Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 12.09.2016, Az.: 1 B 4090/16

Abdullahi; Abschiebungsanordnung; Aufnahmeersuchen; Dublin-Verfahren; forum shopping; Ghezelbash; Individualschutz; Karim; subjektive Rechte; Überstellungsfrist; Wiederaufnahmegesuch

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
12.09.2016
Aktenzeichen
1 B 4090/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 43318
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Weder aus der Dublin III-Verordnung selbst noch aus den Entscheidungsgründen in den EuGH-Urteilen Ghezelbash und Karim ergibt sich, dass sich ein Asylbewerber auf einen objektiven Zuständigkeitsübergang nach Kapitel VI Dublin III-VO berufen kann. Das gilt jedenfalls dann, wenn der originär zuständige Staat weiterhin aufnahmebereit ist.

Tenor:

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Abänderungsverfahren wird abgelehnt.

Der Abänderungsantrag wird abgelehnt.

Die Antragsteller tragen die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Die Antragsteller begehren mit dem Abänderungsantrag die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage gegen die Anordnung der Abschiebung in die Niederlande.

Die Antragsteller sind ihren eigenen Angaben zufolge Staatenlose armenischer Volkszugehörigkeit und christlichen Glaubens. Sie reisten am 18. September 2015 aus den Niederlanden kommend in das Bundesgebiet ein. Am 27. Oktober 2015 erhielten sie eine Bescheinigung über die Meldung als Asylsuchende. Dabei legten sie ihre niederländischen Aufenthaltskarten vor.

Die förmliche Asylantragsstellung erfolgte am 19. Januar 2016. Gegenüber dem Bundesamt erklärten die Antragsteller zu 1. und 2., ihr in den Niederlanden gestellter Antrag auf internationalen Schutz sei abgelehnt worden, gegen die Entscheidung hätten sie ein Rechtsmittel eingelegt, über das noch nicht endgültig entschieden worden sei. Aufgrund eines Eurodac-Treffers richteten die deutschen Behörden am 29. Februar 2016 ein Übernahmeersuchen an die niederländischen Behörden, die am 11. März 2016 ihre Zuständigkeit gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. d Dublin III-VO erklärten.

Daraufhin lehnte die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 14. März 2016 F. die in Deutschland gestellten Asylanträge der Antragsteller als unzulässig ab und ordnete deren Abschiebung in die Niederlande an.

Die Antragsteller haben am 21. März 2016 Klage (Az. 1 A 1879/16) mit dem Ziel erhoben, den Bescheid aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ein Asylverfahren durchzuführen. Zugleich haben sie einen Aussetzungsantrag gestellt.

Die Antragsteller zu 1. und 2. tragen vor, sie stammten aus Aserbaidschan. Dort habe der Antragsteller zu 1. bis 1990 gelebt. Anschließend sei er nach Krasnodar/Russland übergesiedelt, wo er die Antragstellerin zu 2. kennen gelernt habe und ihre gemeinsame Tochter, die Antragstellerin zu 3., geboren worden sei. Die Familie habe bis 2014 in Russland gelebt. Dann sei ihr Aufenthalt nicht mehr verlängert worden, und sie seien von den russischen Behörden zum Verlassen aufgefordert worden. Sie hätten zunächst in den Niederlanden um Asyl nachgesucht. Aufgrund des Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1989 seien sie aus Aserbaidschan ausgebürgert worden. Die Staatenlosigkeit sei jedoch durch die Niederlande nicht anerkannt worden. Die Abschiebung in die Niederlande verstoße gegen Art. 31 des Staatenlosenübereinkommens sowie Art. 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention, da ihnen in diesem Fall eine Kettenabschiebung nach Aserbaidschan oder Armenien drohe.

Mit Beschluss vom 14. Juni 2016 (Az. 1 B 1880/16) hat der Einzelrichter der Kammer den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abgelehnt.

Die Abschiebungsanordnung stelle sich bei summarischer Prüfung als offensichtlich rechtmäßig dar. Die Niederlande hätten die Antragsteller entsprechend ihrer am 11. März 2016 erteilten Zusage wieder aufzunehmen. Die Zuständigkeit sei nicht auf Deutschland übergegangen. Systemische Schwachstellen des niederländischen Asylverfahrens im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO seien nicht ersichtlich. Ebenso bestehe keine Pflicht der Antragsgegnerin zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts nach Art. 17 Abs. 1 Unterabs. 1 Dublin III-VO. Auch Art. 31 des Staatenlosenübereinkommens und Art. 32 und 33 der Genfer Flüchtlingskonvention stünden der Überstellung nicht entgegen.

Am 19. Juli 2016 haben die Antragsteller die Abänderung des Beschlusses vom 14. Juni 2016 und für das Abänderungsverfahren die Gewährung von Prozesskostenhilfe beantragt.

Die Zuständigkeit für die Asylverfahren sei nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO auf Deutschland übergegangen, weil die Antragsgegnerin nicht innerhalb der Drei-Monats-Frist nach Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO ein Wiederaufnahmegesuch an die Niederlande gerichtet habe. Auch durch die Anerkennung einer Aufnahmepflicht könnten die Niederlande die Zuständigkeit nicht zurückerlangen. Auf den Zuständigkeitsübergang könnten sich die Antragsteller auch berufen. Dies ergebe sich auf der „Ghezelbash“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 7. Juni 2016 (Rs. C-63/15). Diese verhalte sich zwar zu Zuständigkeitsregelungen nach Kapitel III der Dublin III-Verordnung; es sei aber nicht ersichtlich, dass für die Zuständigkeitsregelungen nach Kapitel VI der Dublin III-Verordnung etwas anderes gelten sollte.

Mit Beschluss vom 31. August 2016 hat der Einzelrichter den Rechtsstreit auf die Kammer übertragen.

Die Antragsteller beantragen,

den Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover vom 14. Juni 2016 abzuändern und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.

Die Antragsgegnerin hat bis zum Zeitpunkt der Entscheidung keinen Antrag gestellt.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

1. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht begründet.

Prozesskostenhilfe erhält gemäß §§ 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO, 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint.

Der Abänderungsantrag bietet keine hinreichenden Erfolgsaussichten, wie sich aus den Ausführungen zu 2. ergibt.

2. Der Abänderungsantrag hat keinen Erfolg.

Der Antrag ist aufgrund der geltend gemachten Auswirkungen der neuesten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als zulässig anzusehen. Nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung eines nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschlusses wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragen. „Veränderte Umstände“ im Sinne von § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO können auch bei Änderungen oder Klärungen in der höchstrichterlichen Rechtsprechung anzunehmen sein (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 7. Oktober 2004 – 11 ME 289/04 –, Rn. 7, juris).

Der Antrag ist jedoch unbegründet. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die im Bescheid enthaltene Abschiebungsanordnung ist nicht nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO anzuordnen. Die angegriffene Abschiebungsanordnung stellt sich unter Zugrundelegung der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG maßgeblichen derzeitigen Sach- und Rechtslage nach wie vor als rechtmäßig dar, so dass das Aussetzungsinteresse der Antragsteller hinter das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung weiterhin zurückzutreten hat. Die Niederlande haben die Antragsteller entsprechend ihrer am 11. März 2016 erteilten Zusage wieder aufzunehmen. Im Rahmen von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG zu beachtende Abschiebungsverbote liegen nicht vor. Insbesondere bestehen im niederländischen Asylsystem keine systemischen Schwachstellen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung mit sich bringen (vgl. dazu Beschluss des Einzelrichters vom 14. Juni 2016 - 1 B 1880/16 - m.w.N.). Insoweit sind veränderte Umstände auch nicht geltend gemacht worden.

Es kann dahinstehen, ob ein Zuständigkeitswechsel von den Niederlanden auf Deutschland gemäß Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO stattgefunden hat. Denn jedenfalls können sich die Antragsteller nach der ausdrücklich erklärten Bereitschaft der Niederlande, sie wieder aufzunehmen, darauf nicht berufen. Die Kammer hält auch unter Berücksichtigung der kürzlich ergangenen EuGH-Entscheidungen in den Verfahren „Ghezelbash“ (EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - Rs. C-63/15 -, juris) und „Karim“ (EuGH, Urteil vom 07.06.2016 - Rs. C 155-15 -, juris) an ihrer Auffassung fest, dass Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO kein subjektives Recht des Asylbewerbers auf Beachtung eines objektiven Zuständigkeitsübergangs beinhaltet. Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - der andere Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, den Asylbewerber aufzunehmen bzw. wieder aufzunehmen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 27. April 2016 - 1 C 24/15 -, juris).

Die Kammer ist befugt, im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu entscheiden, ohne zuvor den Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 Unterabs. 3 AEUV anzurufen und ihm die hier maßgebliche Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO im Hinblick auf 23 Abs. 3 Dublin III-VO dahingehend auszulegen ist, dass ein Asylbewerber den Ablauf der Frist zur Stellung des Wiederaufnahmegesuchs in einem gerichtlichen Verfahren geltend machen kann (vgl. hierzu das Vorabentscheidungsersuchen des österreichischen Verwaltungsgerichtshofs vom 12. April 2016 - Majid auch Madzhdi Shiri, - Rs. C-201/16 -, juris). Der spezifischen Zielsetzung des Vorabentscheidungsverfahrens, die einheitliche Auslegung und Anwendung des Gemeinschaftsrechts in sämtlichen Mitgliedstaaten sicherzustellen, ist in summarischen und eilbedürftigen Verfahren, welche die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes zum Gegenstand haben, Genüge getan, wenn in einem ordentlichen Verfahren zur Hauptsache eine erneute Prüfung jeder im summarischen Verfahren nur vorläufig entschiedenen Rechtsfrage möglich ist. Daher ist ein einzelstaatliches Gericht in einem Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zur Vorlage einer Auslegungs- oder Gültigkeitsfrage an den Gerichtshof auch dann nicht verpflichtet, wenn die im Verfügungsverfahren ergehende Entscheidung nicht mehr mit Rechtsmitteln angefochten werden kann, sofern es jeder Partei unbenommen bleibt, ein Hauptverfahren, in dem die im summarischen Verfahren vorläufig entschiedene Frage erneut geprüft werden und den Gegenstand einer Vorlage nach Artikel 177 EGV (jetzt: Art. 267 AEUV) bilden kann, entweder selbst einzuleiten oder dessen Einleitung zu verlangen. (EuGH, Urteil vom 24. Mai 1977 - 107/76 -, Rn. 5, 6, juris)

Nach Einschätzung der Kammer ergibt sich weder aus der Dublin III-Verordnung selbst noch aus den Entscheidungsgründen der kürzlich in den Vorabentscheidungsersuchen „Ghezelbash“ und „Karim“ ergangenen Urteile des Europäischen Gerichtshofs, dass es sich bei Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO um eine individualschützende Norm handelt.

a) Im Rahmen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems dient die Dublin III-Verordnung (amtliche Bezeichnung: „Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013“) - ebenso wie schon zuvor die von ihr abgelöste Dublin II-Verordnung (amtliche Bezeichnung: „Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003“) - der Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, und legt hierfür Kriterien und Verfahren fest. Die Anforderungen an das Asylverfahren sowie die inhaltlichen Vorgaben, nach denen ein Status zuerkannt wird, sind dagegen in anderen Rechtsvorschriften der Europäischen Union, nämlich der Richtlinie über die Aufnahmebedingungen, der Anerkennungsrichtlinie sowie der Asylverfahrensrichtlinie, enthalten.

Im Ausgangspunkt handelt es sich bei den Regelungen der Dublin III-Verordnung - ebenso wie bei der Vorgängerverordnung, der Dublin II-Verordnung - zunächst nur um zwischen den Mitgliedstaaten geltendes Zuständigkeitsrecht. Diesen Standpunkt hat auch der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Abdullahi“ eingenommen (vgl. EuGH Urteil vom 10.12.2013 - Rs. C-394/12 -), in der er erstmals die Frage zu beantworten hatte, in welchem Umfang die Bestimmungen in Kapitel III der - damals noch maßgeblichen - Dublin II-Verordnung Rechte der Asylbewerber begründen, die die nationalen Gerichte schützen müssen. Nach Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs erließ der Unionsgesetzgeber die Verordnung, um die Behandlung der Asylanträge zu rationalisieren und zu verhindern, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und um die Rechtssicherheit hinsichtlich der Bestimmung des für die Behandlung des Asylantrags zuständigen Staates zu erhöhen und damit dem „forum shopping“ zuvorzukommen, wobei all dies hauptsächlich bezwecke, die Bearbeitung der Anträge im Interesse sowohl der Asylbewerber als auch der teilnehmenden Staaten zu beschleunigen („Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 53). Sie lege für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats organisatorische Vorschriften fest, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regelten (a.a.O. Rn. 56). Dadurch solle eine klare und praktikable Formel für die Bestimmung des für die Prüfung eines Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats geschaffen werden, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden (a.a.O. Rn. 59).

Diese Grundkonzeption, dass es sich in erster Linie um zwischen den Mitgliedstaaten geltendes Zuständigkeitsrecht handelt, ist nicht dadurch in Frage gestellt worden, dass der Unionsgesetzgeber in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO - anders als zuvor in der Dublin II-Verordnung - nunmehr vorgesehen hat, dass ein Asylbewerber das Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht hat. Mit der Reichweite des Rechtsmittels nach Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO hatte sich der Europäische Gerichtshof in den Vorlageverfahren „Ghezelbash“ und „Karim“ zu befassen.

Ausgehend von der These, dass die Reichweite des in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Rechtsmittels anhand des Wortlauts der Bestimmungen dieser Verordnung, ihres allgemeinen Aufbaus, ihrer Ziele und ihres Kontexts, insbesondere ihrer Entwicklung im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, zu beurteilen ist (vgl. „Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 35), bestätigt der Gerichtshof zuerst die Annahme, dass die Dublin III-Verordnung im Kern Vorschriften beinhaltet, die das Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander regeln. Nach Auffassung des Gerichtshofs lasse der allgemeine Aufbau der Dublin III-Verordnung erkennen, dass deren Anwendung im Wesentlichen auf der Durchführung eines Verfahrens zur Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaats beruht, der aufgrund der in Kapitel III der Verordnung festgelegten Kriterien bestimmt wird. Auch mit der Dublin III-Verordnung solle laut ihren Erwägungsgründen 4, 5 und 40 für die Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, eine klare und praktikable Formel geschaffen werden, die auf objektiven und für die Mitgliedstaaten und die Betroffenen gerechten Kriterien basiert („Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 41, 42).

Seine anschließende Herleitung, dass ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin III-Verordnung festgelegten geltend machen kann - oder mit anderen Worten, dass die Vorschriften des dritten Kapitels (Art. 7-15 Dublin III-VO) individualschützend sind -, stützt der Gerichtshof insbesondere auf die Entstehungsgeschichte der Dublin III-Verordnung und den Grundsatz der praktischen Wirksamkeit („effet utile“). Der Unionsgesetzgeber habe mit dem Übergang von der Dublin II- zur Dublin III-Verordnung die Rechte der Asylbewerber stärken und sie in das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates einbeziehen wollen. So werde erstens durch Art. 4 Dublin III-VO ein Recht des Antragstellers auf Information normiert, die sich insbesondere auf die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats und ihre Rangfolge einschließlich der Tatsache erstreckt, das ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach der Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht (a.a.O. Rn. 47). Zweitens sehe Art. 5 Abs. 1, 3 und 6 Dublin III-VO vor, dass der Mitgliedstaat, der den zuständigen Mitgliedstaat ermittelt, zeitnah und in jedem Fall, bevor über die Überstellung des Antragstellers in den zuständigen Mitgliedstaat entschieden wird, ein persönliches Gespräch mit dem Antragsteller führt, dessen schriftliche Zusammenfassung dem Antragsteller oder dem ihn vertretenden Rechtsbeistand oder sonstigen Berater zugänglich zu machen ist (a.a.O. Rn. 48). Hieraus folge, dass sich der Unionsgesetzgeber im Rahmen der Dublin III-Verordnung nicht darauf beschränkt habe, organisatorische Regeln nur für die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten zu normieren, um den zuständigen Mitgliedstaat bestimmen zu können, sondern sich dafür entschieden habe, die Asylbewerber an diesem Verfahren zu beteiligen, indem er die Mitgliedstaaten dazu verpflichtete, die Asylbewerber über die Zuständigkeitskriterien zu unterrichten, ihnen Gelegenheit zur Mitteilung der Informationen zu geben, die die fehlerfreie Anwendung dieser Kriterien erlauben, und ihnen einen wirksamen Rechtsbehelf gegen die am Ende des Verfahrens möglicherweise ergehende Überstellungsentscheidung zu gewährleisten (a.a.O. 51). Den in Art. 5 Dublin III-VO eingeräumten Rechte drohe bei einer restriktiven Auslegung der Reichweite des in Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO vorgesehenen Rechtsbehelfs ihre praktische Wirksamkeit genommen zu werden. Deshalb müsse der Asylbewerber eine fehlerhafte Anwendung der Kriterien nach Kapitel III der Dublin III-Verordnung, gegebenenfalls ohne Berücksichtigung der von den Antragstellern beigebrachten Informationen, zum Gegenstand einer gerichtlichen Kontrolle machen können (a.a.O. Rn. 53).

Darauf aufbauend hat der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Karim“ entschieden, dass ein Asylbewerber im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung auch einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO geltend machen kann. Maßgeblich ist hierfür der Umstand, dass Art. 19 Dublin III-VO überhaupt erst die Prüfung der im dritten Kapitel festgelegten Zuständigkeitskriterien eröffnet (vgl. „Karim“-Urteil a.a.O. Rn. 23 bis 25).

b) Entgegen der Ansicht der Antragsteller und verschiedener Literaturstimmen (vgl. z.B. Göbel-Zimmermann/Masuch/Hruschka, in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Auflage 2016, Rn. 41 mit Verweis auf Hruschka/Maiani, in: Hailbronner/Thym, EU Immigration and Asylum Law, 2016,  Art. 27, Rn. 15; wohl auch Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 27a AsylVfG, Rn. 72) folgt weder aus der Dublin III-Verordnung selbst noch aus den dargestellten EuGH-Entscheidungen, dass ein Asylbewerber nunmehr die Einhaltung sämtlicher in der Dublin III-Verordnung vorgesehenen (Zuständigkeits-)Regelungen gerichtlich überprüfen lassen kann. Zwischen den primären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III und den sekundären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel VI der Dublin III-Verordnung bestehen nach Auffassung der Kammer Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht, dass ihr eine Ausweitung der „Ghezelbash“- und „Karim“-Rechtsprechung auf den vorliegenden Fall nicht geboten erscheint.

Das Unionsrecht stellt generell nicht - wie aber das deutsche Verwaltungs- und Verwaltungsprozessrecht - auf eine Differenzierung zwischen objektiven und subjektiven Rechtspositionen ab, die sich dann bei einer Umsetzung durch Mitgliedstaaten widerspiegeln müsste. Es kommt für die Interpretation unionsrechtlicher Vorschriften vielmehr in erster Linie darauf an, dem Unionsrecht praktische Wirksamkeit zu verschaffen (Grundsatz des „effet utile“). In den speziellen Regelungsbereichen ist in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, wem das Unionsrecht die „Durchsetzungsmacht“ verleiht, (Beschluss des Einzelrichters der Kammer vom 10. November 2014 – 1 B 12764/14 –, Rn. 9, juris).

Diese Durchsetzungsmacht verleiht die Dublin III-Verordnung zunächst - nur - den Mitgliedstaaten. Dies ergibt sich bereits daraus, dass die Mitgliedstaaten Adressaten der Verordnung sind. Dieses Konzept legt ersichtlich auch der Europäische Gerichtshof seinen Entscheidungen zugrunde, wenn er davon ausgeht, die Dublin II-Verordnung lege organisatorische Vorschriften fest, die die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten regelten (vgl. „Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 56; siehe auch „Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 41, 21). Deshalb ist ein Mitgliedstaat, der von der Zuständigkeit eines anderen Mitgliedstaats ausgeht, verpflichtet, das Aufnahme- oder Wiederaufnahmeersuchen auf Beweise und andere Angaben zu stützen. Dadurch soll er dem anderen Staat die Prüfung ermöglichen, ob er tatsächlich zuständig ist, damit er ggf. seine Zuständigkeit auch ablehnen kann (vgl. „Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 43).

Darüber hinaus legt die Dublin III-Verordnung hinsichtlich der Kriterien des dritten Kapitels - zusätzlich - die Durchsetzungsmacht in die Hände der betroffenen Asylbewerber („Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 61). Das dritte Kapitel enthält primäre Zuständigkeitskriterien. Sie bestimmen, welcher Staat originär für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Die darin festgelegten Kriterien enthalten entweder einen gesteigerten Bezug zu schutzwürdigen Positionen der Asylbewerber oder sie beruhen auf einem von der Rechtsordnung gebilligtem Verhalten. So schützt Art. 8 Dublin III-VO die besonderen Belange Minderjähriger; die Art. 9 bis 11 Dublin III-VO schützen den Familienverband. Die Art. 12 bis 15 Dublin III-VO knüpfen dagegen an die legale Einreise des Ausländers an.

Anders verhält es sich bei den sekundären Zuständigkeitskriterien nach Kapitel VI, zu denen auch Art. 23 Dublin III-VO zählt. Kapitel VI der Dublin III-Verordnung regelt das Aufnahme- und Wiederaufnahmeverfahren und bezweckt die Verwirklichung der primären Zuständigkeitskriterien in solchen Fällen, in denen sich ein Asylbewerber nicht in dem Staat aufhält, der für die Prüfung seines Asylantrags zuständig ist. Die Abschnitte I bis III (Einleitung, Aufnahmeverfahren, Wiederaufnahmeverfahren) regeln das Verfahren zur Feststellung des zuständigen Mitgliedstaates, die Abschnitte V (Inhaftnahme zum Zwecke der Überstellung) und VI (Überstellung) die praktische Durchsetzung der Zuständigkeitsvorschriften. In der Absicht, eine schnelle und klare Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaates zu ermöglichen (vgl. „Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 42 und Erwägungsgründe 4, 5 und 40 der Dublin III-VO), enthält Kapitel VI eine Anzahl von Bestimmungen, in denen die Zuständigkeit vom originär zuständigen Mitgliedsstaat auf den Staat übergeht, in dem sich der Asylbewerber im Widerspruch zu den Bestimmungen der Dublin III-Verordnung tatsächlich befindet.

Auch diese Normen, die einen Zuständigkeitsübergang regeln - insbesondere Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 1, Art. 23 Abs. 3 und Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO -, sind im Sinne des das gesamte Unionsrecht durchdringenden Grundsatzes des „effet utile“ auszulegen, der insbesondere bei der Klärung der Frage, wem die Durchsetzungsmacht zuzuerkennen ist, zu berücksichtigen ist. Es steht außer Frage, dass sich der originär zuständige Mitgliedstaat nach Ablauf der entsprechenden Frist nach Kapitel VI auf den Zuständigkeitsübergang berufen kann. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise für den Asylbewerber.

Das Dublin-System dient auch der Vermeidung des sog. „forum shopping“ („Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 53; vgl. auch „Ghezelbash”-Urteil a.a.O. Rn. 54). Damit ist gemeint, dass sich ein Asylbewerber den Mitgliedstaat, der seinen Asylantrag prüft, unter Missachtung der durch die Dublin III-Verordnung vorgegebenen Zuständigkeitskriterien quasi aussucht. Gerade diesem „forum shopping“ würde jedoch Vorschub geleistet, wenn man die Durchsetzungsmacht hinsichtlich der sekundären Zuständigkeitskriterien neben den Mitgliedstaaten auch dem Asylbewerber zuerkennen würde. Dies liefe dem Grundsatz des „effet utile“, d.h. dem Bestreben, dem Dublin-System zu größtmöglicher Effektivität zu verhelfen, ersichtlich zuwider.

Die Gefahr eines „forum shopping“ hat der Gerichtshof hinsichtlich der Zuständigkeitskriterien nach Kapitel III der Dublin III-Verordnung verneint, weil die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht im Belieben des Asylbewerbers stehe (vgl. „Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 54). Diese Gefahr besteht jedoch bei Wiederaufnahmefällen, die sich dadurch auszeichnen, dass ein Asylbewerber während des Asylverfahrens oder nach dessen erfolgslosem Abschluss den originär zuständigen Mitgliedstaat verlässt, sich aus eigenem Antrieb in einen nach dem Dublin-Regime unzuständigen Mitgliedstaat begibt und dort einen weiteren Asylantrag stellt. Dies widerspricht der Intention der Dublin III-Verordnung, dass jedes Asylverfahren nur einmal und nur in einem Mitgliedstaat geprüft werden soll. Auch der Europäische Gerichtshof sieht die Gefahr, dass das System dadurch stockt, dass die staatlichen Behörden mehrere Anträge desselben Antragstellers bearbeiten müssen, und dass deshalb ein „forum shopping“ verhindert werden muss („Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 53). Dem Asylbewerber Durchsetzungsmacht auch hinsichtlich der Einhaltung der Wiederaufnahmefristen zuzuerkennen, würde zu einer Honorierung dieses vom Uniongesetzgeber nicht erwünschten Verhaltens führen. Denn in diesem Fall hätte es der Asylbewerber in der Hand, unter Missachtung der Zuständigkeitsregelungen der Dublin III-Verordnung einen Zuständigkeitswechsel letztlich selbst herbeizuführen. Denkbar wäre z.B. der Fall, dass sich ein Asylbewerber während der laufenden Prüfung eines Asylantrags oder nach dessen Ablehnung in einen Mitgliedstaat begibt, bei dem offensichtlich ist, dass er infolge einer Überlastung der nationalen Asylbehörde nicht in der Lage sein wird, rechtzeitig innerhalb der Zwei- bzw. Drei-Monats-Frist gemäß Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO ein Wiederaufnahmegesuch an den originär zuständigen Mitgliedstaat zu stellen, sodass nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO die Zuständigkeit auf ihn übergeht. Tatsächlich beruhte auch die Überlastung der Antragsgegnerin in dem Zeitraum, zu dem die Antragsteller von den Niederlanden nach Deutschland kamen, zu einem großen Teil auf einer Missachtung der Regelungen der Dublin III-Verordnung durch eine Vielzahl von Asylbewerbern. In einem solchen Fall besteht kein Bedürfnis dafür, dem Asylbewerber die Berufung auf den Fristablauf zu ermöglichen, wenn der originär zuständige Mitgliedstaat - wie hier - trotz des Fristablaufs die Bereitschaft erklärt hat, den Asylbewerber wieder aufzunehmen.

Dasselbe gilt in den Aufnahmefällen. Art. 21 Abs. 1 Dublin III-VO bestimmt, dass, wenn der Mitgliedstaat, in dem ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, einen anderen Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags für zuständig hält, er so bald wie möglich, auf jeden Fall aber innerhalb von drei Monaten nach Antragstellung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Dublin III-VO, diesen anderen Mitgliedstaat ersuchen kann, den Antragsteller aufzunehmen. Abweichend von Unterabs. 1 wird im Fall einer Eurodac-Treffermeldung im Zusammenhang mit Daten gemäß Artikel 14 der Verordnung (EU) Nr. 603/2013 dieses Gesuch innerhalb von zwei Monaten nach Erhalt der Treffermeldung gemäß Art. 15 Abs. 2 jener Verordnung gestellt. Wird das Gesuch um Aufnahme eines Antragstellers nicht innerhalb der in Unterabs. 1 und 2 niedergelegten Frist unterbreitet, so ist der Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für die Prüfung des Antrags zuständig. Auch in Aufnahmefällen besteht keine Notwendigkeit, dem Asylbewerber die Berufung auf den Ablauf der Frist nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO zu ermöglichen, wenn der originär zuständige Mitgliedstaat sich trotz Fristablaufs bereiterklärt, den Asylbewerber aufzunehmen und dessen Asylverfahren durchzuführen.

Ferner ist dem Gericht auch eine Vielzahl von Fällen bekannt, in denen sich Antragsteller auf den Ablauf der Überstellungfrist nach Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO berufen. Diese Vorschrift bestimmt, dass, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten durchgeführt wird, der zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme der betreffenden Person verpflichtet ist und die Zuständigkeit auf den ersuchenden Mitgliedstaat übergeht. Diese Frist kann höchstens auf ein Jahr verlängert werden, wenn die Überstellung aufgrund der Inhaftierung der betreffenden Person nicht erfolgen konnte, oder höchstens auf achtzehn Monate, wenn die betreffende Person flüchtig ist. Auch insoweit ist nach Auffassung der Kammer eine Übertragung der „Ghezelbash-“ und „Karim“-Rechtsprechung im Hinblick auf den „effet utile“-Grundsatz nicht möglich. Die Gefahr, dadurch ein missbräuchliches „forum shopping“ zu honorieren, ist in diesen Fällen sogar noch größer. Der Zuständigkeitsübergang nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO beruht in der Regel darauf, dass die Abschiebung nicht binnen der Sechs-Monats-Frist durchgeführt werden konnte. Insoweit ist jedoch zu beachten, dass es zunächst die Pflicht des Asylbewerbers ist, den unzuständigen Mitgliedstaat zu verlassen und sich in den Mitgliedsstaat zu begeben, der für die Durchführung seines Asylverfahrens zuständig ist. Ließe man eine Berufung des Asylbewerbers auf den Zuständigkeitsübergang infolge des erfolglosen Ablaufs der Überstellungsfrist zu, würde man damit im Ergebnis seine fortgesetzte Missachtung des Dublin-Regimes belohnen. Exemplarisch wäre der Fall, in dem der Asylbewerber für 18 Monate „untertaucht“ und sich danach auf den Ablauf der Überstellungsfrist berufen könnte. Die Möglichkeit derartigen Verhaltens hat der Unionsgesetzgeber durchaus gesehen, wie die in solchen Fällen verlängerbare Frist in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO belegt. Der in Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO angeordnete Zuständigkeitsübergang dient dazu, dem originär zuständigen Mitgliedstaat Klarheit darüber zu verschaffen, ob er noch mit der Überstellung des Asylbewerbers zu rechnen hat. Indes beabsichtigte der Unionsgesetzgeber offensichtlich nicht, dem untergetauchten Asylbewerber zu ermöglichen, den durch sein Verhalten erst herbeigeführten Zuständigkeitsübergang geltend machen zu können.

c) Dadurch, dass der originär zuständige Mitgliedstaat das Asylverfahren übernimmt oder fortführt, nachdem er durch ein mitursächliches Verhalten des Asylbewerbers - sei es nach Art. 21 Abs. 1 Unterabs. 3 Dublin III-VO oder Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO oder Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO - unzuständig geworden ist, sind auch keine besonderen schutzwürdigen Belange des Asylbewerbers berührt.

Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zu den in Kapitel III genannten primären Zuständigkeitskriterien, deren Wirkungsgehalt zugunsten des Asylbewerbers nur effektiv verwirklicht werden kann, wenn das Asylverfahren in dem tatsächlich zuständigen Mitgliedstaat durchgeführt wird, und derentwegen es gerechtfertigt ist, insoweit auch dem Asylbewerber die Durchsetzungsmacht einzuräumen. In diesem Kontext sind nach Überzeugung der Kammer auch die Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs in der „Ghezelbash“-Entscheidung unter den Randnummern 46 bis 53 zu verstehen. Dort hat der Gerichtshof den (auch) individualschützenden Charakter der Kriterien nach Kapitel III der Dublin III-Verordnung zentral daraus abgeleitet, dass Art. 4 und 5 Dublin III-VO besondere Vorschriften zur Information und Beteiligung des Asylbewerbers bei der Ermittlung des zuständigen Mitgliedstaates beinhalteten. Zweck des persönlichen Gesprächs und der Informationspflichten sei es, dass der Asylbewerber die für eine fehlerfreie Anwendung der Zuständigkeitskriterien erforderlichen Angaben mache; ohne vorherige Unterrichtung über die Kriterien wisse er aber möglicherweise nicht, auf welche Angaben es ankomme. Der Grundsatz der praktischen Wirksamkeit gebiete es daher, dem Asylbewerber auch die gerichtliche Überprüfung der korrekten Anwendung der Kriterien nach Kapitel III zu ermöglichen.

Diese Überlegungen lassen sich auf die sekundären Zuständigkeitskriterien nicht übertragen. Zwar sieht Art. 4 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO vor, dass der Antragsteller unterrichtet wird über die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats, die Rangfolge derartiger Kriterien in den einzelnen Schritten des Verfahrens und ihre Dauer einschließlich der Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach dieser Verordnung zuständig wird, selbst wenn diese Zuständigkeit nicht auf derartigen Kriterien beruht. Die Kammer versteht diese Anforderung jedoch nicht dahingehend, dass der Antragsteller darüber in Kenntnis gesetzt werden soll, dass nach Ablauf bestimmter Fristen in verschiedenen Konstellationen nach Kapitel VI der Dublin III-Verordnung ein Zuständigkeitsübergang auf den zunächst nicht zuständigen Staat erfolgt.

Vielmehr soll der Antragsteller zum Zweck seiner zeitlichen Orientierung über die vorgesehene Dauer der einzelnen Verfahrensschritte unterrichtet werden. Die Formulierung „einschließlich der Tatsache, dass ein in einem Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat nach dieser Verordnung zuständig wird“ bezieht sich nach Lesart der Kammer nicht auf Zuständigkeitswechsel infolge der (langen) Dauer einzelner Verfahrensschritte, sondern auf die generelle Unterrichtung über die Kriterien für die Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates. Gemeint sind die im Kapitel IV regelten Fälle, in denen ein nach Kapitel III nicht zuständiger Mitgliedstaat den Asylantrag zu prüfen hat. Dies ist zum einen der Fall bei abhängigen Personen (Art. 16 Dublin III-VO). Zum anderen ist an den Fall des Art. 17 Dublin III-VO zu denken, wonach ein in einem an sich unzuständigen Mitgliedstaat gestellter Antrag auf internationalen Schutz dazu führen kann, dass dieser Mitgliedstaat durch Ausübung seines Selbsteintrittsrechts zuständig wird. Dieses Verständnis legt offenbar auch der Europäische Gerichtshof zugrunde, wenn er davon spricht, dass der zuständige Mitgliedsstaat grundsätzlich der Staat sei, der durch die in Kapitel III der Verordnung normierten Kriterien bestimmt werde. Im Übrigen würden in Kapitel IV der Verordnung genau die Fallgestaltungen umschrieben, in denen ein Mitgliedstaat in Abweichung von diesen Kriterien als der für die Prüfung eines Asylantrags zuständige Staat angesehen werden kann („Ghezelbash“-Urteil a.a.O. Rn. 42 Hervorhebung durch die Kammer).

Diese Lesart wird auch durch die Inhalte des gemeinsamen Merkblatts bestätigt, mit dem gemäß Art. 16a der Durchführungsverordnung der Kommission (VO (EG) Nr. 1560/2003 i. d. F. der VO (EU) Nr. 118/2014) alle Personen, die internationalen Schutz beantragen, über die Bestimmungen und die Anwendung der Dublin III-Verordnung informiert werden. Anhang X der VO (EG) Nr. 1560/2003 enthält zwei Informationsmerkblätter, nämlich in Teil A „Informationen über die Dublin-VO gemäß Art. 4 Dublin III-VO für Personen, die internationalen Schutz beantragen“ und in Teil B „Das Dublin-Verfahren - Informationen für Personen, die internationalen Schutz beantragen und sich in einem Dublin-Verfahren befinden, Art. 4 der Dublin III-VO“. Im Merkblatt in Teil A wird über den zu erwartenden Zeitrahmen des Dublin-Verfahrens informiert und im Merkblatt in Teil B werden einzelne Fristen für die Stellung eines Aufnahme- und Wiederaufnahmegesuchs und für die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat wiedergegeben. Die mögliche Folge, dass nach Ablauf der Fristen der ersuchende Mitgliedsstaat zuständig wird, wird nicht erwähnt.

Weiterhin ist zu beachten, dass durch die fortbestehende Bereitschaft des nach Kapitel III originär zuständig gewesenen Mitgliedstaates, den Asylbewerber trotz Fristablaufs aufzunehmen bzw. wieder aufzunehmen und das Asylverfahren durchzuführen bzw. fortzuführen, der Regelungszweck der Kriterien nach Kapitel III doch noch erreicht wird. Der Gerichtshof hat die Durchsetzungsmacht hinsichtlich der primären Zuständigkeitskriterien, die auf besondere Belange des Asylbewerbers abstellen, gerade deshalb auch dem betroffenen Asylbewerber zuerkannt, damit er deren Beachtung einfordern kann. Es wäre widersprüchlich, in Fällen, in denen ein Mitgliedstaat bereit ist, diesen Belangen noch zu genügen, obwohl er dazu nicht mehr verpflichtet ist, dem Asylbewerber das Recht zuzuerkennen, sich gegen die Verwirklichung des nach Kapitel III vorgesehenen Zustands zu wenden.

Es droht dem Asylbewerber auch kein Nachteil dadurch, dass der originär zuständige Mitgliedstaat weiterhin bereit ist, sein Asylverfahren durchzuführen bzw. fortzuführen, obwohl objektiv ein Zuständigkeitsübergang auf einen anderen Mitgliedstaat stattgefunden hat. Denn die das Asylverfahren betreffenden inhaltlichen und verfahrensbezogenen Vorgaben sind durch unionsrechtliche Richtlinien - die Richtlinie über die Aufnahmebedingungen, die Anerkennungsrichtlinie sowie die Asylverfahrensrichtlinie - vorgezeichnet und befinden sich damit im gesamten Raum des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems auf einem vergleichbaren Niveau. Auch nach Einschätzung des Europäischen Gerichtshofs ist die Annahme gerechtfertigt, dass alle am Gemeinsamen Europäischen Asylsystem beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen („Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 52). Unberührt bleibt die Möglichkeit eines Asylbewerbers, einer Überstellungsentscheidung damit entgegenzutreten, dass er systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Mitgliedstaat geltend macht, die ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme darstellen, dass er tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta ausgesetzt zu werden („Abdullahi“-Urteil a.a.O. Rn. 62).

Schließlich besteht auch die Gefahr eines „refugee in orbit“, also einer Situation, in der sich kein Mitgliedstaat für die Prüfung des Asylverfahrens für zuständig erachtet, nicht, solange der originär zuständige Mitgliedstaat seine Bereitschaft aufrechterhält, den Asylbewerber (wieder) aufzunehmen. Diese Gefahr besteht darüber hinaus von vornherein nicht bei Wiederaufnahmefällen wie dem vorliegenden, in dem das Asylverfahren bereits abgeschlossen worden ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und § 83b AsylG.