Abschnitt 239 VV-BauGB - 239. Erhaltung baulicher Anlagen und der Eigenart von Gebieten
Bibliographie
- Titel
- Verwaltungsvorschriften zum Baugesetzbuch (VV-BauGB)
- Amtliche Abkürzung
- VV-BauGB
- Normtyp
- Verwaltungsvorschrift
- Normgeber
- Niedersachsen
- Gliederungs-Nr.
- 21074000000002
239.1
Anwendungsbereich der §§ 172 und 173, Verhältnis zu anderen Vorschriften
239.1.1
Sachlicher Anwendungsbereich, Erhaltungsgebiet
Die Erhaltungsvorschriften der §§ 172 und 173 finden Anwendung in Gebieten, die die Gemeinde durch Erhaltungssatzung als Erhaltungsgebiete bezeichnet (förmlich festgelegt) hat.
In den Erhaltungsgebieten gilt ein besonderer Genehmigungsvorbehalt für den Abbruch, die Änderung oder die Nutzungsänderung baulicher Anlagen, in den Fällen des § 172 Abs. 1 Nr. 1 auch für die Errichtung baulicher Anlagen (hierzu Nr. 240.1).
239.1.2
Räumlicher Anwendungsbereich
Als Erhaltungsgebiete kommen alle Gebiete in Betracht, in denen bauliche Anlagen, ökologisch wertvolle Bereiche oder weitere besondere Gebietseigenarten aus den in § 172 Abs. 1, 3 und 5 genannten Gründen erhalten bleiben sollen.
Hierbei kann es sich handeln um Gebiete
- a)innerhalb des räumlichen Geltungsbereichs eines Bebauungsplans i.S. von § 30 Abs. 1,
- b)innerhalb eines im Zusammenhang bebauten Ortsteils i.S. von § 34 oder
- c)im Außenbereich i.S. von § 19 Abs. 1 Nr. 3.
239.1.3
Zeitlicher Anwendungsbereich
Eine Beschränkung der Geltungsdauer der Erhaltungssatzung ist nicht vorgeschrieben. In den Fällen des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 ergibt sich eine zeitliche Begrenzung der Erhaltungssatzung aus der Dauer der Umstrukturierung.
239.1.4
Verhältnis zu anderen Vorschriften
Der durch die Erhaltungssatzung begründete Genehmigungsvorbehalt läßt andere Vorschriften und Genehmigungsvorbehalte unberührt, d.h., er tritt zu diesen hinzu (vgl. Nr. 202.2.2 Abs. 1 und 2).
Die §§ 172 und 173 gehören zu den Vorschriften des öffentlichen Baurechts, die nach § 75 NBauO einer Baumaßnahme entgegenstehen können. Ist dies der Fall, darf eine Baugenehmigung, eine Teilbaugenehmigung oder ein Vorbescheid nicht erteilt werden. Ist ein Vorhaben nach §§ 172 und 173 nur unter Auflagen oder nur befristet oder nur bedingt zulässig, so sind diese Nebenbestimmungen, soweit sie für die Baugenehmigung von Bedeutung sind, in die Baugenehmigung zu übernehmen.
Nach §§ 30 bis 37 zulässige Vorhaben können infolge der Anwendung der §§ 172 und 173 nicht nur modifiziert, sondern auch suspendiert werden.
239.1.5
Ergänzende Vorschriften
Die Erhaltungsvorschriften der §§ 172 und 173 werden durch § 24 Abs. 1 Nr. 4 und § 85 Abs. 1 Nr. 6 ergänzt. Im Geltungsbereich einer Erhaltungssatzung
- a)besteht ein gesetzliches Vorkaufsrecht der Gemeinde beim Kauf von Grundstücken (§ 24 Abs. 1 Nr. 4);
- b)kann gemäß § 85 Abs. 1 Nr. 6 enteignet werden, um eine bauliche Anlage aus den in § 172 Abs. 3 bis 5 bezeichneten Gründen zu erhalten.
239.2
Gebietsbezogene Erhaltungsgrunde
239.2.1
Allgemeines, Zweistufigkeit des Verfahrens
Die förmliche Festlegung des Erhaltungsgebiets muß aus einem der in § 172 Abs. 1 genannten gesetzlichen Erhaltungsgründe gerechtfertigt sein. Die Kombination mehrerer Erhaltungsgründe ist möglich.
Im Satzungsverfahren werden die Erhaltungsgründe lediglich summarisch und flächenbezogen geprüft. Der mit der förmlichen Festlegung bezweckte Schutz wird nämlich in einem zweistufigen Verfahren erreicht; dieses besteht aus
- a)der satzungsmäßigen Unterschutzstellung des Gebiets im allgemeinen (erste Stufe) und
- b)dem nachgeschalteten konkreten Genehmigungsverfahren (zweite Stufe).
Die auf den Einzelfall bezogene Prüfung der gesetzlichen Erhaltungsgründe und die hierbei erforderliche Abwägung zwischen möglicherweise gegenläufigen öffentlichen und privaten Interessen braucht nicht schon auf der ersten Stufe abschließend vollzogen zu werden, sondern kann auf die zweite Stufe verlagert werden. Es reicht für den Erlaß der Erhaltungssatzung aus, daß das Gebiet insgesamt Besonderheiten aufweist, die die Erhaltung von baulichen Anlagen oder der Gebietseigenart rechtfertigen. Erst im Genehmigungsverfahren wird letztlich entschieden, ob bauliche Anlagen abgebrochen, geändert oder in ihrer Nutzung verändert oder ob bauliche Anlagen errichtet werden dürfen.
239.2.2
Erhaltung der städtebaulichen Eigenart des Gebiets auf Grund seiner städtebaulichen Gestalt
Die städtebauliche Gestalt eines Gebiets kann gemäß § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 und Abs. 3 deshalb erhaltenswürdig sein, weil bauliche Anlagen allein oder im Zusammenhang mit anderen baulichen Anlagen das Ortsbild, die Stadtgestalt oder das Landschaftsbild prägen oder sonst von städtebaulicher, insbesondere geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung sind.
Der Begriff des Ortsbildes betrifft die optische Einfügung einer baulichen Anlage in das Bild der Umgebung. Er hat eine städtebauliche und eine baugestalterische Komponente. Für die Anwendung des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ist er vor allem in städtebaulicher Hinsicht von Bedeutung. Hierzu gehören solche Merkmale, die nach § 9 Abs. 1 auch in einem Bebauungsplan geregelt werden könnten, z.B. Standort und Stellung der baulichen Anlagen, Bauweise, Maß der baulichen Nutzung. Haben baugestalterische Elemente in ihrer Summierung wesentlichen Einfluß auf die städtebauliche Qualität des Gebiets und damit auf das Ortsbild, so können auch sie durch § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 geschützt werden.
Der Begriff "Stadtgestalt" umfaßt weitere Merkmale, z.B. Siedlungsstruktur, Stadtgrundriß, topographische Gegebenheiten.
Landschaftsbild ist jedes durch das Vorherrschen der freien Natur geprägte Bild. § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 kommt daher auch zur Anwendung, wenn eine bauliche Anlage allein oder im Zusammenhang mit anderen das Landschaftsbild prägt. Demgemäß können Erhaltungsgebiete auch im Außenbereich oder in Randzonen der Siedlungsgebiete festgelegt werden.
Das Ortsbild, die Stadtgestalt oder das Landschaftsbild müssen Besonderheiten aufweisen und aus diesem Grund schutzwürdig sein. Dies ist nicht der Fall, wenn durch Verunstaltungen das Ortsbild, die Stadtgestalt oder das Landschaftsbild bereits nachhaltig zerstört ist.
Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 erfaßt auch bauliche Anlagen von städtebaulicher, insbesondere geschichtlicher oder künstlerischer Bedeutung. Diese Anlagen sind zugleich Baudenkmale nach § 3 des Niedersächsischen Denkmalschutzgesetzes. Die Vorschrift gestattet aber auch einen Schutz unterhalb der Ebene des Denkmalschutzes.
293.2.3
Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung
Erhaltungsziel nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und Abs. 4 ist die Zusammensetzung der Wohnbevölkerung. Die Erhaltung der Zusammensetzung der Wohnbevölkerung muß aus "besonderen städtebaulichen Gründen" erforderlich sein. Gründe des Mieterschutzes reichen nicht aus.
Nicht vorausgesetzt wird, daß die Bevölkerungsstruktur Besonderheiten im Vergleich zu anderen Gebieten aufweist.
239.2.4
Städtebauliche Umstrukturierungen
Die Bezeichnung von Erhaltungsgebieten aus diesem in § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 und Abs. 5 bezeichneten Grund kommt in Betracht bei
- Bebauungsplänen oder
- städtebaulichen Sanierungsmaßnahmen,
deren Durchführung Umstrukturierungen erwarten läßt. Dies ist auch möglich, wenn der Bebauungsplan oder die Festlegung des Sanierungsgebiets bereits zuvor wirksam geworden ist.
Die Vorschrift des § 172 Abs. 1 Nr. 3 will einen sozial angemessenen Ablauf städtebaulicher Umstrukturierungsmaßnahmen sicherstellen. Die zeitliche Folge von Abbruch und damit verbundenen Umsetzungsmaßnahmen soll besteuert und mit Neubaumaßnahmen koordiniert werden können, um soziale Benachteiligungen und Beeinträchtigungen zu verhindern.
Der sozialen Belangen Rechnung tragende Ablauf muß sich aus einem Sozialplan i.S. von § 180 ergeben. Ist dieser noch nicht aufgestellt, hat ihn die Gemeinde in entsprechender Anwendung von § 180 aufzustellen (§ 172 Abs. 5 Satz 2); der Sozialplan muß im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Erhaltungssatzung noch nicht vorliegen, sondern kann später aufgestellt werden.
239.3
Erforderlichkeit
Die förmliche Festlegung des Erhaltungsgebiets muß ferner wegen der damit verbundenen Rechtsbeschränkungen erforderlich sein. Dies ist nicht der Fall, soweit allgemeine Vorschriften zur Wahrung der in § 172 Abs. 1 und Abs. 3 bis 5 genannten Ziele ausreichen, z.B. im Hinblick auf die Erhaltung von Baudenkmalen.
239.4
Ermessen bei förmlicher Festlegung
Ob die Gemeinde ein Erhaltungsgebiet förmlich festlegt, steht grundsätzlich in ihrem Ermessen. In besonderen Fällen kann sich das Ermessen zur Rechtspflicht verdichten.
239.5
Form der förmlichen Festlegung
Die förmliche Festlegung eines Erhaltungsgebiets erfolgt
- a)in einem Bebauungsplan als besondere Festsetzung oder
- b)durch sonstige Satzung.
Die sonstige Satzung hat keinen planerischen Gehalt, sondern legt allein das Erhaltungsgebiet fest, in dem das besondere Erhaltungsrecht gelten soll.
239.6
Inhalt der Erhaltungssatzung
Ein besonderer Wortlaut für die Erhaltungssatzung ist nicht vorgeschrieben; erforderlich sind jedoch:
- a)Angabe der Ermächtigungsgrundlage, bei förmlicher Festlegung durch Bebauungsplan in der Präambel;
- b)eindeutige Bezeichnung des Gebiets.
Bei förmlicher Festlegung durch Bebauungsplan erfolgt die Bezeichnung des Gebiets in Übereinstimmung mit dem räumlichen Geltungsbereich des Bebauungsplans oder durch zeichnerische Kenntlichmachung von Teilen des räumlichen Geltungsbereichs in der Planunterlage. Bei förmlicher Festlegung durch sonstige Satzung gilt Nr. 211.3.2 entsprechend; - c)Angabe, aus welchem der in § 172 Abs. 3 bis 5 bezeichneten Gründe die Satzung erlassen wird.
Dies gilt auch, wenn das Erhaltungsgebiet durch Bebauungsplan förmlich festgelegt wird; in diesem Fall sind die Gründe als textliche Festsetzungen anzugeben.
239.7
Begründung der Erhaltungssatzung
Bei förmlicher Festlegung eines Erhaltungsgebiets durch Bebauungsplan sind die Gründe in der Begründung nach § 9 Abs. 8 darzulegen. Bei förmlicher Festlegung durch sonstige Satzung ist eine Begründung nach dem BauGB nicht erforderlich.
239.8
Verfahren zum Erlaß der Erhaltungssatzung
239.8.1
Aufstellungsbeschluß
Sollen Anträge auf Genehmigung gemäß § 172 Abs. 2 zurückgestellt werden können (Nr. 241), wird ein förmlicher Aufstellungsbeschluß vorausgesetzt, der ortsüblich bekanntzumachen ist.
239.8.2
Verfahren
Bei förmlicher Festlegung durch Bebauungsplan gelten die Vorschriften über das Verfahren bei der Aufstellung von Bebauungsplänen auch für die förmliche Festlegung des Erhaltungsgebiets. Bei förmlicher Festlegung durch sonstige Satzung sind durch das BauGB keine besonderen Verfahrensschritte vorgeschrieben. Insbesondere werden vorausgehende Untersuchungen nicht gefordert. Eine Beteiligung der Bürger und der Träger öffentlicher Belange ist nicht erforderlich.
239.8.3
Abwägung
Die Abgrenzung und förmliche Festlegung des Erhaltungsgebiets unterliegt auch bei förmlicher Festlegung durch Bebauungsplan keinem verfahrensrechtlichen Abwägungsgebot. Der Abwägungsvorgang ist daher rechtlich nicht überprüfbar.
239.9
Genehmigung oder Anzeige der Erhaltungssatzung
Bei förmlicher Festlegung des Erhaltungsgebiets durch Bebauungsplan gelten die Vorschriften über die Genehmigung bzw. Anzeige des Bebauungsplans auch im Hinblick auf die Bezeichnung des Erhaltungsgebiets. Wird das Erhaltungsgebiet durch sonstige Satzung förmlich festgelegt, ist eine Genehmigung oder Anzeige nicht erforderlich.
239.10
Inkrafttreten, Bekanntmachung
Bei förmlicher Festlegung des Erhaltungsgebiets durch Bebauungsplan tritt diese zusammen mit dem Bebauungsplan in Kraft. Maßgebend ist § 12.
Wird das Erhaltungsgebiet durch sonstige Satzung förmlich festgelegt, ist § 16 Abs. 2 maßgebend.
239.11
Unterrichtung von Behörden und Bedarfsträgern
239.11.1
Unterrichtung von Behörden
Die Gemeinde hat eine beglaubigte Abschrift der Erhaltungssatzung und der Bekanntmachung an folgende Stellen zu übersenden:
- a)an die Bezirksregierung,
- b)an den Landkreis,
- c)an das Katasteramt zugleich für den Gutachterausschuß,
- d)an das Finanzamt.
Wird das Erhaltungsgebiet in einem Bebauungsplan förmlich festgelegt, entfällt im Hinblick auf Nr. 38 VV-BBauG eine besondere Unterrichtung.
239.11.2
Unterrichtung von Bedarfsträgern
Befinden sich im Erhaltungsgebiet Grundstücke mit besonderer Zweckbestimmung nach § 174 Abs. 1, hat die Gemeinde den Bedarfsträger zu unterrichten (§ 174 Abs. 2 Satz 1).