Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 15.09.2003, Az.: 6 B 357/03
einstweiliger Rechtsschutz; Integrationshelfer; Lernhilfe; sonderpädagogischer Förderbedarf; Sonderschule; Stützkraft
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 15.09.2003
- Aktenzeichen
- 6 B 357/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 48202
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 39 BSHG
- § 40 Abs 1 Nr 4 BSHG
- Art 3 GG
- § 4 SchulG ND
- § 14 SchulG ND
- § 68 SchulG ND
- § 80 Abs 1 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Frage, ob eine sozialhilferechtlich zu gewährende Eingliederungshilfe als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§§ 39, 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG) notwendig ist, nichts mit der unter schulfachlichen und schulorganisatorischen Gesichtspunkten zu beantwortenden Frage zu tun hat, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht und wie ihm ggf. Rechnung zu tragen ist (vgl. dazu etwa BVerfG, Beschl. vom 08.10.1997 - 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288; Nds. OVG, Urt. vom 18.05.2000 - 13 L 549/00, FEVS 52, 140; Beschl. vom 06.11.1998 - 4 L 4221/98; VG Braunschweig, Beschl. vom 06.02.1997 - 6 B 61444/96; VG Göttingen, Beschl. vom 23.08.1995 - 4 B 4136/95).
Gründe
I. Die Antragsteller wenden sich gegen die für sofort vollziehbar erklärte Überweisung ihres Sohnes an eine Sonderschule für Lernhilfe.
Der Sohn der Antragsteller (im Folgenden: das Kind) ist im Juni 1992 geboren und wurde zum Schuljahr 1998/1999 zunächst in die Klasse 1 der Grundschule aufgenommen, jedoch bereits zum 01.12.1998 vom Schulbesuch zurückgestellt, woraufhin er den Schulkindergarten besuchte. Ab dem Schuljahr 1999/2000 besuchte das Kind erneut die Grundschule, die erstmals im Januar 2001 ein Verfahren auf Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs durchführte. Nachdem das damals eingeholte Beratungsgutachten empfohlen hatte, bestimmte außerschulische Förderangebote zu nutzen und die Wirkungen einer begonnenen Therapie gegen Hyperaktivität abzuwarten, konnte das Kind den Besuch der Grundschule fortsetzen.
Am 14.01.2003 beschloss die Klassenkonferenz für das zwischenzeitlich in die 4. Klasse aufgerückte Kind, das Verfahren auf Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs erneut einzuleiten, da ein individuelles Förderbedürfnis in den Bereichen Deutsch, Sachunterricht, Musik, Werken sowie Arbeits- und Sozialverhalten vorliege. Darüber fand am 16.01.03 ein Gespräch zwischen der Schulleiterin und den Antragstellern statt, die sich gegen dieses Verfahren wandten. Nach Vorlage des von der Klassenlehrerin des Kindes erstellten Berichts der Schule vom 28.01.2003, auf den verwiesen wird, beauftragte die Schulleiterin noch am selben Tag die zuständige Sonderschule mit der Erstellung eines Beratungsgutachtens.
In ihrem unter dem 15.03.2003 erstellten Beratungsgutachten kommt die Sonderschullehrerin B. zu dem Ergebnis, dass das Kind trotz der schulischen Fördermaßnahmen (Unterricht in der Muttersprache, Förderunterricht für ausländische Schüler/innen, je eine Wochenstunde Förderunterricht im Lesen, Schreiben und Mathematik sowie je eine Wochenstunde Leseförderung im Rahmen des Kooperationsunterrichts) die Lernziele der Klasse 4 nicht erreicht habe, wie bereits das Halbjahreszeugnis zeige, das u.a. ungenügende Leistungen in den Fächern Deutsch und Musik sowie mangelhafte Leistungen in den Fächern Sachunterricht und gestalterisches Werken ausweise. Der Sprachschatz und das Sprachverständnis des Kindes seien nicht altersgerecht entwickelt; selbst in der Muttersprache (türkisch) seien seine Leistungen nur knapp ausreichend. Der Lernstand des Kindes im Lesen, Schreiben und Rechtschreiben bewege sich teilweise auf dem Niveau der 2. bzw. 3. Klasse, sein Sprachverhalten und die Fähigkeit, Sachzusammenhänge zu erkennen, erreichten lediglich Vorschulniveau. Auch seine Belastbarkeit, Motivation und Konzentrationsvermögen würden den Anforderungen einer 4. Klasse nicht entsprechen. Auf Grund seines umfangreichen Förderbedarfs könne das Kind die notwendigen Kompetenzen an einer Regelschule nicht weiterentwickeln; eine Wiederholung der 4. Klasse würde nicht an seinem Förderbedarf ansetzen und ein Übergang zur Orientierungsstufe sei auf Grund seines Lernstandes ausgeschlossen.
Nach einem weiteren Gespräch mit den Antragstellern am 27.03.2003 empfahlen die beteiligten Lehrkräfte, das Kind in die 5. Klasse einer Schule für Lernhilfe umzuschulen.
Mit Bescheid vom 22.05.2003 stellte die Antragsgegnerin für das Kind sonderpädagogischen Förderbedarf fest, da es über einen längeren Zeitraum besondere, kontinuierliche und umfassende individuelle Hilfen benötige, die ihm nur an einer Schule für Lernhilfe zuteil werden könne. Sie verpflichtete das Kind deshalb, ab dem 01.08.2003 die örtlich zuständige Pestalozzischule in Peine, eine Sonderschule für Lernhilfe mit Sprachheilklassen, zu besuchen.
Den Widerspruch der Antragsteller wies die Antragsgegnerin mit Widerspruchsbescheid vom 18.07.2003 zurück.
Dagegen haben die Antragsteller am 06.08.2003 Klage erhoben.
Mit Bescheid vom 12.08.2003 hat die Antragsgegnerin daraufhin die sofortige Vollziehung ihres Bescheides vom 22.05.2003 u.a. mit der Begründung angeordnet, die persönliche Überforderung des Kindes an seiner bisherigen Schule sowie die damit einhergehenden Beeinträchtigungen machten es auch im öffentlichen Interesse erforderlich, dass es die für seine Situation allein angemessene Schule sofort besucht.
Am 05.09.2003 haben die Antragsteller um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Zur Begründung machen sie im Wesentlichen geltend:
Ihnen sei nicht im ausreichenden Umfang klar gemacht worden, dass sie sich mehr um das Kind hätten kümmern müssen. Es sei jedoch nicht feststellbar, dass mit der von ihnen nunmehr beantragten Einschaltung eines Integrationshelfers nach § 40 BSHG nicht doch noch eine Verbesserung des Leistungsbildes und sein Anschluss an den Klassenverband erreicht werden könne.
Die Antragsteller beantragen (sinngemäß),
die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 22.05.2003 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 18.07.2003 wiederherzustellen.
Die Antragsgegnerin verteidigt ihre Entscheidung und beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf die Gerichtsakte (6 A 330/03 und 6 B 357/03) sowie auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang der Antragsgegnerin Bezug genommen.
II. Der zulässige Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist nicht begründet.
Die Antragsgegnerin hat die sofortige Vollziehung ihres Bescheides vom 22.05.2003 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 18.07.2003 in formell ordnungsgemäßer Weise angeordnet (§ 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) und in ausreichender Weise schriftlich begründet, warum das besondere Interesse an dem Sofortvollzug als gegeben erachtet wird (§ 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO). Sie hat nachvollziehbar dargelegt, dass das Wohl des Kindes eine sofortige Beschulung auf der Sonderschule erfordere und sein weiterer Grundschulbesuch mit Blick auf die Unterrichtung der anderen Schüler der Grundschule auch im öffentlichen Interesse nicht vorübergehend hingenommen werden könne.
Auch aus materiell-rechtlichen Gründen besteht keine Veranlassung, die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen. Nach § 80 Abs. 1 VwGO haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung, sofern nicht die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde besonders angeordnet wird. Eine derartige Vollziehungsanordnung setzt grundsätzlich voraus, dass ohne sie das öffentliche oder das überwiegende Interesse eines Beteiligten (hier: des Kindes) in schwerwiegender Weise beeinträchtigt würde, sodass demgegenüber die privaten Interessen der Antragsteller zurücktreten müssen. Solches ist insbesondere auch der Fall, wenn im Verfahren zur Hauptsache Erfolgsaussichten ersichtlich nicht bestehen. So verhält es sich hier.
Das Gericht macht sich die zutreffenden Ausführungen der Antragsgegnerin im Widerspruchsbescheid vom 18.07.2003 zu Eigen, in dem die rechtlichen und tatsächlichen Grundlagen für die angefochtenen Anordnungen zutreffend dargelegt sind, sodass es zur Vermeidung von Wiederholungen entsprechend § 117 Abs. 5 VwGO darauf Bezug nehmen kann.
Mit Blick auf die Einwände der Antragsteller ist lediglich zu ergänzen:
Das Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs ist formell ordnungsgemäß, insbesondere unter Einhaltung der dafür geltenden Vorschriften und insbesondere nicht unter Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 2 Nds. Verf., Art 3 Abs. 1 GG) durchgeführt worden. Entgegen der Auffassung der Antragsteller sind keine Anzeichen dafür ersichtlich, dass der Bericht der Schule vom 28.01.2003 einseitig negativ abgefasst ist und wesentliche Beiträge anderer Lehrer, die ein anders Bild etwa vom Leistungsstand ihres Kindes vermittelt hätten, nicht berücksichtigt worden seien. Dass die Klassenlehrerin den Bericht abgefasst und unterzeichnet hat, entspricht der auch von den Antragstellern angeführten Nr. 5 des Erlasses „Ergänzende Bestimmungen zur Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs“ vom 06.11.1997 (SVBl. 1997, 385 f). Das in dieser Vorschrift enthaltene weitere Gebot, dass alle das Kind unterrichtenden Lehrkräfte Beiträge zu diesem Bericht zu leisten hätten, erfordert nicht, dass die Beiträge der betroffenen Lehrkräfte in besonderer Form eingeholt oder ausgewiesen werden müssten. Nichts spricht dafür, dass die Klassenlehrerin den Bericht ohne die zu berücksichtigenden Beiträge der andern Lehrkräfte abgefasst hat. Die dahingehende (bloße) Vermutung der Antragsteller wird im Übrigen bereits wesentlich durch den Inhalt des offenbar auch bei der Erstellung des Beratungsgutachtens vorgelegten Verwaltungsvorgangs widerlegt; dort befinden sich nicht nur die bisherigen Zeugnisse des Kindes sondern auch die Schülerbegleitbogen zum Arbeits- und Sozialverhalten der letzten beiden Schuljahre, die die beteiligten Lehrkräfte ausgefüllt haben. Im Übrigen versteht sich nicht zuletzt mit Blick auf die Größe der Grundschule von selbst, dass die Klassenlehrerin ihre Informationen über den Leistungstand des Kindes nicht lediglich aus ihrem eigenen Unterricht gewonnen hat. Dass die Beurteilung des Kindes innerhalb des Kreises der beteiligten Lehrkräfte nicht streitig gewesen ist, ergibt sich schließlich auch aus der Tatsache, dass die Klassenkonferenz den Beschluss über die Einleitung des Verfahrens am 14.01.2003 einstimmig gefasst hat.
Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nur möglichen summarischen Prüfung der Sachlage hat die Antragsgegnerin zu Recht auch angenommen, dass die notwendige Förderung des Kindes der Antragsteller wegen der dafür erforderlichen organisatorischen, personellen und sächlichen Mittel eine Unterrichtung an der hierfür geeigneten Sonderschule für geistig Behinderte erfordert.
Das Gericht folgt nicht der Auffassung der Antragsteller, die Antragsgegnerin habe nicht alle erdenklichen Fördermöglichkeiten ausgeschöpft, da sie noch nicht ausprobiert habe, ob eine Maßnahme nach § 40 BSHG, die sie nunmehr beantragt hätten, weiter helfe. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob das Kind an einer wesentlichen Behinderung im Sinne der §§ 39, 40 BSHG leidet oder von ihr bedroht ist. Allein auf Grund des nicht nachvollziehbaren Attestes des Kinder- und Jugendarztes Dr. med. G. C. vom 22.08.2003 lässt sich dies nicht beantworten. Der Arzt bescheinigt lediglich, dass das Kind seit langem an Verhaltensauffälligkeiten verschiedenster Art leidet und medizinische Behandlungsstrategien sowie der Versuch einer exakten medizinischen Diagnose bisher fehlgeschlagen seien. Das braucht in diesem Verfahren indessen nicht vertieft zu werden, da es darauf nicht ankommt. Abgesehen davon, dass die Annahme der Antragsteller, ein Integrationshelfer könnte dem Kind zu dem entscheidenden Fortschritt verhelfen, eher spekulativ ist, stünde eine Notwendigkeit, für das Kind einen Integrationshelfer einzusetzen, der Entscheidung der Antragsgegnerin nicht entgegen. In der Rechtsprechung ist geklärt, dass die Frage, ob eine sozialhilferechtlich zu gewährende Eingliederungshilfe als Hilfe zu einer angemessenen Schulbildung (§ 40 Abs. 1 Nr. 4 BSHG) notwendig ist, nichts mit der allein unter schulfachlichen und schulorganisatorischen Gesichtspunkten zu beantwortenden Frage zu tun hat, ob ein sonderpädagogischer Förderbedarf besteht und wie ihm ggf. Rechnung zu tragen ist (vgl. dazu etwa BVerfG, Beschl. vom 08.10.1997 – 1 BvR 9/97, BVerfGE 96, 288; Nds. OVG, Urt. vom 18.05.2000 - 13 L 549/00, FEVS 52, 140; Beschl. vom 06.11.1998 – 4 L 4221/98; VG Braunschweig, Beschl. vom 06.02.1997 – 6 B 61444/96; VG Göttingen, Beschl. vom 23.08.1995 – 4 B 4136/95). Zu Recht hat die Antragsgegnerin demgemäss darauf hingewiesen, dass ein Integrationshelfer im Sinne des § 40 BSHG grundsätzlich keine pädagogischen Aufgaben übernehmen kann und schon deshalb ist nicht zu erwarten ist, dass die gravierenden Lernstandsdefizite des Antragstellers bei einer Wiederholung der 4. Klasse ausgeglichen werden könnten.
Der Antrag ist deshalb mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf den §§ 20 Abs. 3, 13 Abs. 1 Satz 2 GKG und beläuft sich auf die Hälfte des in einem Hauptsacheverfahren anzunehmenden Wertes (Nr. I 7 i.V.m. II 37.3 des Streitwertkatalogs, abgedruckt u.a. bei Kopp/Schenke, VwGO, 12. Aufl. § 189).