Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.03.2001, Az.: L 9 U 237/00 3

Verkehrsunfall als der Unfallversicherung unterliegender Wegeunfall; Unfallversicherungsschutz im öffentlichen Straßenraum; Umweg als unangemessene Verlagerung des Versicherungsrisikos

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen
Datum
20.03.2001
Aktenzeichen
L 9 U 237/00 3
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2001, 15909
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0320.L9U237.00.3.0A

Verfahrensgang

vorgehend
SG Hildesheim - 18.04.2000 - S 11 U 37/00

Prozessführer

A.

Prozessgegner

Bau-Berufsgenossenschaft Hannover, Bezirksverwaltung Hannover, Hildesheimer Straße 309, 30519 Hannover,

Sonstige Beteiligte

Tenor:

Das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. April 2000 und der Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2000 werden aufgehoben.

Es wird festgestellt, daß die Gesundheitsstörung "Zustand nach offener Schädelbasisfraktur” Folge eines Arbeitsunfalls am 22. Januar 1999 ist.

Die Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Tatbestand:

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob ein Verkehrsunfall, in den der Kläger am 22. Januar 1999 verwickelt gewesen ist, einen der gesetzlichen Unfallversicherung unterliegenden Wegeunfall darstellt.

2

Der im April 1963 geborene, taubstumme Kläger war zum Zeitpunkt des Unfalls als Malergeselle bei der Fa H. in I. beschäftigt. Am Unfalltag begab er sich gegen 6 Uhr morgens mit dem eigenen PKW von seiner Wohnung in J. zu seiner Arbeitstätte in K.. Wie jeden Morgen verließ er dabei den direkten, etwa 4,5 km langen Weg über die Bundesstraße 1 (L.) bei der Einmündung der M., um über diese einige Hundert Meter nach Süden zu gelangen, rechts in den Straßenzug von N. einzubiegen und dort in Höhe der Bäckerei O. zu parken, um zu Fuß die Straße zu überqueren und dort Brötchen für die Frühstückspause einzukaufen. Auf dem Rückweg zu seinem Fahzeug wurde der Kläger etwa in Fahrbahnmitte von einem PKW erfaßt und weggeschleudert. Dabei zog er sich neben anderen Verletzungen insbesondere ein Schädelhirntrauma mit offener Schädelbasisfraktur zu (Durchgangsarztbericht vom 4. Februar und Zwischenbericht vom 16. Februar des P.). Nach der sofortigen stationären Aufnahme und Erstversorgung wurde beim Kläger am 24. Januar 1999 eine Kraniotomie und eine Hämatomausräumung durchgeführt. Der postoperative Verlauf gestaltete sich komplikationslos. Am 26. Februar 1999 wurde der Kläger mit noch leichten Kopfschmerzen bei unauffälligem neurologischen Befund in eine anschließende Rehabilitationsmaßnahme entlassen, die bis zum 1. März 1999 in dem Krankenhaus Q. durchgeführt wurde. Von dort wurde der Kläger auf eigenen Wunsch mit noch leichter Hirnleistungsschwäche entlassen.

3

Die Anerkennung eines Wegeunfalls lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 3. Juni 1999 unter Hinweis darauf ab, daß sich der Unfall auf einem zu eigenwirtschaftlichen Zwecken eingeschlagenen Umweg ereignet habe. Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung könnten nicht gewährt werden, weil der Umweg den Gesamtweg von 4 km auf 6 km verlängert habe und deshalb erheblich sei.

4

Mit seinem am 10. Juni 1999 erhobenen Widerspruch machte der Kläger hiergegen geltend, daß er als Taubstummer besondere Schwierigkeiten bei der Verständigung habe. Deshalb habe er in den letzten 3 Jahren sein Frühstückspausenbrötchen stets in der Bäckerei O. bei einer bestimmten Verkäuferin gekauft, die auf ihn habe eingehen können.

5

Mit Widerspruchsbescheid vom 28. Februar 2000 wies die Beklagte den Widerspruch unter Vertiefung der Gründe des Ausgangsbescheides zurück.

6

Am 15. März 2000 ist Klage erhoben worden, die das Sozialgericht (SG) I. mit Urteil vom 18. April 2000 abgewiesen hat. Zur Begründung hat es ausgeführt, der vom Kläger eingeschobene Weg zur Bäckerei habe innerhalb des Weges zur Arbeitsstätte eine deutliche Zäsur dargestellt, weil es sich von diesem sowohl nach Zielrichtung als auch nach seiner Zweckbestimmung unterschieden habe. Die Besorgung von Nahrungsmitteln sei dem unversicherten persönlichen Bereich zuzurechnen. Dies gelte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) auch dann, wenn Lebensmittel auf dem Weg zur Arbeit vorsorglich eingekauft würden, um sie bei einer späteren Arbeitspause zu verzehren.

7

Mit seiner am 5. Juni 2000 eingelegten Berufung verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Er vertieft sein bisheriges Vorbringen und macht geltend, zum Zeitpunkt des Unfalls habe er sich bereits wieder auf dem Weg zu seinem KFZ befunden, sei also wieder mit dem Weg zu Arbeit befaßt gewesen. Der geringfügige Umweg sei im übrigen durch seine Behinderungssituation verursacht worden, auf die Rücksicht genommen werden müsse.

8

Der Kläger beantragt,

9

1. das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 18. April 2000 sowie den Bescheid der Beklagten vom 3. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2000 aufzuheben.

10

2. festzustellen, daß die Gesundheitsstörung "Zustand nach offener Schädelbasisfraktur” Folge eines Arbeitsunfalls am 22. Januar 1999 ist

11

Die Beklagte beantragt,

12

die Berufung zurückzuweisen.

13

Sie verteidigt das angefochtene Urteil und macht geltend, daß der von dem Kläger zurückgelegte Umweg erheblich gewesen sei, weil er die gesamte Wegstrecke von 4 km auf 6 km verlängert habe.

14

Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Unfallakten der Beklagten Bezug genommen, die beigezogen worden sind.

Entscheidungsgründe

15

Die zulässige, insbesondere rechtzeitig eingelegte Berufung ist auch begründet. Es ist gemäß § 55 Abs 1 Nr 3 SGG festzustellen, daß die Gesundheitsstörung "Zustand nach offener Schädelbasisfraktur” Folge eines Arbeitsunfalls am 22. Januar 1999 ist. Die angefochtenen Bescheide sind hiernach - wie auch das angefochtene Urteil- ebenfalls aufzuheben, da sie das Vorliegen eines Arbeitsunfalls mit Anspruch auf Bestandskraft negieren und den Kläger deshalb in seinen Rechten verletzen (§ 54 Abs 1 Satz 1, erste Alternative iVm Abs 2 SGG).

16

Auszugehen ist allerdings davon, daß es sich bei dem Kauf von Brötchen für die Frühstückspause, den der Kläger am Morgen des 22. Januar 1999 gegen 6.15 Uhr in der Bäckerei O. getätigt hat, um eine eigenwirtschaftliche Betätigung gehandelt hat. Es ist in Rechtsprechung und Literatur geklärt, das die Nahrungsaufnahme und mit ihr auch die Besorgung von Nahrungsmitteln grundsätzlich dem eigenwirtschaftlichen, unversicherten Bereich des Versicherten zuzurechnen sind (Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, Bd. 2, § 8 SGB VII Rdn 195; Lauterbach, Unfallversicherung, § 8 SGB VII Rdn 225; Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 8 SGB VII Ziffer 7.33; BSG, Urteil vom 25. Januar 1977 - 2 RU 57/75 -, SozR 2-2200, § 550 RVO Nr 24; Urteil vom 2. Juli 1996 - 2 RU 16/95 -, SozR 3-2200, § 550 RVO Nr 14; Urteil vom 2. Juli 1996 - 2 RU 34/95 -, SozR 3-2200, § 550 RVO Nr 15). Diese Auffassung findet ihre Rechtfertigung darin, daß es sich bei der Nahrungsaufnahme um ein Grundbedürfnis des Menschen handelt, das unabhängig davon besteht, ob er einer versicherten Tätigkeit nachgeht. Soweit die Rechtssprechung einen beruflichen Zusammenhang der Nahrungsaufnahme und -beschaffung ausnahmsweise dann bejaht, wenn sie vorwiegend unter betrieblich bedingten Umständen oder zu betrieblichen Zwecken erfolgt (vgl Lauterbach, aaO, § 8 SBG VII Rdn 225 ff und 229 ff; Bereiter-Hahn/Mehrtens, aaO, § 8 SGB VII, Ziffer 7.33.1 mwN; BSG, Urteil vom 26. April 1977 - 8 RU 76/76 -, SozR 2200, § 550 Nr 28), ist hierauf im vorliegenden Zusammenhang nicht näher einzugehen; die planmäßige Besorgung von Lebensmitteln vor Arbeitsantritt ist nämlich jedenfalls selbst dann als bloße Vorbereitungshandlung dem privatwirtschaftlichen Bereich des Versicherten zuzurechnen, wenn der Verzehr für die nächstfolgende Arbeitspause geplant ist (Bereiter-Hahn/Mehrtens, aaO, § 8 SGB VII, Ziffer 7.47; Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, aaO, § 8 SGB VII Rdn 193; Lauterbach, Unfallversicherung, aaO, § 8 SGB VII, Rdn 403; ausdrücklich auch BSG, Urteil vom 25. Januar 1977, aaO). Da hiernach der vom Kläger vorgenommene Einkauf von Brötchen für die Frühstückspause dem eigenwirtschaftlichen Bereich zuzurechnen ist, kommt es auch nicht darauf an, ob der Kläger aufgrund seiner Behinderung gehalten gewesen ist, die ihm bekannte Bäckerei O. anstelle einer anderen, etwa auf dem direkten Wege zur Arbeitsstätte gelegenen Bäckerei aufzusuchen. Auch der Einkauf dort wäre eine eigenwirtschaftliche Betätigung gewesen.

17

Mit dieser Bewertung steht indessen lediglich fest, daß der Kläger bei seinem Einkauf am 22. Januar 1999 dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung so lange nicht unterlegen hat, wie er sich außerhalb des öffentlichen Straßenraums in den Geschäftsräumen der Bäckerei O. befunden hat. Ob zum Zeitpunkt des Unfalls, zu dem sich der Kläger auf dem Rückweg zu seinem Kraftfahrzeug befand und sich wieder im öffentlichen Straßenraum aufhielt, Unfallversicherungsschutz bestand, hängt unter den erörterten Umständen davon ab, ob der Weg, den der Kläger in Abweichung von der kürzesten Wegstrecke zwischen seiner Wohnung und dem Arbeitsplatz zur Bäckerei O. zurücklegte, wenigstens auch dem Erreichen des Arbeitsplatzes und nicht lediglich dem eigenwirtschaftlichen Einkauf in der Bäckerei gedient hat. Als Weg zur Arbeitsstätte kann hierbei die Fahrt über die R., den S., die T. und die U. nicht schon deshalb betrachtet werden, weil der Versicherte bei der Wahl des Weges nach dem Ort seiner Berufstätigkeit einen gewissen Entscheidungsspielraum beanspruchen kann. Dieser erfaßt lediglich solche Abweichungen von der kürzesten bzw wirtschaftlichsten Wegstrecke, die nicht der Erledigung eigenwirtschaftlicher Besorgungen dienen, sondern - beispielsweise - durch das benutzte Verkehrsmittel oder die Verkehrsverhältnisse bedingt sind. Im vorliegenden Fall steht demgegenüber fest, daß der Kläger, hätte er nicht die Bäckerei O. in der T. aufsuchen wollen, für die Fahrt zur Arbeitsstätte die V. hätte benutzen können und daß er in diesem Fall diese Straße auch tatsächlich benutzt hätte.

18

Stellt sich mithin die Fahrt über die M., denS., die T. und die U. als Abweichung von der regulären Wegstrecke zur Arbeitsstätte dar, so hat der Kläger bei dem Verkehrsunfall, der ihm in der T. zugestoßen ist, lediglich unter der Voraussetzung unter Unfallversicherungsschutz gestanden, dass es sich bei dieser Abweichung um einen unbedeutenden Umweg gehandelt hat (Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, aaO, § 8 SGB VII, Rdn 194; Bereiter-Hahn/Mehrtens aaO, § 9 SGB VII, Ziffer 1235; Lauterbach aaO, § SGB VII, Rdn 506. 507 mwN). Der Senat bejaht diese Frage im Ergebnis:

19

Er geht zunächst davon aus, daß es sich bei der Abweichung von der kürzesten bzw wirtschaftlichsten Wegstrecke nicht um einen sog. Abweg handelt, der den Versicherungsschutz ohne Rücksicht auf seine Länge unterbrechen würde. Kennzeichen eines Abweges ist es, daß er den Versicherten nicht einmal mehr generell in Richtung des Zieles, sondern von diesem weg oder über dieses hinaus führt, so daß der Versicherte, um das Ziel zu erreichen, typischerweise an den Ausgangspunkt des Abweges zurückkehren muß (vgl Kasseler Kommentar, aaO, § 8 SGB VII, Rdn 202, 205; Lauterbach, aaO, § 8 SGB VII, Rdn 411, 502 mwN). Nicht nur die Rechtsklarheit gebietet hierbei in Abgrenzung zum Begriff des Umweges eine Beschränkung der Anwendung der Rechtsgrundsätze über den Abweg auf solche Fälle, in denen die Abweichung vom nächsten bzw wirtschaftlichsten Weg den Versicherten dem Ziel nicht näher bringt. In allen anderen Fällen führt nämlich die Abweichung vom nächsten bzw wirtschaftlichsten Weg dazu, daß eine Teilstrecke dieses Weges nicht zurückgelegt werden muß, weil sie durch den abweichenden Weg ersetzt wird. In diesen Fällen bedarf es aber einer wertenden Entscheidung darüber, ob die Abweichung als ein mehr als geringfügiger Umweg zu einer unangemessenen Verlagerung des Versicherungsrisikos geführt hat oder nicht. Auch im vorliegenden Fall ist hiernach davon auszugehen, daß es sich beim Befahren der M., S., T. und U. um einen bloßen Umweg gehandelt hat, da hierdurch das Befahren eines Teilstücks der V. entbehrlich geworden ist und die Abweichung den Kläger in diesem Sinne dem versicherten Fahrziel insgesamt näher gebracht hat.

20

Der Umweg ist zur Überzeugung des Senats auch noch geringfügig gewesen. Im Gegensatz zu den Annahmen der Beklagten, die insoweit von einer Verlängerung der Wegstrecke von 4 km auf 6 km ausgegangen ist, haben die Ermittlungen des Senats ergeben, daß die Wegstrecke von der Wohnung des Klägers im W. zu seiner Arbeitsstätte in der X. unter Einschluß des Umweges 5,4 km betragen hat, während sie ohne den Umweg 4,5 km betragen hätte. Der Umweg hat mithin die Gesamtstrecke um 900 m verlängert, was 1/5 oder 20 vH der regulären Wegstrecke entspricht. Der Senat teilt die - nach Notizen in den Unfallakten offenbar auch von der Beklagten im Ansatz vertretene - Auffassung, daß Verlängerungen des kürzesten bzw wirtschaftlichsten Weges von und zur Arbeitsstätte von bis zu 25 vH als geringfügig gelten können; das gilt jedenfalls dann, wenn, wie im vorliegenden Fall, die Verlängerung der Wegstrecke durch den Umweg - absolut betrachtet - noch weniger als 1 km beträgt. Der Senat ist sich bewußt, daß eine - wie auch immer geartete - quantitative Begrenzung schwerlich unmittelbar aus den gesetzlichen Bestimmungen des Unfallversicherungsrechts hergeleitet werden kann. Er läßt sich deshalb von dem Gesichtspunkt leiten , daß eine weitergehende Begrenzung eigenwirtschaftlich motivierter Umwege auf absolute Werte von nur wenigen 100 Metern praktisch zu deren vollständigem Ausschluß aus dem Unfallversicherungsschutz führen würde. Den in der Kommentarliteratur (vgl. Kasseler Kommentar, Sozialversicherungsrecht, § 8 SGB VII; Bereiter-Hahn/Mehrtens, aaO; § SGB 7 Rdn 12.35) ohne erkennbare Kritik aufgenommenen, auf die Rechtssprechung des Hessischen Landessozialgerichts (Breithaupt 1978, 1024) zurückgehenden Wert von 25 vH hält der Senat - jedenfalls im Bereich von Wegstrecken der vorliegenden Art für praktikabel und angemessen (ähnlich hinsichtlich des prozentualen Verhältnisses auch im Ergebnis Bayerisches LSG, Kartei-Nr. 5867 zu § 550 RVO, zitiert bei Bereiter-Hahn/Mehrtens, § 8 SGB VII, Rdn 12.35: unerhebliche Verlängerung bei einer Gesamt-Wegstrecke von 2900 statt 2500 Metern). Dem Kläger ist hiernach für den am 22. Januar 1999 erlittenen Unfall Versicherungsschutz zu gewähren, weil der zur Bäckerei zurückgelegte Umweg nicht erheblich gewesen ist.

21

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.