Sozialgericht Braunschweig
Urt. v. 27.08.2013, Az.: S 9 AL 155/11

Verjährung von Ansprüchen im Zusammenhang mit der Zahlung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen bei einem Insolvenzereignis

Bibliographie

Gericht
SG Braunschweig
Datum
27.08.2013
Aktenzeichen
S 9 AL 155/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 52611
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGBRAUN:2013:0827.S9AL155.11.0A

Fundstelle

  • NZI 2014, 41-42

Tenor:

Der Bescheid vom 07.06.2011 wird aufgehoben und die Beklagte verurteilt, erneut über den Antrag der Klägerin vom 10.05.2011 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. Die Kosten werden gegeneinander aufgehoben. Der Streitwert wird auf 1.062,06 EUR festgesetzt.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages bei einem Insolvenzereignis nach dem Sozialgesetzbuch - Drittes Buch (SGB III).

Am 09.04.2005 wurde über das Vermögen der N. GmbH, Wittlich das Insolvenzverfahren eröffnet. Am 17.05.2005 (Schreiben vom 13.05.2005) beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Erstattung von Sozialversicherungsbeiträgen in Höhe von insgesamt 1.400,00 EUR zunächst als Abschlag für den Arbeitnehmer E. (für den Zeitraum vom 01.04.2003 bis 30.06.2003). Mit Bescheid vom 18.05.2005 gab die Beklagte dem Antrag statt und gewährte der Klägerin 1.400,00 EUR. Im Antrag zur endgültigen Bewilligung vom 06.06.2005 machte die Klägerin einen Zahlungsanspruch von insgesamt 1.183,28 EUR geltend. Die Beklagte entsprach diesem Antrag mit Bescheid vom 23.06.2005 und forderte die Klägerin auf, die Differenz von 216,72 EUR zu erstatten. Die Klägerin erstattete den Betrag.

Der Insolvenzverwalter im Insolvenzverfahren über das Vermögen der N. GmbH machte gegenüber der Klägerin Ansprüche aus Anfechtung in Höhe von insgesamt 2.719,43 EUR geltend und erhob am 16.12.2008 Klage vor dem Amtsgericht Wolfsburg. Grundlage waren die Zahlungen, die die Schuldnerin an die Klägerin vom 24.04.2003 bis 03.03.2005 bzgl. des Arbeitnehmers E. geleistet hatte. Im Rahmen des Klageverfahren vor dem Amtsgericht Wolfsburg wurde die Klägerin verpflichtet, 2.245,34 EUR an den Insolvenzverwalter zurückzuzahlen.

Am 15.03.2010 stellte die Klägerin bei der Beklagten einen Antrag auf Zahlung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen in Höhe von weiteren 1.062,06 EUR für den Arbeitnehmer E. (2.245,34 EUR abzgl. bereits gewährter 1.183,28 EUR, für den Zeitraum 01.04.2003 bis 30.06.2003).

Mit Bescheid vom 12.03.2010 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin ab, da die Forderung verjährt sei. Die Klägerin erhob gegen diese Entscheidung am 18.03.2011 Klage, nahm diese später wegen verfristeter Klageerhebung zurück.

Am 20.05.2011 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 12.03.2010. Die Beklagte lehnte diesen mit Bescheid vom 07.06.2011 ab, da die Forderung verjährt sei, verjährungshemmende Tatbestände oder Tatbestände, die zu einem Neubeginn der Verjährung führten, lägen nicht vor.

Am 21.06.2011 hat die Klägerin Klage erhoben.

Zur Begründung trägt sie vor, der Anspruch sei nicht verjährt. Ansprüche verjähren in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahres, in dem sie fällig werden. Die Beiträge seien zunächst entrichtet worden. Erst aufgrund der Anfechtung seien sie wieder fällig geworden. Die Verjährung sei gehemmt gewesen mit Beginn der zunächst erfolgten Zahlung.

Die Klägerin stellt keinen Antrag.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie führt aus, der Anspruch sei verjährt. Die Verjährung sei mit Ablauf des Jahres 2007 eingetreten. Hemmung oder Neubeginn der Verjährung seien nicht eingetreten. Bereits bei Anfechtung am 16.12.2008 sei die Forderung verjährt gewesen.

Wegen des übrigen Sachverhalts sowie des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen ergänzend Bezug genommen auf die Prozessakte des Klageverfahrens sowie auf die Verwaltungsakte der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, im tenorierten Umfang begründet, im Übrigen unbegründet.

Das Gericht konnte gemäß §§ 110 Absatz 1, 126 des Sozialgerichtsgesetztes (SGG) trotz Ausbleibens der Klägerin entscheiden, da diese ordnungsgemäß geladen und auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden war. Sie erklärte sich zum ausdrücklich mit einer Entscheidung ohne ihre Anwesenheit einverstanden.

Die Klägerin begehrt die Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages für den Arbeitnehmer E. in Höhe von 1.062 06 EUR.

Gegenstand des Klageverfahrens ist der Bescheid vom 07.06.2011.

Der Bescheid vom 07.06.2011 ist rechtswidrig, die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt.

Die Klägerin hat zwar keinen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2010 und Zahlung des beantragten Gesamtsozialversicherungsbeitrages. Jedoch hat sie einen Anspruch auf ermessenfehlerfreie Entscheidung über ihren Überprüfungsantrag.

Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, gemäß § 44 Absatz 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es wurden weder Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht noch Beiträge zu Unrecht erhoben. Die Klägerin fordert vielmehr die Entrichtung von Beiträgen durch die Beklagte.

Im Übrigen ist gemäß § 44 Absatz 2 Satz 1 SGB X ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Hier geht es nicht um eine Aufhebung für die Zukunft, sondern für die Vergangenheit.

Gemäß § 44 Absatz 2 Satz 2 kann ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Demnach hat die Klägerin, sofern der zu überprüfende Verwaltungsakt rechtswidrig ist, keinen Anspruch auf Aufhebung, sondern nur einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.

Der Bescheid vom 12.03.2010 ist rechtswidrig, da die Forderung der Klägerin nicht verjährt ist.

Gemäß § 208 Absatz 1 SGB III in der bis zum 31.03.2012 geltenden Fassung (ab dem 01.04.2012 § 175 Absatz 1 SGB III) zahlt die Agentur für Arbeit auf Antrag der zuständigen Einzugsstelle den Gesamtsozialversicherungsbeitrag nach § 28d des Vierten Buches, der auf Arbeitsentgelte für die letzten dem Insolvenzereignis vorausgegangenen drei Monate des Arbeitsverhältnisses entfällt und bei Eintritt des Insolvenzereignisses noch nicht gezahlt worden ist; davon ausgenommen sind Säumniszuschläge, die infolge von Pflichtverletzungen des Arbeitgebers zu zahlen sind, sowie die Zinsen für dem Arbeitgeber gestundete Beiträge.

Gemäß § 25 Absatz 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Viertes Buch (SGB IV) verjähren Ansprüche auf Beiträge in vier Jahren nach Ablauf des Kalenderjahrs, in dem sie fällig geworden sind. Für die Hemmung, die Ablaufhemmung, den Neubeginn und die Wirkung der Verjährung gelten die Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs sinngemäß (§ 25 Absatz 1 Satz 1 SGB IV).

Eine Rechtshandlung ist gemäß § 133 Absatz 1 der Insolvenzordnung (InsO) anfechtbar, die der Schuldner in den letzten zehn Jahren vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag mit dem Vorsatz, seine Gläubiger zu benachteiligen, vorgenommen hat, wenn der andere Teil zur Zeit der Handlung den Vorsatz des Schuldners kannte. Diese Kenntnis wird vermutet, wenn der andere Teil wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und dass die Handlung die Gläubiger benachteiligte. Gewährt der Empfänger einer anfechtbaren Leistung das Erlangte zurück, so lebt seine Forderung gemäß § 144 Absatz 1 InsO wieder auf.

Die Forderung der Klägerin war zunächst durch Zahlung des Insolvenzschuldners erfüllt worden. Durch Anfechtung des Insolvenzverwalters und Rückgewährung der Klägerin an den Insolvenzverwalter lebte die Forderung wieder auf. Daher kann sie nicht in der gleichen "logischen Sekunde" verjährt sein. Dieses würde die Rechte der Insolvenzgläubiger in einer Vielzahl der Fälle völlig ausschließen. Eine Anfechtung nach § 133 InsO ist möglich bei Forderungen, die bis zu zehn Jahre vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens erfüllt worden sind.

Die Verjährungsfrist im Falle einer Insolvenzanfechtung ist entweder für den Zeitraum der Vornahme der anfechtbaren Handlung bis zur Rückgewähr gehemmt (so Landgericht München I, Urteil vom 17.07.2008, 32 O 2205/08; Braun-Riggert, InsO § 144 Rn 4) oder beginnt mit der Rückzahlung neu (so Oberlandesgericht München, Urteil vom 17.03.2009, 5 U 4355/08, zit. nach [...]).

Die Frage, ob die Verjährungsfrist gehemmt ist oder sie neubeginnt, kann hier offenbleiben, da die Klägerin in jedem Fall rechtzeitig die Forderung gegenüber der Beklagten geltend gemacht hat.

Die Beklagte hat im Bescheid vom 07.06.2011 kein Ermessen bzgl. der Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2010 ausgeübt, es liegt ein Ermessensfehler vor, der Bescheid vom 07.06.2011 war daher aufzuheben und die Beklagte zur Neuentscheidung unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts zu verurteilen.

Ein Fall der Ermessensreduzierung auf "Null" mit der Folge, dass die Klägerin einen Anspruch auf Aufhebung des Bescheides vom 12.03.2010 und Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitrages hat, liegt nicht vor. Insoweit war die Klage abzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i. V. m. § 155 Absatz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Die Streitwertfestsetzung erfolgt gemäß § 63 Absatz 2 i. V. m. § 52 Absätze 1 und 3 Gerichtskostengesetz (GKG).

Die Berufung ist gemäß § 144 Absatz 1 Nr. 2 SGG bei Streitigkeiten über die Beitragsentrichtung zwischen Behörden nicht ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 14.08.1984, 10 RAr 18/83, zit. nach [...]).