Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 22.02.1995, Az.: 2 U 235/94

Darlegungslast des Versicherers in der Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung; Maßstäbe für eine verfahrensfehlerfreie Beweiserhebung; Verweisung eines Versicherungsnehmers auf einen Vergleichsberuf

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
22.02.1995
Aktenzeichen
2 U 235/94
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 29101
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1995:0222.2U235.94.0A

Amtlicher Leitsatz

Darlegungslast des Versicherers und Maßstäbe für eine verfahrensfehlerfreie Beweiserhebung bei der Verweisung des VN auf einen "Vergleichsberuf" in der Berufungsunfähigkeits-Zusatzversicherung

Gründe

1

Zutreffend hat das - sachverständig beratene - Landgericht festgestellt, dass der Kläger auf Grund seiner Allergien nicht mehr in der Lage ist, seinen bisherigen Beruf als Bauhilfsarbeiter auszuüben, sodass es nur noch auf den so genannten Vergleichsberuf (§ 2 BUZ) ankommt. Insofern hat das Landgericht aber die Darlegungslast verkannt. Es hat sich mit dem schlichten Hinweis der Beklagten begnügt, der Kläger könne "als Bote" tätig sein. Damit ist noch kein Vergleichsberuf aufgezeigt (BGH VersR 1992, 1386 = NJW 1993, 202). Es ist Sache des Versicherers, den von ihm beanspruchten Vergleichs-/Verweisungsberuf bzgl. der ihn jeweils prägenden Merkmale (insbesondere erforderliche Vorbildung, übliche Arbeitsbedingungen, z.B. Arbeitsplatzverhältnisse, Arbeitszeiten, ferner übliche Entlohnung, etwa erforderliche Fähigkeiten oder körperliche Kräfte, Einsatz technischer Hilfsmittel) näher zu konkretisieren. Nur dann kann der Versicherungsnehmer insoweit das Bestreiten von Berufsunfähigkeit mit substantiierten Beweisangeboten bekämpfen, die nicht als Ausforschungsversuch zu werten sind, sondern denen nachgegangen werden muss (BGH VersR 1994, 1095, 1096) [BGH 29.06.1994 - IV ZR 120/93].

2

Das Verkennen der Darlegungslast stellt zwar in erster Linie einen materiell rechtlichen Fehler dar; es kann jedoch auch zu einem Verfahrensfehler führen, wenn infolgedessen z.B. Beweisangebote übergangen werden, gebotene beweisrechtliche Hinweise nach § 139, 278 ZPO unterbleiben oder die unterlegene Partei einer Überraschungsentscheidung ausgesetzt wird (Zöller-Gummer, ZPO, 19. Aufl., § 539 Rdn. 3). Ähnlich ist es hier.

3

Die Beurteilung, ob der Versicherte berufsunfähig im Sinn der Musterbedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung (BUZ) geworden ist, erfordert es, dass die konkrete Ausgestaltung des Berufs und die sich aus dieser Berufsausübung ergebenden Anforderungen festgestellt werden. Diese Feststellungen sind einem medizinischen Sachverständigen als Grundlage seiner Gutachtenermittlungen vorzugeben. Denn Berufsunfähigkeit im Sinn von § 2 BUZ ist ein eigenständiger juristischer Begriff und darf nicht mit Berufsunfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit im Sinn des gesetzlichen Rentenversicherungsrechts gleichgesetzt werden. Dies muss medizinischen Sachverständigen stets unmissverständlich vor Augen geführt werden. Es geht nicht an, es einem Sachverständigen, der juristischer Laie ist, zu überlassen, ob es ihm gelingt, sich im Zuge seiner Gutachtenerstattung zu juristisch bedeutsamen Begriffen hinreichend sachkundig zu machen. Soweit es für eine sachgerechte Gutachtenerstattung notwendig ist, ist er vielmehr mit juristischen Begriffen und einschlägigen Tatbeständen ebenso vertraut zu machen wie mit allen sonstigen Umständen, von denen er bei seiner Begutachtung auszugehen hat, vgl. § 404 a ZPO (BGHZ 119, 263[BGH 30.09.1992 - IV ZR 227/91] = Vers.R 1992, 1386 = NJW 1993, 202).

4

Ein solcher Hinweis ist vorliegend seitens des Landgerichts infolge der Verkennung der Darlegungslast einschließlich ihres Umfangs unterblieben. Darauf beruht das angefochtene Urteil; denn auch der arbeitsmedizinische Sachverständige ist schlicht von dem Begriff des "Boten" ausgegangen, ohne diesen zu konkretisieren, und darauf fußt wiederum das angefochtene Urteil.

5

Ein weiterer Verfahrensfehler des Landgerichts liegt darin, dass es das Gehalt eines Boten gemäß § 287 ZPO auf "bis zu 2.000 DM" geschätzt hat. Damit hat es sich eigene Sachkunde angemaßt, ohne den Parteien zuvor mitgeteilt zu haben, woher es solche haben sollte, und ihnen Gelegenheit gegeben zu haben, dazu Stellung zu nehmen. Zudem ist eine Schätzung auch verfahrensrechtlich unzulässig, wenn sie mangels greifbarer, hier von der Beklagten vorzutragender Anhaltspunkte, "völlig in der Luft" hängt (OLG Köln MDR 1980, 674 [OLG Köln 16.04.1980 - 2 U 107/79]). So ist es hier. Denn Anhaltspunkte für die vom Landgericht vorgenommene Schätzung sind nicht vorgetragen und das Landgericht hat solche auch nicht aufgezeigt.

6

Eine eigene Sachentscheidung des Senats gem. § 540 ZPO kommt nicht in Betracht. Der Rechtsstreit ist nicht entscheidungsreif, sondern bedarf umfangreicher Aufklärung.

7

Die Beklagte hat nunmehr - erstmals - zu den prägenden Merkmalen des Verweisungsberufs des "Boten" substantiiert vorgetragen; wegen der Einzelheiten kann insoweit auf die Berufungserwiderung verwiesen werden. Da der Kläger diese Angaben bestreitet, ist darüber Beweis zu erheben, ob er körperlich und intellektuell in der Lage ist, die dort beschriebenen Tätigkeiten während der Dauer der üblichen Arbeitszeit auszuüben. Ferner ist gegebenenfalls die Höhe des in diesem Beruf erzielbaren Lohns sorgfältig zu klären. - In einem solchen Fall ist es nicht Aufgabe des Berufungsgerichts, die erstinstanzlich nicht geschaffenen Entscheidungsgrundlagen im zweiten Rechtszug zu erarbeiten.