestaltete sich wechselhaft. Nach einer Verschlechterung des Zustands des Verurteilten hat das Landgericht Hannover mit Beschluss vom 03.02.2014 eine Krisenintervention nach § 67h StGB sowie die unbefristete Führungsaufsicht gemäß § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB angeordnet. Durch Beschlüsse vom 12.08.2014 und 23.08.2016 hat das Landgericht jeweils die Fortdauer der Führungsaufsicht bestimmt.
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Landgericht nunmehr die Führungsaufsicht beendet und die Unterbringung des Verurteilten für erledigt erklärt.
Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft Hannover mit der sofortigen Beschwerde, der die Generalstaatsanwaltschaft beigetreten ist.
II.
Die zulässige sofortige Beschwerde führt in der Sache - zumindest vorläufig - zum Erfolg.
1.
Das Landgericht ist bei seiner angefochtenen Entscheidung über die Beendigung der gegen den Verurteilten angeordneten unbefristeten Führungsaufsicht von einem unzutreffenden rechtlichen Maßstab ausgegangen.
Die Voraussetzungen für die Beendigung einer wegen Nichtbefolgung einer Behandlungsweisung nach § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB angeordneten unbefristeten Führungsaufsicht bestimmen sich gemäß der Verweisung in § 68c Abs. 2 Satz 3 StGB nach § 68e Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 68e Abs. 2 Satz 1 StGB.
Für die stattdessen vom Landgericht in Anlehnung an Teile der Kommentarliteratur (vgl. Fischer, StGB, 65. Auflage, § 68c Rd. 10; Stree/Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 29. Auflage, § 68c Rd. 3a; Sinn in Systematischer Kommentar StGB, § 68c, Rd. 6) vorgenommene analoge Anwendung der Vorschrift in § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB, nach der bei einer nachträglichen Einwilligung in eine einwilligungsbedürftige Behandlungs- und Therapieweisung i.S. von § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB die fehlende Befristung aufzuheben und eine neue Frist für die Dauer der Führungsaufsicht festzusetzen ist, ist kein Raum. Insoweit fehlt es bereits an einer ausfüllungsbedürftigen Regelungslücke. Die Auslegung der Bestimmungen in § 68c Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB ergibt vielmehr, dass die Regelung zur Festsetzung einer neuen Frist für die Dauer der Führungsaufsicht in § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB nur für den Fall der nachträglichen Einwilligung in eine Behandlungs- oder Therapieweisung i.S. von § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB gilt und auf den Fall der nachträglichen Befolgung einer Behandlungs- oder Therapieweisung i.S. von § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB nicht anwendbar ist.
a)
Dies folgt bereits aus dem eindeutigen Wortlaut in § 68c Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB. So bezieht sich Satz 2 der Bestimmung mit der dort enthaltenen Regelung zur Bestimmung einer neuen Frist für die weitere Dauer der Führungsaufsicht ausdrücklich nur auf den Fall der nachträglichen Einwilligung in eine Weisung nach § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB. Der vorliegende Fall der nachträglichen Befolgung einer Behandlungs- oder Therapieweisung nach § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB wird vom Wortlaut des § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB hingegen nicht erfasst. Hieran anknüpfend verweist § 68c Abs. 2 Satz 3 StGB mit der Formulierung "Im Übrigen gilt § 68e Abs. 3" ausdrücklich auf die letztgenannte Vorschrift, die in Satz 1 auf § 68e Abs. 2 Satz 1 StGB mit dort geforderten günstigen Legalprognose Bezug nimmt.
b)
Die systematische Auslegung der Bestimmungen in § 68c Abs. 2 Satz 2 und 3 StGB führt zu keinem anderen Ergebnis. Der Gesetzgeber hat innerhalb der Vorschrift des § 68c Abs. 2 StGB bei erteilten Behandlungs- und Therapieweisungen erkennbar zwischen der nachträglichen Einwilligung in eine Weisung einerseits und der nachträglichen Befolgung einer Weisung andererseits unterschieden und beide Alternativen in § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bzw. Nr. 2 StGB getrennt geregelt. Hieran anknüpfend hat er die Festsetzung einer neuen Frist für die weitere Dauer der Führungsaufsicht in § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB lediglich für den Fall der nachträglichen Einwilligung in eine Weisung nach § 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 StGB vorgesehen. Hätte er die Regelung auch für den Fall der nachträglichen Befolgung einer Weisung nach § 68 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB gewollt, so hätte er die in § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB enthaltene Beschränkung auf die Erteilung einer nachträglichen Einwilligung nicht vorgenommen.
c)
Auch die historische und teleologische Auslegung bieten keinen Anlass für die vom Landgericht vorgenommene Analogie.
Den Materialien zum "Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten" vom 26.01.1998, mit dem u.a. auch die Bestimmung in § 68c StGB in ihrer derzeit geltenden Fassung neugeregelt worden ist, lässt sich nichts Gegenteiliges entnehmen. Vielmehr ergibt sich aus ihnen, dass der Gesetzgeber ausdrücklich nur bei nachtäglicher Einwilligung eine neue Festsetzung der Dauer der Führungsaufsicht vorgesehen hat. In den Materialien heißt es hierzu: "Erklärt der Verurteilte seine Einwilligung noch nachträglich, so hat das Gericht unter Berücksichtigung des § 68c Abs. 1 Satz 1 StGB die weitere Dauer der Führungsaufsicht festzusetzen, wobei die dort festgelegte Höchstfrist ab dem Zeitpunkt der Entscheidung neu zu laufen beginnt. Der Verurteilte soll hierdurch motiviert werden, die Versagung seiner Einwilligung nochmals zu überdenken" (vgl. BT-Drs. 13/9062, S. 11). Der Gesetzgeber hat die in § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB enthaltene Fristbestimmung bewusst nur für den Fall der nachträglichen Einwilligung vorgesehen und nicht auf das nachträgliche Befolgen einer Weisung nach § 68c Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StGB erstreckt.
Dies ist auch sinnvoll: In dem anderen Fall des nachträglichen Befolgens einer Therapieanweisung wird in der Regel zunächst eine befristete Führungsaufsicht angeordnet worden sein, die dann wegen des Nichtbefolgens nach § 68c Abs. 2 StGB in eine unbefristete umgewandelt worden ist. Es ist also bereits einmal eine Abänderung der Dauer erfolgt. Wird die Weisung jetzt doch nachträglich befolgt, hätte eine analoge Anwendung von § 68c Abs. 2 Satz 2 StGB zur Folge, dass erneut eine Entscheidung über die Dauer erforderlich ist. Demgegenüber erscheint es zweckmäßiger, in einem solchen Fall über die Beendigung der Führungsaufsicht nach § 68e Abs. 2 StBG zu entscheiden, statt den Verurteilten durch eine erneute Befristung für sein wechselhaftes Verhalten zu belohnen.
2.
Unter Zugrundelegung des sich aus § 68e Abs. 3 Satz 1 StGB i.V.m. § 68e Abs. 2 Satz 1 StGB ergebenden Prognosemaßstabs kann vorliegend bei dem Verurteilten die für die Beendigung der unbefristeten Führungsaufsicht erforderliche günstige Legalprognose nach Aktenlage derzeit nicht angenommen werden.
Dies ergibt sich aus dem Inhalt der fachpsychiatrischen Stellungnahme der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie W. vom 23.04.2018 sowie der Einschätzung des Bewährungshelfers in seinem Bericht vom 10.04.2018, auf die zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird.
Angesichts der von dem Verurteilten bei einem Behandlungsabbruch ausgehenden Gefahren erscheint eine Fortdauer der Führungsaufsicht auch unter Berücksichtigung des Gegenstands der Anlasstaten sowie der bisherigen Dauer der Führungsaufsicht nicht von vornherein unverhältnismäßig.
3.
Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann der angefochtene Beschluss des Landgerichts keinen Bestand haben.
Der Senat ist indes an einer abschließenden Entscheidung in der Sache gehindert. Denn das Landgericht hat bei seiner angefochtenen Entscheidung über die Beendigung der Führungsaufsicht wesentliche Förmlichkeiten des Verfahrens nicht eingehalten.
a)
Das Landgericht hat es - von seinem eigenen Rechtsstandpunkt aus, wonach die Führungsaufsicht zu beenden und die Unterbringung des Verurteilten für erledigt zu erklären waren, durchaus nachvollziehbar - unterlassen, dem Verurteilten für das Verfahren einen Pflichtverteidiger beizuordnen.
Da die Voraussetzungen für die Beendigung der Führungsaufsicht unter Anwendung des vom Senat aufgezeigten rechtlichen Maßstabs auf der Grundlage des bisherigen Akteninhalts zweifelhaft sind und die Anordnung der Fortdauer der Führungsaufsicht in Betracht kommt, hätte dem Verurteilten schon im Verfahren vor dem Landgericht ein Pflichtverteidiger beigeordnet werden müssen. Zwar enthält das Gesetz keine ausdrückliche Regelung für eine obligatorische Beiordnung bei Entscheidungen über die Verlängerung einer unbefristeten Führungsaufsicht. Insoweit gelten die allgemeinen Grundsätze. Danach ist (auch) in Vollstreckungssachen in entsprechender Anwendung von § 140 Abs. 2 StPO über eine Beiordnung zu entscheiden. Sie ist angezeigt, wenn die vollstreckungsrechtliche Sach- oder Rechtslage schwierig ist oder wenn sich der Verurteilte nicht selbst verteidigen kann (vgl. KK-StPO/Laufhütte/Willnow, § 140 Rd. 11). Der Senat hat bereits entschieden, dass in Fällen der vorliegenden Art, in denen die unbefristete Führungsaufsicht auf der Aussetzung der Vollstreckung einer Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus (§§ 63, 67b, 67d Abs. 2 StGB) beruht, dem Verurteilten bei der Entscheidung über die Fortdauer der unbefristeten Führungsaufsicht regelmäßig ein Pflichtverteidiger beizuordnen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 15.06.2018, Az. 2 Ws 231/18).
b)
Zudem hätte der Verurteilte wegen der in Betracht kommenden Anordnung der Fortdauer der Führungsaufsicht bereits im Verfahren vor dem Landgericht mündlich angehört werden müssen. Für die Entscheidung, ob bei dem Verurteilten eine günstige Legalprognose anzunehmen ist, kommt es aufgrund der Besonderheiten seiner persönlichen Situation und seiner bisherigen Entwicklung sowie der Dauer der bisherigen Führungsaufsicht auf den persönlichen Eindruck von dem Verurteilten an.
c)
Angesichts des Umstands, dass dem Verurteilten bereits im Verfahren vor dem Landgericht ein Pflichtverteidiger beizuordnen und der Verurteilte mündlich anzuhören gewesen wäre, hält es der Senat für geboten, die Sache zur erneuten Entscheidung über die Fortdauer der Führungsaufsicht nach § 68e Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StGB an das Landgericht zurückzuverweisen.
4.
Bei der neu zu treffenden Entscheidung wird das Landgericht im Hinblick auf den vom Verteidiger in seiner Stellungnahme zu der sofortigen Beschwerde erhobenen Einwand auch zu prüfen haben, ob die dem Verurteilten in dem Beschluss vom 16.02.2009 über die Anordnung der Führungsaufsicht unter Ziff. 4 erteilte Weisung zur Einnahme antipsychiatrischer Medikamente nach ärztlicher Verordnung rechtmäßig war. Voraussetzung hierfür wäre, dass der Verurteilte zu der medikamentösen Behandlung seine Einwilligung erteilt hat (vgl. hierzu MK-Groß, 3. Auflage, § 56c, Rd. 30, mwN). Dies wird anhand der Verfahrensakten des zugrundeliegenden Hauptverfahrens zu überprüfen sein. Sofern der Verurteilte eine erteilte Einwilligung später ausdrücklich oder stillschweigend durch die Weigerung der weiteren Einnahme der ärztlich verordneten Medikamente widerrufen hat, hätte dies auf die Wirksamkeit der Weisung keinen Einfluss (vgl. Fischer, StGB, 65 Auflage, § 56c, Rd. 11f.; Hubrach in Leipziger Kommentar, 12. Auflage, § 56c, Rd. 58). Über eine Fortdauer oder Beendigung der unbefristeten Führungsaufsicht wäre daher auf der Grundlage der Bestimmungen in §§ 68c Abs. 2 Satz 3, 68e Abs. 3 StGB zu entscheiden.