Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 15.07.2015, Az.: L 10 VE 49/14

Anspruch nach dem Opferentschädigungsgesetz; Tätlicher Angriff; Intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
15.07.2015
Aktenzeichen
L 10 VE 49/14
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2015, 37767
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2015:0715.L10VE49.14.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Braunschweig - 13.08.2014 - AZ: S 12 VE 29/12 WA

Redaktioneller Leitsatz

1. Das BSG hat bereits darauf hingewiesen, es liege eine grundlegende gesetzgeberische Entscheidung des Inhalts vor, dass durch die Verwendung des Begriffs des "tätlichen Angriffs" der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein solle.

2. Die Grenze der Wortlautinterpretation ist daher jedenfalls erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt.

Tenor:

Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 13. August 2014 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten im Berufungsverfahren darum, ob die Klägerin Opfer von tätlichen Angriffen im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden ist.

Die Klägerin, die im April 1989 geboren worden ist, ist schwerbehindert. Dieser Feststellung liegt die Funktionsbeeinträchtigung "Minderbegabung" zugrunde. Im Jahr 2007 lebte die Klägerin in einer betreuten Wohngruppe und arbeitete in einer Werkstatt für behinderte Menschen.

Im September 2008 stellte die Klägerin eine Strafanzeige gegen ihre Bekannte E. (nachstehend F.). Diese schuldigte sie an, sie vom 28. Juli 2007 bis zum 3. August 2007 auf eine Reise nach F. mitgenommen zu haben. Dort habe F. sie dazu gebracht, mit mehreren ihr fremden Männern sexuelle Kontakte aufzunehmen. Nach Durchführung eines umfangreichen Ermittlungsverfahrens hat das Amtsgericht (AG) Augsburg die F. wegen Menschenhandels in Tateinheit mit schwerem Menschenhandel in Tateinheit mit Zuhälterei zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt worden ist. Wegen des festgestellten Sachverhalts wird auf das Urteil des AG Augsburg vom 11. Oktober 2012 (03 Ls 201 Js 137671/08) Bezug genommen.

Bereits mit Schreiben vom 24. September 2008 hatte die Klägerin bei dem beklagten Land beantragt, ihr wegen dieser Vorfälle Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Das beklagte Land lehnte es mit hier angefochtenem Bescheid vom 28. Oktober 2009 in der Gestalt, die er durch die Berichtigungsverfügung vom 2. November 2009 und den Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2010 gefunden hat, ab, der Klägerin Leistungen nach dem OEG zu gewähren. Zur Begründung wies das beklagte Land im Wesentlichen darauf hin, es liege kein tätlicher Angriff i.S.d. OEG vor. Die Klägerin habe die ihr angesonnenen sexuellen Handlungen freiwillig vorgenommen. Körperliche Gewalt sei gegen sie nicht ausgeübt worden. Am 2. Februar 2010 ist Klage erhoben worden. Das sozialgerichtliche Verfahren ist bis zum Abschluss des Verfahrens vor dem AG Augsburg mit Beschluss vom 26. Mai 2010 ruhend gestellt worden. Am 19. Oktober 2012 ist das Verfahren wieder aufgenommen worden.

Das SG hat die Klage durch Urteil vom 13. August 2014 abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klägerin sei in der Zeit vom 28. Juli 2007 bis zum 3. August 2007 nicht Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs oder mehrerer tätlicher Angriffe i.S.d. OEG geworden. Es bestehe kein Anlass, von den tatsächlichen Feststellungen des AG in seinem zitierten Urteil abzuweichen, da auch die Klägerin im sozialgerichtlichen Verfahren nicht geltend gemacht habe, dass es über die festgestellten Tatsachen hinaus zu weiteren Handlungen gegen sie gekommen sei. Zunächst habe die F. keinen tätlichen Angriff gegenüber der Klägerin verübt, denn diese habe allenfalls Drohungen gegenüber der Klägerin ausgesprochen. Die Drohung der F., die Klägerin alleine in F. zurückzulassen, könne aber nicht einem tätlichen Angriff gleichgeachtet werden, da aus den bekannt gewordenen Umständen über die Fähigkeiten der Klägerin zu entnehmen sei, dass ein derartiges Vorgehen für diese nicht akut bedrohlich gewesen wäre.

Ein tätlicher Angriff sei auf die Klägerin aber auch von den Männern, an denen oder mit denen sie sexuelle Handlungen vorgenommen habe, nicht ausgeübt worden. Sie hätten nämlich nicht in feindseliger Willensrichtung gewaltsam auf den Körper der Klägerin eingewirkt. Die Klägerin habe vielmehr "freiwillig" in die Ausführung dieser Handlungen eingewilligt.

Gegen das am 16. September 2014 zugestellte Urteil ist am 29. September 2014 Berufung eingelegt worden. Die Klägerin ist nach wie vor der Auffassung, die zu Ihrem Nachteil begangenen und angeschuldigten Straftaten seien als tätlicher Angriff i.S.d. OEG zu werten. Die F. habe hier als mittelbare Täterin gehandelt und dadurch einen tätlichen Angriff im Sinne des Opferentschädigungsrechts gegen die Klägerin geführt.

Die Klägerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

1. Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 13. August 2014 sowie den Bescheid des beklagten Landes vom 28. Oktober 2009 in der Gestalt, die er durch die Berichtigungsverfügung vom 2. November 2009 und den Widerspruchsbescheid vom 12. Januar 2010 gefunden hat, aufzuheben,

2. das beklagte Land zu verurteilen, bei der Klägerin Schädigungsfolgen festzustellen sowie ihr Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz zu gewähren.

Das beklagte Land beantragt schriftsätzlich,

die Berufung zurückzuweisen.

Zur Begründung bezieht es sich auf seine angefochtenen Bescheide und das erstinstanzliche Urteil und tritt insbesondere der Auffassung entgegen, die F. habe hier wie ein mittelbarer Täter im strafrechtlichen Sinne gehandelt.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze, den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte, auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang sowie auf die ebenfalls beigezogene Akte der Staatsanwaltschaft Augsburg Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Vorsitzenden als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von §§ 155 Abs. 3, 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch den Vorsitzenden als Berichterstatter ohne mündliche Verhandlung.

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Dabei geht das erkennende Gericht zu Gunsten der Klägerin davon aus, dass sie bei Durchführung einer mündlichen Verhandlung den oben formulierten Antrag gestellt hätte. Das erstinstanzliche Gericht hatte insoweit noch den von der Klägerin formulierten Feststellungsantrag im Anschluss an die Rechtsprechung des 5. Senats des erkennenden Gerichts für zulässig gehalten. Nach Ergehen der erstinstanzlichen Entscheidung hat das Bundessozialgericht (BSG) indessen entschieden, eine derartige isolierte Feststellungsklage sei nicht zulässig (Urteil vom 16. Dezember 2014, B 9 V 1/13 R). Daher geht das erkennende Gericht unter Heranziehung des Grundsatzes der Meistbegünstigung (vgl. dazu Leitherer in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 11. Aufl., § 92 Rn 12) davon aus, dass die rechtlich vertretene Klägerin den oben formulierten Antrag gestellt hätte. Dies wäre auch in Anwendung von § 99 Abs. 3 Nr. 2 SGG zulässig gewesen.

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die so verstandene Klage indessen zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des beklagten Freistaats Bayern vom 28. Oktober 2009 in der Gestalt der Berichtigungsverfügung vom 2. November 2009 und des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2010 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat aus dem OEG keinen Anspruch gegen das beklagte Land auf die Feststellung, dass sie wegen dem angeschuldigten Geschehen Opfer eines tätlichen Angriffs war und wegen festzustellender Schädigungsfolgen Anspruch auf Leistungen nach dem OEG hat.

Zur Begründung nimmt das erkennende Gericht zur Vermeidung von Wiederholungen in Anwendung von § 153 Abs. 4 SGG zunächst Bezug auf die zutreffenden und erschöpfenden Ausführungen des SG in seinem angefochtenen Urteil vom 13. August 2014.

Das SG hat sich zunächst zu Recht auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zum Opferentschädigungsrecht bezogen und ist in Anwendung der dort formulierten Rechtssätze zutreffend zu dem Ergebnis gelangt, die Klägerin sei nicht Opfer eines "tätlichen Angriffs" i. S. von § 1 OEG geworden, als sie von E. in der Zeit vom 28. Juli bis 3. August 2007 veranlasst worden ist, sexuelle Handlungen an verschiedenen Männern vorzunehmen bzw. diese an sich vornehmen zu lassen.

Das SG hat zutreffend ausgeführt, ein derartiger tätlicher Angriff liege bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper des anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor. Das könne zwar auch der Fall sein, wenn eine Drohung mit Gewalt vorliege. Dies hänge indessen von den konkreten Umständen des Falles ab. Dann hat das SG den vorliegenden Sachverhalt ausführlich gewürdigt und ist zu dem Ergebnis gelangt, selbst wenn der Vortrag der Klägerin als wahr unterstellt werde, Frau G. habe der Klägerin gedroht, sie in der für sie fremden Stadt sich selbst zu überlassen, könne dies nicht als tätlicher Angriff gewertet werden, weil hierin - unter Berücksichtigung der über die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin bekannten Umstände - keine Drohung mit Gewalt liege. Auch das erkennende Gericht hat aus den Vorgängen, insbesondere etwa aus den von der Klägerin zur Begründung ihrer Klage vorgelegten Arztbriefen (vgl. etwa H. Klinik in I. unter dem 18. September 2009 = Bl 33 ff der Gerichtsakte und Nervenklinik Dr. J. unter dem 17. März 2010 = 38 ff der Gerichtsakte) - nicht den Eindruck gewinnen können, es habe eine derartige Bedrohung vorgelegen, dass dies einem tätlichen Angriff gleich zu achten ist.

Weiter hat das SG zutreffend ausgeführt, auch die Männer, an denen die Klägerin sexuelle Handlungen vorgenommen habe bzw. die derartige sexuelle Handlungen durch die Klägerin an sich hätten vornehmen lassen, hätten keine tätlichen Angriffe i.S. des § 1 OEG gegen die Klägerin unternommen. Dies wird auch von der Klägerin selbst in dem Text ihrer Strafanzeige vom 11. September 2008 (Bl. 5 und 6 des Verwaltungsvorgangs) nicht anders geschildert.

Auch soweit die Klägerin geltend macht, Frau G. habe die Männer als Werkzeug eingesetzt und sei damit als mittelbare Täterin tätig geworden, hat das SG zutreffend unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 7. April 2011 - B 9 VG 2/10 R) ausgeführt, hierin liege kein "tätlicher Angriff" i.S.d. OEG. Das BSG hat in dieser Entscheidung (vgl. dort Rndnr. 44) darauf hingewiesen, es liege eine grundlegende gesetzgeberische Entscheidung des Inhalts vor, dass durch die Verwendung des Begriffs des "tätlichen Angriffs" der allgemeine Gewaltbegriff im strafrechtlichen Sinn begrenzt und grundsätzlich eine Kraftentfaltung gegen eine Person erforderlich sein solle. Die Grenze der Wortlautinterpretation sei daher jedenfalls erreicht, wenn sich die auf das Opfer gerichtete Einwirkung - ohne Einsatz körperlicher Mittel - allein als intellektuell oder psychisch vermittelte Beeinträchtigung darstellt und nicht unmittelbar auf die körperliche Integrität abzielt. So liegen die Dinge aber auch im Fall der Klägerin, die sich ausweislich des Urteils des Amtsgerichts Augsburg vom 11. Oktober 2012 und der darin getroffenen Feststellungen (deren Richtigkeit von der Klägerin nicht angezweifelt wird) jeweils ohne Gewaltanwendung - auch der beteiligten Männer - in das Geschehen gefügt hat. Es ist daher auch nicht zu Gewaltanwendungen dieser Männer gekommen, die über die Rechtsfigur der mittelbaren Täterschaft der F. zugerechnet werden könnten. Das Gericht verkennt dabei nicht, dass sich die Täterin möglicherweise durchaus die behinderungsbedingte Funktionsbeeinträchtigung der Klägerin zu Nutze gemacht hat. Dies führt aber angesichts der höchstrichterlichen Rechtsprechung, der der erkennende Senat in ständiger Spruchpraxis folgt, nicht dazu, dass hier von einem tätlichen Angriff im Sinne von § 1 OEG ausgegangen werden kann.

Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung von § 193 SGG.

Anlass die Revision in Anwendung von § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen besteht nicht.