Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 21.04.2004, Az.: 11 LA 61/04

Abschiebung; Abschiebungsandrohung; Androhung; Ausländer; Autonomiegebiet; Bestimmung; Bezeichnung; Israel; Möglichkeit; Palästina; Palästinenser; Rückkehr; Rückkehrmöglichkeit; Staatenlosigkeit; Westbank; Westjordanland; Zielstaat; Zielstaatsbestimmung; Zielstaatsbezeichnung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
21.04.2004
Aktenzeichen
11 LA 61/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 51000
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 26.01.2004 - AZ: 5 A 139/02

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Bezeichnung "Israel (Westbank)" als Zielstaat einer Abschiebung staatenloser Palästinenser, die aus Ramallah (Westjordanland = Westbank) stammen, widerspricht den Vorgaben des § 50 Abs. 2 1. Halbsatz AuslG.

Gründe

1

Der auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylVfG gestützte Antrag der Kläger auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil bleibt erfolglos.

2

Die Kläger, die in Ramallah/Westjordanland geboren sind und dort bis zu ihrer Ausreise im August 2001 gelebt haben, sind staatenlose Palästinenser und halten folgende Frage für grundsätzlich bedeutsam:

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"Darf das Bundesamt in den Fällen aus dem Westjordanland stammender staatenloser Palästinenser, die niemals in Israel gelebt haben und auch nicht die israelische Staatsbürgerschaft besitzen, gleichwohl die Abschiebung nach "Israel (Westbank)" androhen."

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Diese Frage ist durch Auslegung der hier maßgeblichen Vorschrift des § 50 Abs. 2 1. Halbsatz AuslG unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ohne weiteres zu verneinen, so dass es nicht der Durchführung eines Berufungsverfahrens bedarf.

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Nach § 50 Abs. 2 AuslG soll in der Androhung der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist. Der Zielstaat, der im Zeitpunkt der Abschiebungsandrohung existent sein muss, ist genau zu bezeichnen (vgl. Renner, AuslR in Deutschland, 1998, S. 732 RdNr. 451; Marx, AsylVfG, Kommentar, 5. Aufl., § 34 RdNr. 44). Es genügt als Zielstaatsbestimmung nicht, wenn ein räumlich abgrenzbares Gebiet bezeichnet wird, das aber selbst kein Staat ist (vgl. Hess. VGH, Beschl. v. 14.11.2003, AuS 2004, 64). Auch lässt § 50 Abs. 2 AuslG eine Einschränkung auf Regionen oder Teile eines Staates nicht zu (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.11.1999, BVerwGE 110, 74 = DVBl 2000, 424 = InfAuslR 200, 122, wonach bei einer inländischen Fluchtalternative die Abschiebungsandrohung nicht auf das sichere Teilgebiet des Zielstaats beschränkt werden darf, sondern die Abschiebung in den Zielstaat insgesamt anzudrohen ist, wobei es allerdings unschädlich ist, die gefahrenfreie Region mit einem Klammerzusatz dem Zielstaat hinzuzufügen). Zielstaat wird zumeist der Staat sein, dessen Staatsangehörigkeit der Ausländer besitzt, bei Staatenlosen der Staat des gewöhnlichen Aufenthalts; es kann je nach den Umständen des Falles aber auch ein sonstiger zur Aufnahme bereiter oder verpflichteter Drittstaat sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2000, BVerwGE 111, 343 = DVBl 2001, 209 = InfAuslR 2001, 46).

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Ferner ist allgemein anerkannt, dass in der Abschiebungsandrohung die Zielstaatsbezeichnung ausnahmsweise unterbleiben kann (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2000, aaO; Marx aaO, § 34 RdNrn. 66 ff.). § 50 Abs. 2 AuslG sieht die Bezeichnung des Zielstaates der Abschiebung nämlich nur für den Regelfall vor. Ist etwa die Staatsangehörigkeit des Ausländers ungeklärt und ein aufnahmebereiter anderer Staat nicht erkennbar, so liegen besondere Umstände vor, die ein Absehen von der Zielstaatsbezeichnung rechtfertigen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2000, aaO). Das gleiche gilt, wenn der Ausländer staatenlos ist und die Übernahmebereitschaft des Staates des früheren Aufenthalts oder eines anderen Staates nicht festgestellt werden kann (vgl. Marx, aaO, § 34 RdNr. 92). Auf die Angabe des Zielstaates darf auch dann verzichtet werden, wenn die Nachfolge für einen untergegangenen Staat noch nicht feststeht (vgl. Renner, AuslR, Kommentar, 7. Aufl., § 50 AuslG RdNr. 16). Durch das Absehen von der Zielstaatsbezeichnung in der Abschiebungsandrohung erleidet der betreffende Ausländer auch keine unzumutbaren Nachteile. Denn ihm muss vor der Abschiebung der konkrete Zielstaat bekannt gegeben und die Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes ermöglicht werden (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2000, aaO; Urt. v. 16.11.1999, aaO).

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Beim Erlass der Abschiebungsandrohung muss nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts darüber hinaus nicht bereits sichergestellt sein, dass die Abschiebung in den als Zielstaat bezeichneten Staat aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen auch möglich ist (vgl. Beschl. v. 1.9.1998, InfAuslR 1999, 73 [BVerwG 01.09.1998 - BVerwG 1 B 41.98]). Diese Frage stellt sich nämlich regelmäßig erst in der Vollzugsphase. Allerdings darf das Gericht die Androhung der Abschiebung in einen bestimmten Zielstaat ausnahmsweise dann ohne Prüfung von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG aufheben, wenn bereits aufgrund der Entscheidung über das Asylbegehren zweifelsfrei feststeht, dass eine zwangsweise Abschiebung und eine freiwillige Ausreise in den Zielstaat auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.7.2003, NVwZ 2004, 352 [BVerwG 10.07.2003 - BVerwG 1 C 21.02] zum Rückkehrverbot für staatenlose Kurden nach Syrien). Dem entspricht die Handlungsanweisung in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Ausländergesetz vom 28.6.2000 (BAnz-Beilage v. 6.10.2000). Dort heißt es unter Nr. 50.2.2: "Bei Staatenlosen ist ein Zielstaat nur dann anzugeben, wenn die tatsächliche Möglichkeit der Abschiebung in einen bestimmten Staat besteht und daher auch ein Abschiebeversuch unternommen werden kann". Die Aufhebung der Zielstaatsbezeichnung lässt dagegen die Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung im übrigen unberührt (vgl. § 50 Abs. 3 Satz 3 AuslG).

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Übertragen auf den vorliegenden Fall bedeuten diese allgemeinen Ausführungen Folgendes:

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Da unstreitig ist, dass die Kläger weder die israelische Staatsangehörigkeit besitzen noch jemals im Gebiet des Staates Israel gelebt haben, ist die Zielstaatsbestimmung "Israel" in der Abschiebungsandrohung des angefochtenen Bescheides fehlerhaft. Dies gilt auch für den Klammerzusatz "Westbank". Die Westbank, die auch als Westjordanland bezeichnet wird, ist nicht Teil des Staatsgebietes von Israel. Sie war von 1920 bis zur Besetzung durch Jordanien im Jahre 1949 Teil des britischen Mandatsgebiets; im Jahre 1967 annektierte Israel das Westjordanland (vgl. Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl. 1991, 16. Bd., Stichwort: Palästina, S. 446 f.). Seit 1994/95 stehen Teile des Westjordanlandes, darunter auch die Stadt Ramallah (aus der die Kläger stammen), unter palästinensischer Selbstverwaltung (vgl. etwa Deutsches Orientinstitut, Gutachten v. 6.5.2002 an VG Ansbach; Auswärtiges Amt, Auskunft v. 26.3.2001 an VG Braunschweig). Der Staat Israel, der die Außengrenzen der palästinensischen Autonomiegebiete kontrolliert, ist aber weiterhin als Staatsmacht auch im Westjordanland präsent (vgl. Deutsches Orientinstitut, aaO; Auswärtiges Amt, Auskunft v. 4.3.2002 an VG Ansbach). Es existiert weder ein Staat Palästina noch gibt es eine palästinensische Staatsangehörigkeit (vgl. dazu etwa VG Aachen, Urt. v. 1.3.2001, InfAusl 2001, 338; Schl.-Holst. OVG, Urt. v. 18.11.1998, InfAusl 1999, 285; OVG Berlin, Urt. v. 18.4.1991, InfAusl 1991, 228). Aus diesem Grund würde auch die Bezeichnung "Palästina" als Zielstaat einer Abschiebung der Regelung des § 50 Abs. 2 1. Halbsatz AuslG widersprechen (Hess.VGH, Beschl. v. 14.11.2003, aaO). Erst recht kann das Westjordanland nicht als eigenstaatliches Gebilde angesehen werden, so dass auch der Klammerzusatz "Westbank" weder im Zusammenhang mit der Bezeichnung "Israel" noch allein mit den Vorgaben des § 50 Abs. 2 1. Halbsatz AuslG vereinbar ist. Nach alledem ist die streitige Zielstaatsbestimmung fehlerhaft.

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Im vorliegenden Fall liegen deshalb besondere Umstände vor, die ein Absehen von der Sollvorschrift des § 50 Abs. 2 1. Halbsatz AuslG gerechtfertigt hätten. Allerdings können sich die Kläger in diesem Zusammenhang nicht darauf berufen, dass ihnen als staatenlosen Palästinensern aus den palästinensischen Autonomiegebieten von den israelischen Behörden auf Dauer eine Einreise verweigert werde, so dass die Abschiebungsandrohung nach "Israel (Westbank)" auch aus diesem Grund aufgehoben werden müsse. Denn diese Frage ist nach der Erkenntnislage gerade umstritten und nicht zweifelsfrei, so dass auch die Grundsätze, welche das Bundesverwaltungsgericht im Urteil vom 10. Juli 2003 (aaO) aufgestellt hat, hier keine Anwendung finden können. Während das Auswärtige Amt eine Rückkehrmöglichkeit in die palästinensischen Autonomiegebiete in der Regel für möglich hält (vgl. Auskunft v. 4.3.2002 an VG Ansbach), gelangt das Orientinstitut (Gutachten v. 3.1.2002 an VG Ansbach) zu der Einschätzung, dass ein Palästinenser, der ohne die entsprechende Genehmigung und ohne einen für längere Abwesenheit plausiblen Grund die besetzten Gebiete für mehr als zwei Jahre verlasse, sein Rückkehrrecht verwirke.

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Durch die fehlerhafte Zielstaatsbezeichnung werden die Kläger aber nicht in eigenen Rechten im Sinne des § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO verletzt. Denn bei der Sollvorschrift des § 50 Abs. 2 AuslG handelt es sich lediglich um eine Vorgabe für das Handlungsprogramm der Behörde im Sinne einer Ordnungsvorschrift. Vor allem die Regelung in § 50 Abs. 3 Satz 3 AuslG zeigt, dass die Abschiebungsandrohung als solche selbst dann bestehen bleibt, wenn in ihr rechtswidrigerweise ein Zielstaat benannt ist, in Bezug auf den zwingende Abschiebungshindernisse vorliegen. Mit dieser gesetzlichen Wertung stünde es schwerlich in Einklang, aus dem Fehlen bzw. der Rechtswidrigkeit einer nach § 50 Abs. 2 Halbsatz 1 AuslG gebotenen Zielstaatsbezeichnung auf die Rechtswidrigkeit der Abschiebungsandrohung insgesamt zu schließen (vgl. BVerwG, Urt. v. 25.7.2000, aaO; Hess. VGH, Beschl. v. 14.11.2003, aaO; Funke-Kaiser in: GK-AuslR, § 50 RdNr. 23; Hailbronner, AuslR, Kommentar, § 50 AuslG RdNr. 14 c).

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Die Rechte des betroffenen Ausländers werden in einem solchen Falle ausreichend dadurch gewahrt, dass ihm vor einer Abschiebung der konkrete Zielstaat bekannt gegeben werden muss, damit er rechtzeitig gerichtlichen Rechtsschutz in Anspruch nehmen kann.