Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 02.12.2016, Az.: 13 A 5309/16

Dublin III-Verfahren; Schweiz; subsidiärer Schutz; systemische Mängel

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
02.12.2016
Aktenzeichen
13 A 5309/16
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2016, 43070
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen die Entscheidung der Beklagten,  mit dem ihr Asylantrag als unzulässig abgelehnt worden und ihrer Abschiebung in die Schweiz angeordnet wurde.

Bei den Klägern handelt es sich um eine Familie mit minderjährigen Kindern, die die türkische Staatsbürgerschaft besitzen und nach eigenen Angaben kurdischer Volkszugehörigkeit sind.

Sie reisten auf den Landweg in Deutschland ein und stellten im Juli 2016 ihre Asylanträge.

Die Kläger hatten zuvor in der Schweiz ebenfalls Asylanträge gestellt. Mit Schreiben vom 03.08.2016 erklärten die schweizer Behörden ihre Zuständigkeit gem. Art. 18 Abs. 1 d Dublin III-VO.

Daraufhin lehnte mit Bescheid vom 02.09.2016 die Beklagte die Asylanträge der Kläger als unzulässig ab und ordnete deren Abschiebung in die Schweiz an. Nach Vortrag der Kläger wurde der Bescheid am 13.09.2016 zugestellt.

Die Kläger haben am 19.09.2016 Klage erhoben.

Sie tragen vor: Die Bundesrepublik Deutschland sei verpflichtet, ihr Asylverfahren in eigener Zuständigkeit durchzuführen. In der Schweiz bestünden systemische Mängel. Das schweizer AsylG würde nur Asyl und den Flüchtlingsstatus gewähren, nicht aber internationalen Schutz in Form des subsidiären Schutzes. Die Schweiz habe die Richtlinie 2004/83/EG nicht umgesetzt.

Ob und wie das Asylverfahren in der Schweiz abgeschlossen ist, sei ihnen nicht bekannt.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid der Beklagten vom 02.09.2016 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie tritt der Klage entgegen.

Alle Beteiligten haben sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung und mit einer Entscheidung des Berichterstatters anstelle der Kammer einverstanden erklärt.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Im Einverständnis der Beteiligten ergeht die Entscheidung gemäß § 87a Abs. 2 und 3 VwGO durch den Berichterstatter und nach § 101 Abs. 2 VwGO weiterhin ohne mündliche Verhandlung.

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Asylverfahren der Kläger sind in der Schweiz durchzuführen. Zu Recht hat die Beklagte die Asylanträge der Kläger als unzulässig eingestuft und die Abschiebung in die Schweiz angeordnet.

Um Wiederholungen zu vermeiden, wird auf die zutreffenden Gründe des angefochtenen Bescheid Bezug genommen, denen das Gericht folgt, § 77 Abs. 2 AsylVfG. Den Klägern ist es nicht gelungen, diese Gründe zu entkräften.

Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 b  AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder auf Grund eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier der Fall. Aufgrund völkerrechtlicher Vereinbarungen zwischen der Europäischen Union und der Schweiz vom 26.10.2004 sind die Regelungen der Dublin-III-Verordnung auch bei Asylbewerbern anzuwenden, die zuvor in der Schweiz Schutz gesucht haben.

Maßgebliche Rechtsvorschrift zur Bestimmung des zuständigen Staates ist die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat bzw. hier der Schweiz gestellten Asylantrags zuständig ist (im Folgenden: Dublin III VO),  Die Schweizer Eidgenossenschaft  ist nach Art. 12 Abs. 4 Dublin III VO m. Art. 11 der Dublin III VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Kläger zuständig.  An der Zuständigkeit der Schweiz hegt das Gericht keine Zweifel. Die Schweiz hat sich auch bereit erklärt, die Antragsteller zurückzunehmen.

Es liegen keine Gründe vor, die trotz der genannten Zuständigkeit der Schweizer Eidgenossenschaft eine Verpflichtung der Beklagtenbegründen könnten, vom Selbsteintrittsrecht nach Artikel 17 Absatz 1 Unterabsatz 1 Dublin III VO Gebrauch zu machen oder die es ausschließen würden, die Kläger in die Schweiz abzuschieben.

Die Beklagte ist nicht - unabhängig von der Frage der Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Artikel 17 Absatz 1 Dublin III VO zugunsten der Klägerr - nach Artikel 3 Absatz 2 Unterabsatz 2 Dublin III VO gehindert, diese in die Schweiz  zu überstellen. Zwar darf ein Asylbewerber dann nicht an den nach der Dublin-II-Verordnung zuständigen Staat überstellt werden, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in diesem Staat aufgrund systemischer Mängel regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber auch im konkret zu entscheidenden Einzelfall dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (BVerwG, Beschluss vom 19. März 2014 – 10 B 6/14 –, juris). Es gibt indes keine wesentlichen Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in der Schweiz systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EU-GR-Charta) mit sich bringen.

Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urt.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – juris) bzw. dem Prinzip des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urt.v. 21.12.2011 – C-411/10 und C-493/10 – juris) gilt die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber sowohl in jedem einzelnen Mitgliedstaat der Europäischen Union als auch in der Schweiz den Vorschriften der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK), der Europäischen Konvention für Menschenrechte (EMRK) und der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Grundrechtscharta) entspricht. Allerdings ist diese Vermutung nicht unwiderleglich. Vielmehr obliegt den nationalen Gerichten die Prüfung, ob es im jeweiligen Mitgliedstaat Anhaltspunkte für systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber gibt, welche zu einer Gefahr für den Kläger führen, bei Rückführung in den zuständigen Mitgliedstaat einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 Grundrechtscharta ausgesetzt zu werden (vgl. EuGH, Urt.v. 21.12.2011 a.a.O.). Die Vermutung ist aber nicht schon bei einzelnen einschlägigen Regelverstößen der zuständigen Mitgliedstaaten widerlegt. An die Feststellung systemischer Mängel sind vielmehr hohe Anforderungen zu stellen. Von systemischen Mängeln ist daher nur dann auszugehen, wenn das Asylverfahren oder die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber regelhaft so defizitär sind, dass zu erwarten ist, dass dem Asylbewerber im konkret zu entscheidenden Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht (vgl. VG München, Urteil vom 25. August 2016 – M 12 K 16.50117 –, Rn. 32, juris, unter Hinweis auf BVerwG, B.v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 – juris).

Das Gericht hat keinerlei Zweifel daran, dass in der Schweiz keine systemischen Mängel des Asylverfahrens vorhanden sind, die einen Vollzug des Dublin-Verfahrens im Fall der Kläger hindern könnten. Für die Annahme, die Schweiz erfülle nicht die EU-Kernanforderungen im Flüchtlingsrecht nach der Dublin-Verordnung, gibt es keine greifbaren Anhaltspunkte.  (so auch VG München, Urt. vom 25. Mai 2016 – M 17 K 14.30166 –, juris Rdnr. 35; vgl. auch  VG Magdeburg, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 9 B 144/15 –,Rdnr. 12  juris; VG Gelsenkirchen, Urt. vom 23. Februar 2015 – 6a K 5945/14.A –, Rdnt. 20 ff. juris m.w.N.; offen gelassen: VG München - 6. Kammer , im Gerichtsbescheid vom 10.06.2016, - M 6 K 15.50939 -, juris Rdnr. 12).

Die Schweiz gilt außerdem als sicherer Drittstaat im Sinn des Art. 16 a Abs. 2 Satz 1 GG, § 26 a i.V.m. Anl. I AsylVfG. Hinderungsgründe für eine Abschiebung in einen derartigen sicheren Drittstaat ergeben sich nur ausnahmsweise dann, wenn der Asylsuchende individuelle und konkrete Gefährdungstatbestände geltend machen kann, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg von Verfassungs- und Gesetzes wegen berücksichtigt werden können. Dies ist – bezogen auf die Verhältnisse im Abschiebezielstaat – etwa dann der Fall, wenn sich die für die Qualifizierung des Drittstaats als sicher maßgebenden Verhältnisse schlagartig geändert haben und die gebotene Reaktion der Bundesregierung darauf noch aussteht oder wenn der Aufnahmestaat selbst gegen den Schutzsuchenden zu Maßnahmen politischer Verfolgung oder unmenschlicher Behandlung zu greifen droht und dadurch zum Verfolgerstaat wird. An die Darlegung eines solchen Sonderfalls, der inhaltlich den oben genannten systemischen Mängeln entspricht, sind allerdings hohe Anforderungen zu stellen (BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 – BVerfGE 94, 49). So ein Sonderfall liegt, wie dargestellt (s.o. 3.), im Falle der Schweiz nicht vor (VG München, Urteil vom 25. Mai 2016 – M 17 K 14.30166 –, Rn. 36, juris), auch die Kläger haben dazu nichts vorgetragen. Sie berufen sich lediglich darauf, dass in der Schweiz die Richtlinie 2004/83/EG nicht entsprechend umgesetzt sei.

Die Schweiz nimmt zwar am Dublin-Verfahren aufgrund eines völkerrechtlichen Vertrages teil, ist jedoch, weil kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union, nicht verpflichtet, EU-Richtlinien und EU-Verordnungen wie EU-Mitgliedsstaaten umzusetzen bzw. anzuwenden.

Den Klägern ist einzuräumen, dass die entsprechenden Schweizer Regelungen über die Gewährung von Asyl, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, der Gewährung vorübergehenden Schutzes und der Regelungen zum Rückschiebungsverbot (insbes. Art. 2 bis Art. 7 AsylG-Schweiz) nicht in vollem Maße alle Aspekte der Regelung des § 4 AsylG-BRD abdecken.

Gleichwohl kann allein deshalb noch nicht bei der Schweiz von systemischen Mängeln im vorgenannten Sinne gesprochen werden.

Systemische Mängel können nur angenommen werden, wenn ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme vorliegen, dass ein Antragsteller tatsächlich Gefahr läuft, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt zu werden (EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 –, Rdnr. 30 juris). Allein deshalb, dass im Schweizer Recht nicht alle Aspekte des subsidiären Schutzes iSd. des deutschen § 4 AsylG nachgebildet wurden, lässt sich nicht der Schluss ziehen, dass die Kläger dieses Verfahrens der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgesetzt sind.

Zwar hat Verwaltungsgericht Hamburg u.a. in seiner von den Klägern zitierten Entscheidung (Beschluss vom 14. Juli 2016 – 1 AE 2790/16 –) darauf hingewiesen, dass aus Art. 3 EMRK abzuleitende Abschiebungsverbote einerseits und die Regelungen zum subsidiären Schutz in der Richtlinie 2011/95/EU andererseits sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihren Rechtsfolgen gewichtige Unterschiede aufweisen. Während sich die Regelungswirkung von Art. 3 EMRK auf das Verbot der Folter, der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung und Strafe beschränkt, bezieht sich der subsidiäre Schutz umfassender auf einen drohenden ernsthaften Schaden. Als solcher gilt neben Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung auch die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe sowie eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Art. 15 der Richtlinie 2011/95/EU). Den subsidiär Schutzberechtigten seien nach Kapitel VII der Richtlinie 2011/95/EU überdies Rechte zu gewähren, auf die sich Asylbewerber, bei denen lediglich auf der Grundlage von Art. 3 EMRK ein Abschiebungsverbot festgestellt worden ist, nicht berufen können (a.a.O., Rdnr. 21, juris).

Die Kläger dieses Verfahrenshaben jedoch nicht dargelegt, dass ihnen aufgrund der anderen Ausgestaltung des Schweizer Flüchtlingsrechtes gerade deshalb Gefahren drohen, vor denen sie § 4 AsylG-BRD gerade bewahren will. Sie haben lediglich allgemein auf den formellen Umstand abgestellt, dass die gesetzlichen Regelungen in der Schweiz hinter denen der EU-Mitgliedstaaten zurückbleiben. Daraus  lässt sich jedoch nicht der Schluss ziehen, dass den Klägern tatsächlich durch Handlungen der Schweiz eine ernsthafte Gefahr, die vom subsidiären Schutz iSd. § 4 AsylG-BRD, nicht jedoch aber vom Schweizer Recht erfasst wird, droht.

Die Frage, ob für den Fall, dass das Asylverfahren in der Schweiz für die Kläger ungünstig ausgeht, sie, die Kläger möglicherweise dann noch einen Anspruch haben, in einem Staat der Europäischen Union einen möglichen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes prüfen zu lassen, stellt sich in diesem Verfahren noch nicht. Den Klägern ist es jedenfalls zuzumuten, ihr Asylverfahren erst einmal in der Schweiz durchzuführen und zum Abschluss zu bringen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.