Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 06.02.2012, Az.: 2 B 341/12

Dublin-II-Verordnung; unbegleiteter Minderjähriger

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
06.02.2012
Aktenzeichen
2 B 341/12
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2012, 44285
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

Der sinngemäß gestellte Antrag des am 20. September 1994 geborenen Antragstellers,

die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, Maßnahmen gegenüber dem Antragsteller mit dem Inhalt, dass dieser nach Italien überstellt wird vorläufig für eine vom Gericht festzusetzende Dauer auszusetzen und der Ausländerbehörde des Landkreises E. hierüber unverzüglich Mitteilung zu machen,

hat im tenorierten Umfang Erfolg.

Seiner Zulässigkeit steht § 34 a Abs. 2 AsylVfG nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift darf die Abschiebung nach Abs. 1 der Bestimmung nicht nach § 80 oder § 123 VwGO ausgesetzt werden. Eine Abschiebung nach § 34 a Abs. 1 AsylVfG findet hier indes nicht rechtmäßig statt.

Das Gericht lässt die zwischen den Beteiligten umstrittene Frage offen, ob § 34 a Abs. 2 AsylVfG deshalb nicht zur Anwendung gelangt, weil dies einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK oder anderes höherrangiges Recht darstellen würde; denn schon die Tatbestandsvoraussetzungen des § 34 a Abs. 1 AsylVfG liegen nicht vor. Dies hat das Gericht unabhängig von dem ansonsten mit der Vorschrift verbundenen Prinzip der normativen Versicherung zu prüfen.

Die Antragsgegnerin beruft sich mit ihrem mit der Klage des Antragstellers vom heutigen Tage angefochtenen Bescheid vom 25. Januar 2012 zu Unrecht darauf, dass der Antragsteller in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat im Sinne von § 27 a AsylVfG, hier Italien, abgeschoben werden soll. Denn Italien ist nicht der im Sinne dieser Vorschrift zuständige Staat, sodass es rechtswidrig ist, festzustellen, der Antrag des Antragstellers auf Gewährung von Asyl sei unzulässig.

Gemäß § 27 a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Zu Unrecht beruft sich die Antragsgegnerin auf die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl.EG Nr. L 50 S. 1 ff.) - sog. Dublin-II-Verordnung -. Nach den Regelungen dieser Verordnung ist nicht Italien, sondern die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig.

Der Antragsteller ist - nachgewiesen durch einen irakischen Personalausweis, für dessen Fälschung Anhaltspunkte nicht ersichtlich sind - unter 18 Jahre alt; er ist unverheiratet und hat nach Aktenlage keine Verwandten in Deutschland. Er ist damit unbegleiteter Minderjähriger im Sinne von Art. 2 h der o.a. VO. Die Zuständigkeit für die Prüfung der Asylbegehren von Drittstaatsangehörigen, also von Ausländern, die nicht aus der EU stammen bestimmt sich nach §§ 5 ff. Dublin-II-VO und zwar in einer absteigenden Rangfolge. Folglich geht § 6 insbesondere der allgemeinen Zuständigkeitsvorschrift des Art. 10 Dublin-II-VO (illegaler Grenzübertritt) vor. Gemäß Art. 6 Abs. 2 ist für unbegleitete Minderjährige der Mitgliedstaat zuständig, in dem der Minderjährige seinen Asylantrag gestellt hat, wenn sich in dem Land kein Familienangehöriger aufhält. Mit dieser Vorschrift sollen im Interesse der kind- und jugendgerechten Betreuung, also des Kindeswohls, unnötige Erschwernisse insbesondere durch Wechsel in das Aufnahmeverfahrens eines anderen Mitgliedsstaates vermieden werden (Funke-Kaiser in: GK-AsylVfG § 27 a Rn. 155; Marx, AsylVfG, 7. Aufl. § 27 a Rn. 33). Der Antragsteller hat nach Aktenlage allein in Deutschland einen Asylantrag gestellt. Er behauptet bisher unwidersprochen, dass ihm in Italien, wo er am 16. August 2011 in Otranto aufgegriffen worden ist, lediglich Fingerabdrücke abgenommen worden sind, er jedoch einen Asylantrag nicht gestellt habe; vielmehr sei er aufgefordert worden, das Land schnellstmöglich zu verlassen. Von dieser, seitens der Antragsgegnerin nicht bestrittenen Sachlage hat das Gericht in Anbetracht der Eilbedürftigkeit der Entscheidung auszugehen. Da es der Antragsgegnerin möglicherweise gelingen mag, das Gegenteil zu beweisen, ist die Wirkung der aufschiebenden Wirkung der Klage und der einstweiligen Anordnung zeitlich zu begrenzen.

Unbeachtlich ist, dass sich das Innenministerium in Rom laut Zustimmungserklärung vom 26. Oktober 2011 zur Rückübernahme des Antragstellers bereit erklärt hat. Derartige Erklärungen vermögen an den gesetzlichen Zuständigkeitsregeln der §§ 5 ff Dublin-II-VO nichts zu ändern. Es kann offen bleiben, ob aus diesen Vorschriften für den Ausländer subjektive Rechte fließen (so wohl VG Osnabrück, Urteil vom 23.1.2012 -5 A 212/11-; Marx, a.a.O. Rn. 10 ff.) oder ob allein die Mitgliedsstaaten Adressat der Bestimmungen sind. Denn jedenfalls fällt das Asylbegehren eines Ausländers in den Schutzbereich des Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn die Bundesrepublik Deutschland hierfür zuständig ist. Bestreitet Deutschland seine Zuständigkeit für das Asylbegehren, entzieht es dem Ausländer sein Asylgrundrecht ohne Rechtsgrundlage. Wegen dieses Grundrechtsbezuges kann die richtige Auslegung und Anwendung des Dublin-II-Abkommens gerichtlich überprüft werden (Funke-Kaiser, a.a.O. Rn. 28), wenn und soweit Deutschland seine Zuständigkeit verneint.

Im Übrigen ist diese Zustimmungserklärung Italiens unter unrichtigen Voraussetzungen abgegeben worden und damit wohl unbeachtlich. Denn die Antragsgegnerin hat in ihrem Wiederaufnahmegesuch vom 24. August 2011 an die Republik Italien als Geburtsdatum des Antragstellers den 22. August 1991 angegeben, wie das dem damaligen Erkenntnisstand entsprach. Erstmals am 15. September 2011 wies der Antragsteller sein Geburtsdatum mit dem 20. September 1994 nach. Dies hätte der Antragsgegnerin, die auf diesen Umstand, wie auch das italienische Innenministerium, von der Betreuerin des Antragstellers ohne Reaktion hingewiesen worden ist, gemäß Art. 21 Abs. 8 Dublin-II-VO Veranlassung geben müssen, die übermittelten Daten, weil unzutreffend, zu korrigieren. Ob Italien an seiner Rückübernahmezustimmung bei korrekter Verfahrensweise festgehalten hätte, ist offen. Darauf kommt es nach dem oben Gesagten rechtlich allerdings auch nicht an.

Das Gericht legt den Antrag des Antragstellers im Interesse der effektiven Rechtsschutzgewährung auch als statthaften Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO aus und spricht daneben in Anbetracht des für den 9. Februar 2012 geplanten Rückführungstermins eine einstweilige Anordnung aus, um den Antragsteller möglichst effektiv vor der Rücküberstellung nach Italien zu schützen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.

Da die Rechtsverfolgung des mittellosen Antragstellers Erfolg verspricht, ist ihm die beantragte Prozesskostenhilfe zu bewilligen.